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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Sagen des Mittealters



General wallenstein
25.01.04, 21:40
Wir würden hier gerne die Ein oder Andere Sage des Mittelalters sammeln und hoffen auf zahlreiche Beisteuerung Eurerseits.

General wallenstein
25.01.04, 21:41
Der Fillerhannes

In der Klingenmüble zwischen Kübelberg und Schmittweiler lebte eine wunderschöne Müllerstochter. Die Burschen der umliegenden Dörfer verdrehten die Augen, wenn sie das Mädchen sahen. Besonders der Fillerhannes aus Dittweiler war ein häufiger, gar zu häufiger Gast in der Mühle. Die Maid aber wollte nichts von ihm wissen und heiratete einen anderen. Die Ehe war glücklich, doch der Hannes umschlich weiterhin die Mühle und sann auf Rache. Er war ganz heruntergekomrnen, hielt nichts mehr auf sein Äußeres und versuchte durch Schnaps seine Gefühle zu unterdrücken. Und das hätte er nicht tun sollen, denn der Alkohol, zu reichlich genossen, verführt den Menschen zu Taten, die er hernach oft bitter zu bereuen hat. In Kübelberg war Kirchweihe. Der Müller ging voraus, weil die Frau des Hauses mit ihren Arbeiten noch nicht ganz fertig war. Da stieg der Hannes in die Mühle ein und ermordete die Geliebte.Er findet deshalb heute noch keine Ruhe. Er springt dem Wanderer in nächtlicher Stunde auf den Rücken und läßt sich von ihm tragen. "Der Fillerhannes,wiegt schwerer als zwei Zugochsen", sagen die Dörfler.

General wallenstein
25.01.04, 21:42
Der Warner

In der Wellesweiler Grube erschien des öfteren der "alte Mann", der die Kumpels vor nahenden Wettern warnte. Die Jugend hielt die Rede davon für ein Hirngespinst der älteren Bergleute, bis einmal einer tatsächlich den Warner sah, wie er an ihm vorbeischritt mit eisgrauem Bart und einer Grubenlampe, die einen seltsamen, bläulichen Schein warf. Und wirklich, bald danach wäre es zu einem Unglück gekommen, wenn die ablösende Schicht nicht gewarnt worden wäre. Derjenige, der den "alten Mann" gesehen hatte, stammte aus Kübelberg.

General wallenstein
25.01.04, 21:43
Ein welkes Nußbaumblatt

Hexen sollen früher ihr Unwesen getrieben haben. Niemand war vor ihnen sicher, nicht einmal der Säugling in der Wiege. Ihm saugte die Hexe das Blut aus der Brust. Da half kein Weihwasser und auch keine geweihte Kerze. Das wußte der Bauer in Kübelberg sehr wohl, doch wollte er es auf keinen Fall dulden, daß seinem jungen solches widerfahre. Er ging dem Teufel vor die Schmiede, wenn es sein mußte; so kannten ihn die Dorfbewohner. In drei aufeinanderfolgenden Nächten wurde er durch den herzzerreißenden Schrei seines jüngsten aus dem Schlafe aufgeschreckt. Für ihn stand fest: eine Hexe plagte das Kind! Also hieß es Augen und Ohren offen halten. In den nächsten Nächten schlief der junge durch, und der Bauer glaubte schon, die fürchterliche Gefahr sei vorüber. Seine Frau legte gerade den Kleinen zu Bett, als ein Windstoß ein unscheinbares, welkes Nußbaumblatt hereinwehte. Der Bauer ließ es nicht aus den Augen, und als das Gesinde zur Ruhe gegangen war, nahm er es zwischen die Finger, besorgte hastig Hammer und Nagel und heftete das Blatt an den Stollen der Bettlade.Um Mitternacht erwachte der Bauer durch ein lautes Stöhnen, das aus dem Zimmer des Kleinen kam. Flugs verließ er das Bett und eilte zu seinem Kind. Der junge schlief friedlich, ein Lächeln auf den Lippen. Vor dem Bett aber lag ein Weib, und im Schein der Laterne erkannte der Bauer die Frau des Abdeckers. Sie galt schon seit langem als Hexe, aber niemand konnte ihr etwas nachweisen. Nun hatte sie der Bauer erwischt. Mit dem linken Ohr war sie an der Bettstatt angenagelt und konnte deshalb nicht entkommen. Sie endete auf dem Scheiterhaufen.

General wallenstein
25.01.04, 21:44
Burg und Dorf Steinbrück

Zwischen Steinbach und Brücken lagen einst Burg und Dorf Steinbrück. Beide gingen im Dreißigjährigen Krieg unter. Als die Burg belagert war und jede Rettung der Besatzung aussichtslos schien, da versenkte der Burgherr die goldene Wiege, in der auch er einst lag, in den Brunnen, damit sie nicht in die Hände der Feinde fiele. Die wenigen Bewohner des Dorfes, die Plünderung, Brandschatzung und das Morden überstanden, bauten neu auf, die einen nördlich ihres Dorfes, die anderen südlich davon. Aus Steinbrück wurden die beiden Dörfer Steinbach und Brücken. Zur Mittagszeit zeigte sich fortan die Wiege an der Oberfläche des Wassers im Brunnen. Heute soll sie nur noch alle sieben Jahre sichtbar werden, und nur Sonntagskinder haben das Glück, sie zu sehen.

General wallenstein
25.01.04, 21:45
"Im Bruderwald lag ich begraben"

Im Dreißigjährigen Krieg wollten die Bewohner von Altenglan ihre Glocke nicht in die Hände der Feinde fallen lassen. Sie schleppten sie deshalb in den Bruderwald und bedeckten sie mit dem Laub der Bäume. Jahre zogen ins Land, immer noch wütete der Krieg. Die Bewohner starben oder wurden vertrieben. Als endlich die Waffen ruhten, da wußte niemand mehr von der Glocke und ihrem Versteck. Eines Tages hütete ein Schweinehirt seine Herde im Bruderwald und siehe da, ein Schwein wühlte die Glocke ans Tageslicht. Darüber herrschte große Freude in der Gemeinde. In festlichem Zuge wurde die Glocke heimgebracht; doch bevor man sie in den Turm hängte, grub man die Worte in ihren Mantel. "Im Bruderwald lag ich begraben, ein Schwein hat mich heraus gegraben. Sie luden mich auf den halben Wagen und fuhren mich nach Altenglan."

General wallenstein
25.01.04, 21:46
"Komm' mit!"

Als die Lichtenburg noch bewohnt war, kam eines Tages eine junge hübsche Zigeunerin zum Brunnen. Der Sohn des Grafen von der Lichtenburg ritt abends spät am Brunnen vorbei. Plötzlich scheute das Pferd und warf den Reiter ab, der sich dabei arg weh tat. Die Zigeunerin eilte herbei und leistete Erste Hilfe. Sie führte den Grafensohn auch bis zum Tor der Burg, nachdem er sich einigermaßen erholt hatte. Dem Vater war es klar, daß die Zigeunerin nicht ganz unschuldig an dem Sturze war, daß da geheime Kräfte mitspielten, und daß die Helferin irgend etwas im Schilde führte, vielleicht sogar Böses. Er schimpfte kräftig und war sehr verwundert, als der Sohn die "Hexe" sogar noch in Schutz nahm. Täglich ritt nun der junge Graf an den Brunnen und gewann die Schönheit lieb und wollte sie heiraten. Das erfuhr der Vater. Eine Zigeunerin Gräfin von Lichtenburg? Unmöglich! Da mußte etwas unternommen werden ! Aus den Augen, aus dem Sinn, dachte der Graf und bestimme gleich sieben seiner Knechte, die die Zigeunerin beseitigen sollten. Sie schlichen heran und überwältigten das wehrlose Weib und warfen es hinab in den Brunnen. Ahnungslos kehrte am Abend der Sohn zurück und wunderte sich, die Geliebte nicht am Brunnen zu sehen. Er stieg ab und hörte, wie es aus dem Brunnen rief: "Komm' mit"' Der Ruf wiederholte sich. Als der junge Reiter sich über den Brunnen beugte, glaubte er die Geliebte zu sehen und meinte von ihr gerufen zu werden. Ohne Besinnen sprang er hinab. Seitdem vernehmen Leute, wenn sie um Mitternacht am Brunnen vorbeikommen, das sehnsüchtige "Komm' mit" der Zigeunerin.

General wallenstein
25.01.04, 21:47
Verpaßte Gelegenheit

Das Streben nach Glück und Reichtum ist ein legitimes Recht des Menschen. Er versucht auch außerhalb des normalen Gelderwerbs über seinen Beruf zusätzliche Möglichkeiten zu erschließen, die ihm in Lotto und Toto, in der Lotterie, in Spielbänken usw. angeboten werden. Im geheimen hofft der Mensch immer, an überraschenden Reichtum heranzukommen. Schatzgräber gibt es nicht erst heute. Einstmals träumte die Frau des Wendel Loch, daß unter dem Palas der Lichtenburg ein Goldschatz begraben liege. Er sei mit Hilfe des Teufels dort versteckt worden, der ihn auch in der Gestalt eines großen Hundes bewache. Sobald man zu graben anfinge, würde der Hund sich zähnefletschend und laut bellend nähern. Derjenige, der trotzdem weiter nach dem Schatz grabe, ohne Angst, könne ihn auch heben. Also machte sich am nächsten Tag der Wendel mit zwei Freunden an die Arbeit. Mühsam schaufelten sie eine weite, tiefe Grube und wollten schon aufgeben, als sie auf eine Steinplatte stießen. Mit neuem Eifer gruben sie weiter, bis sie plötzlich deutlich das Bellen eines Hundes aus der Tiefe vernahmen. Erschrocken hielten sie inne, das Bellen wiederholte sich. Da griffen sie nach ihren Schaufeln und flüchteten, als sei der Teufel hinter ihnen her. Zu Hause erinnerten sie sich, daß sie den Schatz doch hätten heben können, wenn sie ohne Furcht weitergegraben hätten. Sie gingen erneut ans Werk, ergebnislos, denn sie hatten die einmalige Chance nicht genützt.

General wallenstein
25.01.04, 21:48
Beim ersten Hahnenschrei

Wenn‘s nicht anders geht, dann soll mir eben der Teufel helfen , meinte ein armer Tagelöhner aus dem oberer Glantal. Er war arm wie eine Kirchenmaus, und was er aus seinen paar Äckerchen erwirtschaftete und als Tagelohn nach Hause brachte, reichte kaum für das tägliche Brot, geschweige denn für ein bescheidenes eigenes Häuschen. Und gerade daran hing sein Herz .Das wusste der Teufel . Er besuchte den Tagelöhner, als er wieder einmal recht niedergeschlagen dem Dorf anstrebte. ,,Gib mir deine Seele ,und ich verspreche dir, dass bis zum ersten Hahnenschrei dein neues Haus draußen am Ortseingang auf deiner Wiese stehen wird !" "Was geschieht aber”, meinte der Tagelöhner, ,,wenn das Haus bis zum festgesetzten Termin nicht fertig ist ?" Dann ist unser Vertrag nichtig , und du kannst den Bau fertig stellen. " Als der Tagelöhner einschlug, blitzte der Schalk aus seinen Augen. Sofort ging der Teufel ans Werk. Es war eine Wonne zuzuschauen, wie die Mauern wuchsen. Ziegel reihte sich neben Ziegel. Der neue Tag kündigte sich an, als der Teufel vom Dache rief: ,,Ich schaffe es; noch bevor der erste Hahn kräht , wird das fertige Haus dir gehören!” Der Tagelöhner sah, dass nur noch drei Reihen Ziegeln zu legen waren, da fing er an zu krähen, so laut er konnte, sind alle Hähne in der näheren Umgebung fielen ein. Der Teufel sah sich betrogen. Er stieß einen fürchterlichen Fluch aus und verschwand in einer dichten Schwefelwolke.

General wallenstein
25.01.04, 21:49
Der Lapphut

Ein Bergmann aus Waldmohr erzählte einmal folgende Geschichte: "Ich hatte Mittagsschicht in der Bexbacher Grube. Es dunkelte schon, als ich mich auf den Heimweg machte. Es war mir bekannt, daß der Wald von Waldmohr verrufen war. Deshalb fasste ich auch den Grubenstecken fester. Ich glaubte schon, noch einmal unbehelligt davongekommen zu sein, doch da räusperte sich jemand neben mir. Da ging einer mit einem breitrandigen Hut und langem Mantel. Der Lapphut! Donnerwetter! Wie fuhr es mir da in die Knie! So hatte ich mich noch nie in meinem leben gefürchtet. Was wollte der Kerl nur von mir? Wenn er doch den Mund aufgetan hätte! Er tat mir nicht den Gefallen. Ich lief, doch er blieb bei mir, ohne seine Schritte zu beschleunigen. Am Wegkreuz sank ich nieder, ganz einfach deshalb, weil mich meine Beine nicht mehr tragen wollten. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Kaum war es über den Lippen, als mich ein eiskalter Wind streifte, obwohl wir im Hochsommer lebten. Eine feurige Kugel sauste durch die Luft und zerplatzte über den Bäumen. Ich suchte, so schnell es gehen wollte, nach Hause zu kommen." "Mein lieber Freund!" sprach da der Nachtwächter, "du kannst von Glück reden, dass du ohne jeden Schaden diese Begegnung überstanden hast. Ich weiß von vielen, denen der Lapphut über den Weg lief, die nicht wie du ungeschoren blieben."

General wallenstein
25.01.04, 21:50
Die vergrabenen Glocken

Es gibt Geister, die den Holzfrevel bestrafen, oder die Menschen von diesem Diebstahl abzuhalten wissen. Das geschah zwei Männer aus Wahnwegen. Sie gingen am Abend hinaus in den Wald, um sich etwas Holz zu besorgen. Kaum hatten sie ihr Bündel auf den Rücken geladen, als hinter ihnen ein Mann auftauchte, der eine Menge Ketten nach sich schleifte. Da machten sie, dass sie nach Hause kamen. Am nächsten Tag lag ihr Holz noch an der Stelle, daneben aber türmte sich ein großer Haufen Ketten. Der Alte aber war verschwunden.

General wallenstein
25.01.04, 21:52
Uns persönlich gefällt die "Komm´mit"-Sage am Besten, aber Wir hoffen noch einige Weitere zu vernehmen.

General wallenstein
25.01.04, 22:11
Amberger Knödl

Während des spanischen Erbfolgekriegs wurde Amberg im Jahr 1703 von 4000 Österreichern belagert. Der österreichische General Graf Herbeville verlangte die Übergabe der Stadt. Da die Amberger auf einen Krieg vorbereitet waren, wollte ihr Kommandant, Graf San Bonifazio, um die Stadt kämpfen. Die Österreicher dachten aber gar nicht daran aufzugeben, sondern belagerten und beschossen die Stadt weiter, bis der südliche Teil fast völlig in Schutt und Asche lag. Als Graf Herbeville einmal im Kloster des Mariahilfbergs beim Essen war, schoss ein Schützenmeister vom Dockenhansl aus eine Kanonenkugel in den Speisesaal des Klosters. Der Schuss war gut gezielt, und die Kugel landete direkt in der Suppenschüssel. Trotz der tapferen Verteidigung konnten die feindlichen Truppen am Ende doch beim Nabburger Tor durch die Stadtmauer eindringen, und die Amberger waren gezwungen, sich zu ergeben.

Die berühmte Kanonenkugel kann man heute noch über der Eingangstür der Bergkirche bewundern.

General wallenstein
25.01.04, 22:13
Dockenhansl

Der "Pfaffenhensel" war ursprünglich ein Gefängnis und erhielt seinen Namen um 1404 - so steht es in einem Amberger Ratsbuch - von seinem Erbauer, einem gewissen "Pfaffenhenslein".

Eine erste Umbenennung erfolgte im Jahr 1436 in "Turm des Alhart" nach einem Amberger Bürger. Dieser stammte aus einem Amberger Patriziergeschlecht und wurde 17 Jahre später dort als Verräter inhaftiert, bis sich seine Unschuld herausstellte. Die heutige Bezeichnung "Dockenhansl" erhielt er im 16. Jahrhundert von einem stadtbekannten Faulpelz. Für diesen war es einfacher, sich im Gefängnis versorgen zu lassen als zu arbeiten, und deshalb lief er splitternackt über den Marktplatz. Die empörten Stadtväter ließen ihn einsperren und im Turm schnitzte der Hansl kleine Puppen - auch Docken genannt. Im 18. Jahrhundert wurde ein Teil des Turms von einem Hirten genutzt, deshalb hieß er für eine kurze Zeit "Hirtenturm". Etwas später nannte man ihn auch "Seelturm", weil der "Seelmann" darin wohnte, dessen Frau die Verstorbenen für ihre "letzte Reise" vorbereitete.

General wallenstein
25.01.04, 22:14
Eh'häusl

Um im Jahr 1728 in Amberg heiraten zu dürfen, musste man gewisse Bedingungen erfüllen. Jeder Junggeselle, der heiraten wollte, hatte laut Gesetz einen schuldenfreien Grundbesitz nachzuweisen. Allerdings waren die meisten Amberger damals nicht in der Lage, ein eigenes Haus zu bauen, und so hatte ein schlauer Kopf die Idee, das billigste und kleinste Haus der Gegend zu errichten, denn in dem Paragraphen stand nichts über Größe und Wert des Besitzes. Zunächst schaute er sich nach einem unbebauten Winkel in der Stadt um. An der zwischen zwei Häusern gut gewählten Stelle musste er nur zwei Mauern aufziehen, ein Dach daraufsetzen, und fertig war das 2,50 m "breite" Eh'häusl. Die Seitenwände hatte sich der kühne Architekt so erspart. Das Häuslein wurde zum gefragtesten der ganzen Stadt, da der "Mietpreis" nur sieben Gulden betrug. Deshalb wechselte es in kurzen Abständen seinen Besitzer. Später, im Jahre 1869, wurde das Heiraten durch neue Gesetze erleichtert.

Heute wird das Eh'häusl mit nur 20 qm als "kleinstes Hotel Europas" bezeichnet.

General wallenstein
25.01.04, 22:15
Eselsbeck

Als vor 500 Jahren die Martinskirche gebaut wurde, mussten schwere Steine von den Maurern herbeigeschleppt werden. Je höher das Gebäude wurde, desto schwieriger war die Arbeit. Die Maurer verdienten gut und konnten sich deswegen beim Bäcker am Salzstadelplatz ihr Essen besorgen. Doch einmal passierte den Burschen ein Missgeschick: Als sie auf dem Gerüst standen und kurz in die Tiefe blickten, fielen ihnen einige Steine hinunter. Daraufhin bezeichnete sie ihr Chef als Esel. Der Bäckermeister, der der Meinung war, dass sie noch dümmer als Esel seien, hatte die Idee, die Steine mit Hilfe seiner beiden Esel nach oben zu transportieren. So wurde die Martinskirche schneller fertig als erwartet.

Zur Einweihung gab die Stadt Amberg ein Fest, bei dem der Bürgermeister allen dankte, die an der Errichtung des Gotteshauses beteiligt waren. Nur zwei vergass er: die Esel. Da der Steinmetz diese angemessen ehren lassen wollte, hämmerte er in einen Steinblock einen Esel hinein. Dies bereitete den Ambergern große Freude, und sie kauften ihre Semmeln von nun an noch lieber beim so genannten "Eselsbeck".

General wallenstein
25.01.04, 22:16
Fuchssteiner

Einst bestellte Kurfürst Ludwig V. für sein Amberger Land Dr. Johann von Fuchsstein als Kanzler. Doch dieser verschacherte die beiden Ämter Lauf und Hersbruck einschließlich deren Dörfer, Wiesen, Felder und Wälder, wofür er ein Säckchen Goldstücke als Verräterlohn bekam. Deswegen wurde er am Faschingsdienstag des Jahres 1523 in den Schlossturm von Amberg gesperrt, bis einige Adelige, die mit ihm befreundet waren, im Sommer seine Freilassung erreichten. Vier Tage später kam die Nachricht, dass die Burg des feindlichen Ritters Franz von Sickingen, der der Kurpfalz erheblichen Schaden zugefügt hatte, erobert worden war. Dort gefundene Briefe ließen erkennen, dass der Ritter vom Fuchssteiner geheime Informationen erhalten hatte. Als der Kurfürst den Freigelassenen zur Rechenschaft ziehen wollte, war dieser längst über alle Berge.

Das einzige, was er zurückgelassen hatte, war sein Name, den heute immer noch der Turm trägt, in dem er längere Zeit eingesperrt war.

General wallenstein
25.01.04, 22:17
Hussitenglöckl

Als die Hussiten in Amberg einfallen wollten, was die Amberger nicht wussten, versuchten die Eindringlinge mit Leitern über die Stadtmauer zu kommen. Plötzlich fing die Sturmglocke zu läuten an und warnte die Amberger. Da niemand wusste, wer den Ambergern geholfen hatte, die Gefahr zu erkennen, vermutete man, dass die Glocke von selbst zu läuten begonnen hatte. Zur Erinnerung wurde das Glöcklein, das von nun an "Hussitenglöckl" hieß, jeden Abend vom Türmer der St. Martinskirche geläutet: im Sommer um 23 Uhr, im Winter eine Stunde früher. Bis zum 1. Weltkrieg geschah dies mit der Hand; ab 1927 betrieb man sie elektrisch.

Doch nach einem Kurzschluss im Martinsturm schwieg die Glocke für immer.

General wallenstein
25.01.04, 22:18
Raubritter

Einst gab es in Amberg auf einer gewissen "Hollerwiese" ein Schloss. Von dort aus trieb ein tugendloser Ritter sein Unwesen, indem er die Bevölkerung ausbeutete. Seine hübsche und fromme Tochter half den Beraubten oftmals heimlich, weil sie die Rache Gottes fürchtete. Aus diesem Grund bat sie ihren Vater, seinen Lebensstil zu ändern. Eines Tages aber traf den tugendlosen Schlossherrn die verdiente Strafe. Ein furchtbares Gewitter und sintflutartige Regengüsse suchten diese Landschaft heim. In der Nacht wurde das Schloss mitsamt seinen Bewohnern "verschlungen". Das Unwetter dauerte an und verdunkelte den Himmel am nächsten Tag.

Seitdem sitzt in der "Sonnwendnacht" eine junge Frau mit einem weißen Schleier und einem großen, schwarzen Hund auf der Wiese, auf der das Schloss gestanden haben soll. Der Hund soll einen Schlüssel im Maul halten, Feuer speien und glühende Augen haben. Der Schlüssel hat eine besondere Bewandtnis: Derjenige, der es wagt, dem Tier diesen abzunehmen, soll zu den geraubten Schätzen geführt werden.

General wallenstein
25.01.04, 22:19
Schiffszug

Im 16. Jahrhundert machten acht junge Männer eine Schifffahrt auf der Vils, die zu einem lustigen Spektakel wurde. Die Junggesellen hatten geklautes Bier, Fische, Rüben und Holz dabei. Mit lautem Gejohle und Geschrei steuerten sie auf eine mittelalterliche Schleuse bei der Ensdorfer Mühle zu und beachteten dabei nicht den Müller, der am Ufer stand, um sie zu warnen. Sie machten Späße über ihn und bedrohten ihn mit einigen Stangen. Durch diese Unachtsamkeit wurde das Schiff von der Strömung mitgerissen und prallte gegen die Mauer der Schleuse. Nach einem weiteren Aufprall an der gegenüberliegenden Mauer brach das Schiff auseinander, und die übermütigen Burschen fielen ins Wasser. Erbost schaute ihnen der Müller nach, dessen Warnung die Schifffahrer ignoriert hatten. Er war wütend auf die Junggesellen - nicht weil sie die Waren geklaut hatten, sondern weil er von ihnen beleidigt worden war. Außerdem wusste man bei dem lauten Aufprall zuerst nicht, ob das Schiff oder die Mauer zerstört war.

Doch das Ganze hatte ein Nachspiel: Die jungen Männer wurden dem strengen Rat vorgeführt, der die zwei Hauptschreier dazu zwang, bis zur nächsten Fahrt im Gewölbe des Nabburger Tores zu bleiben. Die anderen sechs saßen bei Wasser und Brot im Dockenhansl.

General wallenstein
25.01.04, 22:20
Spuk

In der Hauskapelle der Maximilians-Anstalt im Eichenforstgässchen hing vor 100 Jahren ein Kronleuchter aus Eisenblech, der mit drei Engeln bemalt war. Da dieser ab und zu ausgebessert werden musste, wurde er zu diesem Zwecke aus dem Haus gebracht. Dabei entstand - wie von Geisterhand - so viel Lärm, dass sogar die Anwohner der Vils aufgeschreckt wurden. Sobald die Reparatur zu Ende war und der Leuchter wieder an seinem alten Platz hing, hatte das Getöse wieder ein Ende. Die Glöcknerin wurde ebenfalls von solchen gespenstischen Vorfällen heimgesucht. Immer wenn sie zu spät zum Gebetsläuten in die Kapelle kam, erhielt sie von unsichtbarer Hand Ohrfeigen. Manchmal zeigte sich ihr auch ein Priester, der ihr zur Strafe für ihre Unpünktlichkeit den Weihwasserwedel um den Kopf schlug. Eingeschüchtert von diesen Vorfällen trauten sich die Amberger bald nicht mehr in die alte Gebetsstätte.

Bis heute ist in diesem Haus kein Spuk mehr vorgekommen.

General wallenstein
27.01.04, 14:16
Der Kindelsberg

Hinter dem Geißenberg in Westfalen ragt ein hoher Berg mit dreien Köpfen hervor, davon heißt der mittelste noch der Kindelsberg, da stand vor alten Zeiten ein Schloß, das gleichen Namen führte, und in dem Schloß wohnten Ritter, die waren gottlose Leute. Zur Rechten hatten sie ein sehr schönes Silberbergwerk, davon wurden sie stockreich, und von dem Reichtum wurden sie so übermütig, daß sie sich silberne Kegel machten, und wenn sie spielten, so warfen sie diese Kegel mit silbernen Kugeln. Der Übermut ging aber noch weiter, denn sie buken sich große Kuchen von Semmelmehl wie Kutschenräder, machten mitten Löcher darein und steckten sie an die Achsen. Das war eine himmelschreiende Sünde, denn so viele Menschen hatten kein Brot zu essen. Gott ward es endlich auch müde. Eines Abends spät kam ein weißes Männchen ins Schloß und sagte an, daß sie alle binnen dreien Tagen sterben müßten, und zum Wahrzeichen gab er ihnen, daß diese Nacht eine Kuh zwei Lämmer werfen würde. Das traf auch ein, aber niemand kehrte sich daran als der jüngste Sohn, der Ritter Siegmund hieß, und eine Tochter, die eine gar schöne Jungfrau war. Diese beteten Tag und Nacht. Die andern starben an der Pest, aber diese beiden blieben am Leben. Nun aber war auf dem Geißenberg ein junger kühner Ritter, der ritt beständig ein großes schwarzes Pferd und hieß darum der Ritter mit dem schwarzen Pferd. Er war ein gottloser Mensch, der immer raubte und mordete. Dieser Ritter gewann die schöne Jungfrau auf dem Kindelsberg lieb und wollte sie zur Ehe haben, sie schlug es ihm aber beständig ab, weil sie einem jungen Grafen von der Mark verlobt war, der mit ihrem Bruder in den Krieg gezogen war und dem sie treu bleiben wollte. Als aber der Graf immer nicht aus dem Krieg zurückkam und der Ritter mit dem schwarzen Pferd sehr um sie warb, so sagte sie endlich: »Wenn die grüne Linde hier vor meinem Fenster wird dürr sein, so will ich dir gewogen werden.« Der Ritter mit dem schwarzen Pferd suchte so lange in dem Lande, bis er eine dürre Linde fand, so groß wie jene grüne, und in einer Nacht bei Mondenschein grub er diese aus und setzte die dürre dafür hin. Als nun die schöne Jungfrau aufwachte, so war's so hell vor ihrem Fenster, da lief sie hin und sah erschrocken, daß eine dürre Linde da stand. Weinend setzte sie sich unter die Linde, und als der Ritter nun kam und ihr Herz verlangte, sprach sie in ihrer Not: »Ich kann dich nimmermehr lieben.« Da ward der Ritter mit dem schwarzen Pferd zornig und stach sie tot. Der Bräutigam kam noch denselben Tag zurück, machte ihr ein Grab und setzte eine Linde dabei und einen großen Stein, der noch zu sehen ist.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 234

General wallenstein
27.01.04, 14:17
Der Kobold

An einigen Orten hat fast jeder Bauer, Weib, Söhne und Töchter einen Kobold, der allerlei Hausarbeit verrichtet, in der Küche Wasser trägt, Holz haut, Bier holt, kocht, im Stall die Pferde striegelt, den Stall mistet und dergleichen. Wo er ist, nimmt das Vieh zu, und alles gedeiht und gelingt. Noch heute sagt man sprichwörtlich von einer Magd, der die Arbeit recht rasch von der Hand geht: »Sie hat den Kobold.« Wer ihn aber erzürnt, mag sich vorsehen. Sie machen, eh sie in die Häuser einziehen wollen, erst eine Probe. Bei Nachtzeit nämlich schleppen sie Sägespäne ins Haus, in die Milchgefäße aber bringen sie Kot von unterschiedenem Vieh. Wenn nun der Hausvater genau achtet, daß die Späne nicht zerstreut, der Kot in den Gefäßen gelassen und daraus die Milch genossen wird, so bleibt der Kobold im Haus, so lange nur noch einer von den Hausbewohnern am Leben ist.

Hat die Köchin einen Kobold zu ihrem heimlichen Gehilfen angenommen, so muß sie täglich um eine gewisse Zeit und an einem besondern Ort im Haus ihm sein zubereitetes Schüsselchen voll gutes Essen hinsetzen und ihren Weg wieder gehen. Tut sie das, so kann sie faulenzen, am Abend früh zu Bette gehen und wird dennoch ihre Arbeit frühmorgens beschickt finden. Vergißt sie das einmal, so muß sie in Zukunft nicht nur ihre Arbeit selbst wieder tun, sondern sie hat nun auch eine unglückliche Hand, indem sie sich im heißen Wasser verbrennt, Töpfe und Geschirr zerbricht, das Essen umschüttet, also daß sie von ihrer Herrschaft notwendig ausgescholten wird. Darüber hat man den Kobold öfters lachen und kichern gehört. Verändert sich auch das Gesinde, so bleibt er doch, ja die abziehende Magd muß ihn ihrer Nachfolgerin anempfehlen, damit diese sein auch warte. Will diese nicht, so hat sie beständiges Unglück, bis sie wieder abgeht. Man glaubt, sie seien rechte Menschen, in Gestalt kleiner Kinder, mit einem bunten Röcklein. Darzu etliche setzen, daß sie teils Messer im Rücken hätten, teils noch anders und gar greulich gestaltet wären, je nachdem sie so und so, mit diesem oder jenem Instrument, vorzeiten umgebracht wären, denn sie halten sie für die Seelen der vorweilen im Hause Ermordeten.

Zuweilen ist die Magd lüstern, ihr Knechtchen, Kurd Chimgen oder Heinzchen, wie sie den Kobold nennen, zu sehen, und wenn sie nicht nachläßt, nennt der Geist den Ort, wo sie ihn sehen solle, heißt sie aber zugleich einen Eimer kalt Wasser mitbringen. Da begibt sich's dann, daß sie ihn etwa auf dem Boden auf einem Kißchen nackt liegen sieht und ein großes Schlachtmesser ihm im Rücken steckt. Manche ist so sehr erschrocken, daß sie ohnmächtig niedergefallen, worauf der Kobold alsbald aufsprang und sie mit dem kalten Wasser über und über begoß, damit sie wieder zu sich selbst kam. Darnach ist ihr die Lust vergangen, den Kobold zu sehen.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 71

General wallenstein
27.01.04, 14:18
Riese Einheer

Zu Zeiten Karls des Großen lebt ein Ries' und Recke, hieß Einheer, war ein Schwab, bürtig aus Thurgau, jetzt Schweiz, der wuthe (watete) über alle Wasser, dorft (braucht) über keine Brücke gehen, zoge sein Pferd bei dem Schwanz hernach, sagt allzeit: »Nun Gesell, du mußt auch hernach!« Dieser reiset auch in diesen Kaiser Karls Kriegen wider die Winden (Wenden) und Haunen (Hunnen); er mähet die Leut, gleichwie das Gras mit einer Sensen, alle nieder, hängt sie an den Spieß, trug's über die Achseln wie Hasen oder Füchs, und da er wieder heimkam und ihn seine guten Gesellen und Nachbarn fragten, was er ausgerichtet hätte, wie es im Kriege gegangen wäre, sagt er aus Unmut und Zorn: »Was soll ich viel von diesen Fröschlein sagen! Ich trug ihr sieben oder acht am Spieß über die Achsel, weiß nicht, was sie quaken, ist der Mühe nicht wert, daß der Kaiser soviel Volks wider solche Kröten und Würmlein zusammenbracht, ich wollt's viel leichter zuwegen gebracht haben!« - Diesen Riesen nennt man Einheer, daß (weil) er sich in Kriegen schier einem Heer vergleicht und alsoviel ausrichtet. Es flohen ihm die Feinde, Winden und Haunen, meinten, es wär der leidige Teufel.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 18

General wallenstein
27.01.04, 14:19
Die Christnacht

Abergläubische Mägde, um Träume von ihren Liebsten zu bekommen, kaufen frühe des Tags vor dem Heiligen Abend um einen Pfennig Semmel, und zwar das letzte Stößchen, das auf einem Ende zu ist. Weiter schneiden sie ein bißchen Rinde unten ab, binden es unter den rechten Arm und gehen fleißig den ganzen Tag damit herum. Hernach beim Schlafengehen legen sie es unter den Kopf in der Christnacht und sprechen dabei:

»Jetzt hab ich mich gelegt und Brot bei mir,
wenn doch nun mein Feinslieb käme und äße mit mir!«

Darüber soll es geschehen, daß zur Mitternacht von solcher Semmelrinde etwas genagt wird, und daran kann man frühmorgens erkennen, daß der Liebste sie das Jahr über heiraten werde. Ist aber das Brot unverletzt gelassen, so haben sie schlechte Hoffnung. Also soll es sich begeben haben (1657 zu Leipzig), daß da ihrer zwei beieinander in einem Bette schliefen, die eine hatte solches Brot unter sich liegen, die andere nicht. Diese hörte nachts ein Knarren und Nagen, fürchtete sich und rüttelte ihre Gespielin, die aber in festem Schlaf lag und nichts gewahr wurde, bis sie aus den Träumereien erwachte. Als sie nun morgens das Brot besichtigten, war ein Kreuz hineingefressen. Das Weibsbild soll bald darauf einen Soldaten zum Mann bekommen haben.

Die alte Saalfelder Frau erzählte, daß andere ein Gefäß mit Wasser nehmen und es mit einem gewissen kleinen Maß in ein ander Gefäß messen. Sie tun dies aber etlichemal und sehen zu, ob sie in den wiederholten Bemessungen mehr Wasser antreffen als zuerst. Daraus schließen sie, daß sie das folgende Jahr über zunehmen werden an Hab und Gütern. Befinden sie einerlei Maß, so glauben sie, daß ihr Schicksal stillstehe und sie weder Glück noch Unglück haben werden. Ist aber zuletzt weniger Wasser, so entnehmen sie, daß ihr gutes Wohlergehn und Gedeihen zurückgehe. Der Saalfelder Frau war das mittelste einmal zu Händen gekommen.

Andere nehmen einen Erbschlüssel und einen Knäuel Zwirn, binden den Zwirn fest an den Schlüssel und bewinden das Knaul, damit es nicht weiter ablaufe, als sie es vorher haben laufen lassen. Sie lassen es aber bei ein Ellen oder sechs los; dann stecken sie dies Gebäumel zum Fenster aus und bewegen es von einer Seite zur andern an den äußerlichen Wänden und sprechen dabei: »Horch! Horch!« so sollen sie von der Seite und Gegend oder dem Orte her eine Stimme vernehmen, dahin sie werden zu freien und zu wohnen kommen. Andere greifen zur Türe hinaus und haben, wenn sie die Hand hereinziehen, einige Haare von ihrem zukünftigen Liebsten darin.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 116

General wallenstein
27.01.04, 14:20
Andreasnacht

Es ist Glaube, daß ein Mädchen in der Andreasnacht, Thomasnacht, Christnacht und Neujahrsnacht seinen zukünftigen Liebsten einladen und sehen kann. Es muß einen Tisch für zwei decken, es dürfen aber keine Gabeln dabei sein. Was der Liebhaber beim Weggehen zurückläßt, muß sorgfältig aufgehoben werden, er kommt dann zu derjenigen, die es besitzt, und liebt sie heftig. Es darf ihm aber nie wieder zu Gesicht kommen, weil er sonst der Qual gedenkt, die er in jener Nacht von übermenschlicher Gewalt gelitten, und er des Zaubers sich bewußt wird, wodurch großes Unglück entsteht.

Ein schönes Mädchen in Österreich begehrte einmal um Mitternacht, unter den nötigen Gebräuchen, seinen Liebsten zu sehen, worauf ein Schuster mit einem Dolche dahertrat, ihr denselben zuwarf und schnell wieder verschwand. Sie hob den nach ihr geworfenen Dolch auf und schloß ihn in eine Truhe. Bald kam der Schuster und hielt um sie an. Etliche Jahre nach ihrer Verheiratung ging sie einstmals sonntags, als die Vesper vorbei war, zu ihrer Truhe, etwas hervorzusuchen, das sie folgenden Tag zur Arbeit vornehmen wollte. Als sie die Truhe geöffnet, kommt ihr Mann zu ihr und will hineinschauen; sie hält ihn ab, aber er stößt sie mit Gewalt weg, sieht in die Truhe und erblickt seinen verlornen Dolch. Alsbald ergreift er ihn und begehrt kurz zu wissen, wie sie solchen bekommen, weil er ihn zu einer gewissen Zeit verloren hätte. Sie weiß in der Bestürzung und Angst sich auf keine Ausrede zu besinnen, sondern bekennet frei, es sei derselbe Dolch, den er ihr in jener Nacht hinterlassen, wo sie ihn zu sehen begehrt. Da ergrimmte der Mann und sprach mit einem fürchterlichen Fluch: »Hur! So bist du die Dirne, die mich in jener Nacht so unmenschlich geängstiget hat!« und stößt ihr damit den Dolch mitten durchs Herz.

Diese Sage wird an verschiedenen Orten von andern Menschen erzählt. Mündlich: Von einem Jäger, der seinen Hirschfänger zurückläßt; in dem ersten Wochenbett schickt ihn die Frau über ihren Kasten, Weißzeug zu holen, und denkt nicht, daß dort das Zaubergerät liegt, das er findet und womit er sie tötet.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 114

wonsoi
27.01.04, 14:29
ich bin beigeisert
Ihr habt schon paar Lustige sagen gesammelt
weiter so hoffe auf ergänzung

General wallenstein
27.01.04, 19:16
In der Tat haben Wir noch sehr viele Sagen zu bieten, da Wir Uns für diese Thematik sehr interessieren. Als nächstes werden Wir einige "polnische" Sagen hier posten. ;)

*polnische = aus Gebieten Preußens und Schlesiens.

General wallenstein
27.01.04, 19:17
DIE KÖNIGE WIDEWUTO UND BRUTENO

Es waren in alten Heidenzeiten zwei Brüder im Lande Preußen, bevor es noch diesen Namen führte, die herrschten über den kimbrischen Volksstamm und waren auf Flößen an das Ostseegestade gefahren gekommen, hatten das Land eingenommen und sich mit ihrem Volke Wohnsitze gebaut. König Widewuto erfand den berauschenden Trank des Met zu bereiten, und Bruteno diente den Göttern als oberster Priester, und beide wurden hochbetaget. Da Bruteno einhundertundzweiunddreißig Jahre alt geworden, Widewuto aber einhundertundsechzehn Jahre, so versammelten sie all ihr Volk zu einem großen Opferfesttag und verteilten das Land. Widewutos ältester Sohn hieß Lithuo, der empfing, indem er den Göttern Gehorsam gelobte und Andacht und indem er mit der einen Hand seines Vaters Haupt berührte und mit der andern die heilige Eiche, das Land vom Briko und Nyemo (Bug und Niemen), den beiden Flüssen, bis an den Wald Thamsoan, und dieses Land wurde dann nach ihm Litauen geheißen. Hierauf gelobte Widewutos zweiter Sohn, des Namens Samo, und empfing auf gleiche Weise das Land von Krono und Hailibo bis an das Wasser Skara, und das wurde hernachmals Samland genannt. Samo hatte ein Weib, die hieß Pregolla, die ist später in dem Flusse Skara ertrunken, und darauf hat dieser Fluß den Namen Pregel empfangen. Widewutos übrige Söhne, deren noch zehne waren, empfingen allzumal auch weites Land, darinnen ein jeder Raum hatte zu herrschen. Bruteno, der den Göttern als erster Priester diente, hatte keine Söhne, aber nach seinem Namen wurde Land und Volk genannt, Brutenien und Brutenen, aber die Masovier, der Brutenen Feinde, nannten sie Bruti - darüber entspann sich ein Krieg, und die Brutenen wollten sich nicht Bruti, das ist wilde Bestien, schimpfen lassen; darauf nahmen die Masovier Vernunft an und nannten die Brutener auch prudentes und praescii, das ist die Gescheiten, daraus ist der Name Pruski und Preußen geworden, und diesen Namen haben sie sich eher und besser gefallen lassen und ihn vor andern liebgewonnen und beibehalten.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:19
ROMOVE

Wo die heilige Eiche der alten Preußen stand, war eine große Stadt, und die hatte von ihren Erbauern, welche einen Heereszug gen Rom gemacht hatten, den Namen Roma nova erhalten, daraus ward in der Folge Romove. Die Eiche war sechs Ellen im Durchmesser, Sommer und Winter blieb sie grün, und durch ihr dichtes Gezweig und Laub fiel nicht Regen noch Schnee. Ringsum war durch acht Ellen hohe seidene Vorhänge ihres Stammes Anblick den Uneingeweihten entzogen. Drei Götter wurden unter dieser heiligen Eiche verehrt, das waren Perkunos, der Donnergott, Pikollos, der Todesgott, und Potrimpos, der Kriegsgott und der Ernten. Geopfert wurden diesen Göttern alle Christen, welche die heidnischen Preußen in ihre Gewalt bekamen. Außer dieser heiligen Eiche standen deren noch mehr im alten Preußenlande, alle vom Volke hochverehrt und beschirmt, so eine nahe bei Wehlau an der Straße von Königsberg nach Ragnit; eine andere stand am Flüßchen Bachnau, ohnweit dem Frischen Haff, eine dritte eine Stunde davon, wo die Stadt Thorn liegt, nach dem Meeresstrande zu. Die heiligen Eichen und selbst die Plätze, darauf sie gestanden, blieben noch lange lange Zeit beim Volke in hohen Ehren, als längst schon das Christentum ihm mit Feuer und Schwert gepredigt worden war.

Als dies geschehen, wurde zu Romove eine Kirche und ein Kloster erbaut, es ist aber damit, wie mit der ganzen Stadt, zum Ende gediehen, und es ist kaum noch eine Spur mehr von Stadt, Kirche und Kloster vorhanden.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:20
KÖNIG WIDEWUTO OPFERT SICH SELBST

Da König Widewuto oder Waidewut, wie er auch genannt wird, zu hohen Jahren gelangt war und die Lande an seine Söhne alle verteilt waren und er fühlte, daß er nicht mehr kühnlich gegen die Feinde stehen könne, da ließ er nahe der heiligen Eiche zu Romove einen Holzstoß schichten und Tieropfer darbringen, er selbst aber stand in allem Glanze seiner Königswürde, hielt eine Schale voll Met und goß diese einer schwarzen Kuh zwischen die übergoldeten Hörner und sprach vor dem Volke, das mit brennenden Fackeln den lohenden Scheiterhaufen umstand, ein Gebet zu seinen Göttern: Euch alle, ihr Götter der Erde und des Meeres, des Lichtes und der Finsternis, dich, Donnerer Perkunos, dich, Pikollos, Gott des Todes, und dich, Potrimpos, Gott der Schlachten, rufe ich an, daß euer Auge auf mich sich lenke und senke, auf mich, den König, der seinem Volke sich selbst zum Opfer darbringt, damit es siege und in Ruhm und Ehren fortbestehe für alle Zeiten! Und als der König diese Worte gesprochen, stürzte er sich mutvoll in die lodernde Flammenlohe, und das Volk warf seine Fackeln über ihn und erhob das Geschrei der Klage und den Gesang der Schlacht, und die Krieger schlugen dreimal auf ihre Schilde, daß sie dröhnten und von ihrem Schall die Luft erzitterte und die Wälder ihn widerhallten.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:21
SANKT ADALBERT

Der erste Christenpriester, der das Licht des Evangeliums nach dem alten Preußenlande trug, war der heilige Adalbert. Er kam aus Polen, wo er die Lehre Christi gepredigt, und verkündete das göttliche Wort im heutigen Kulmer Lande, dann in Pomesanien. Von da kam er nach Danzig und nach Samland. Aber an der Stätte in der Nähe des Bernsteinortes Fischhausen, wo am Strande der Ostsee noch die Ruinen von Sankt Adalberts Kapelle einsam trauern, überfielen die Heidenpriester den heiligen Mann und töteten ihn mit sieben Wunden. Als der Polenkönig Boleslaus Gorvin diese Tat erfuhr, wünschte er den Leichnam des heiligen Märtyrers, aber die Priester heischten für denselben so viel Goldes, als der Leichnam schwer sei. Da sendete der König vieles Gold, allein es wog den Körper noch nicht auf, bewegte noch nicht die Schale, darauf der Leichnam lag. Da warfen die Abgesandten des Königs noch ihr eignes Gold hinzu, vergebens. Weiter so kamen noch preußische Christen, die Adalbert getauft hatte, und gaben alle ihr Gold - aber alles vergebens. Da kam ein altes Weib, die sahe, daß die Leute Gold auf die Wagschale warfen, und wollte ihr Scherflein auch darbringen, sie hatte aber nur zwei Pfennige, die warf sie zu dem Golde, und siehe, alsogleich sank die Schale mit Gewalt, und der Leichnam stieg in die Höhe, und mußte wieder weggenommen werden alles hinzugelegte Gold, und als nichts mehr auf der Schale lag als die zwei Pfennige der Frau, da traten beide Schalen in das Gleichgewicht und ward so der heilige Leichnam aufgewogen.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:23
HEILIGENBEIL

Als die Heidenpriester am preußischen Ostseestrande den heiligen Adalbert erschlagen hatten, vernahm das Anselmus, der Bischof von Ermeland, der machte sich auf und kam zu der großen heiligen Eiche, unter welcher ein Heidengötze verehrt ward und die Waidewut, der König, mit seinem Bruder Bruteno, dem obersten Priester, selbst geheiligt hatte. Diese Eiche war nicht kleiner wie die zu Romove und blieb ebenfalls im Sommer und Winter gleich grün. Da nun der neue Apostel kam, so begann er an der Eiche zu predigen und befahl alsbald einem Christen, der ihn begleitete, mit der Axt Hand an den geheiligten Stamm zu legen. Allein der führte kaum den ersten Hieb in den Baum, so entfuhr die Axt dem Schaft, sprang zurück und jenem an den Kopf, daß er alsbald entseelt niedersank. Da erhoben die Heiden ein frohlockendes Jubelgeschrei. Aber der fromme Anselmus ließ sich nicht schrecken. Er nahm eine neue Axt und führte in den Baum Hieb auf Hieb, und es geschah kein weiteres Zeichen. Dann ließ er die Eiche samt dem Götzen niederbrennen, erbaute an jener Stätte eine Kirche, darin das Beil verehrt werden sollte, und es gründete und bildete sich um dieselbe eine Stadt, die nannte man Heiligenbeil. Das Beil ist wohl im Laufe der Zeiten abhanden gekommen, aber die Stadt führt den alten Namen fort und führt auch das Beil in ihrem Wappen.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:24
DAS BERNSTEINRECHT

Am Gestade des Frischen Haff war vorzeiten das edle Naturgeschenk des Bernsteins überaus reich. Aber der Menschen Habgier schmälert gar oft den Gottessegen. Sonst konnte den Bernstein, den die See an den Strand warf, auflesen, wer wollte, aber das ist schon lange her. Als der Marienorden in das Samland kam, eignete er sich den Alleinbesitz des Bernsteins zu, und Bruder Anselmus von Losenberg, der Vogt auf Samland, machte ein neues Recht und Gesetz, daß jeden Sammler, der nicht vom Orden Erlaubnis oder Auftrag habe, die Strafe des Stranges treffen solle. Das ging dem Volke schwer ein, daß es nicht aufheben sollte, was verstreut am Boden lag und keines Menschen Eigen war, insonderheit dem Volke der Fischer, bei dem es leichtlich geschehen konnte, daß eine Meereswelle ihnen ein Stück oder etliche in Boot und Nachen warf. Aber der Vogt hielt unerbittlich auf seinem Gesetz, und wer zur Anzeige kam und des geständig war, daß er Bernstein aufgehoben, ward gehenkt ohne Gnade am ersten besten Baum. Als aber Anselmus, der Vogt, gestorben war, hat es nicht gut um die Ruhe seiner Seele gestanden. Man hat seinen irren Geist in Sturmnächten, in denen die See den meisten Bernstein auswarf, am Strande wandeln sehen und ihn rufen hören: O mein Gott! Bernstein frei! Bernstein frei! -

Und seit so viele Menschen um des Bernsteins willen eingekerkert, gequält und hingemordet worden sind, ist des Bernsteins viel, viel weniger geworden und wirft die See nicht den tausendsten Teil so viel mehr aus als sonst. Es war eine Zeit, da baute und bildete man aus Bernstein Altäre, Heiligenstatuen, große Prunkschreine und kostbare Gefäße, hoch und weit und voll köstlicher Zierat, das kann heutzutage nur noch selten gemacht werden, man bildet nur allerlei kleines Gerät und Tand daraus.

Bisweilen sehen die beutesüchtigen Strandreiter und Wächter große herrliche Stücke in der Ufernähe schwimmen, wenn aber die Mannschaft mit den Gezeugen hinrudert und sie einfischen will - ist's ein Blendwerk und ein Schaum.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:25
DIE NIXE VON NIDDEN

Der Ort Nidden am Kurischen Haff könnte auch Midden heißen, denn er liegt so recht mitten auf der Kurischen Nehrung, dieser längsten Landzunge weit und breit. Es ist nicht geheuerlich, dort abends einsam zu wandeln. Manchem ist es schon geschehen, daß er dort am glatten Spiegel des Kurischen Haffs wandelte, da sahe er nicht weit vom Uferrande ein grünes Eiland von nicht großem Umfange, von dem wehte Blumenduft zu ihm herüber und süßbetörender Gesang, und er sah wohl eine weiße Jungfrau auf dem Eiland, die winkend ihren Schleier wehen und ihre Stimme so wonnesam erschallen ließ wie die Lurlei am fernen Rheinstrom. Wenn nun ein Jüngling hingerissen von der Allgewalt dieses Gesanges, der in Worten das Glück pries, bei ihr auf ihrer glückseligen Insel zu weilen im trauten Alleinsein, und angelockt vom Zauber der Schönheit der ihm sehnsuchtvoll zuwinkenden Jungfrau, die immer näher kam, weil sie auf einer schwimmenden Insel stand, zu ihr hinüberzuschwimmen strebte, so floh die Insel wieder vor dem Schwimmer, daß er ihren Strand nimmer erreichen konnte und nimmer festen Boden gewinnen, und endlich sah er Jungfrau und Insel vor seinen Blicken versinken, und in dem Wellenstrudel, der dadurch entstand, ward auch er hinab zur Tiefe gerissen. Noch keiner von allen, die dieses treulose Glück versucht, ist wiedergekehrt, und nicht einmal einen Leichnam solcher hat die Meerfei der Tiefe zurückgegeben.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:26
DER GLOMSSACK ZU MEMEL

Ein Glomssack ist ein Sack, darinnen die litauischen Glomskäse aufbewahrt werden, die nicht so klein sind wie die zu Suhla im preußischen Henneberg, welches wohl die kleinsten Käschen auf der Welt sind, daher Gamaschenknöpfe genannt, und sonderlich appetitlich und köstlich. Zu Memel aber hing das Abbild eines litauischen Käsesackes in Erz gegossen und zwei Zentner schwer an der äußeren Festungsbrücke und diente als Gewicht beim Auf- und Niederziehen.

Einstmals ward Memel vom König Erich von Schweden hart belagert, wehrte sich auf das tapferste, zehrte aber auch so, und zuletzt war es mit dem Proviant Matthäi am letzten und Schmalhans sehr bedeutend Küchenmeister. Der ganze Vorratrest bestand in einem handlichen Glomskäse, und da dachten die Belagerten: Übergeben müssen wir uns doch, ob wir nun erst noch diesen Käse verspeisen oder nicht. Sie nahmen also den Käse und einen Glomssack, taten ihn hinein, luden ihn auf eine Blide und warfen ihn in das feindliche Lager, daß die Schweden dachten: Bomben und Granaten! Was kommt da für eine höllische Bombe? Wie es nun der große Käse war, so sagten die Schweden untereinander: Wo noch so viel zu essen ist, da können wir unsern Schwedentrunk nicht anbringen. Wenn diese Käsefresser es noch zum Wegwerfen haben, während bei uns im Lager Mangel einreißt, so tun wir besser, wir ziehen ab von Memel. So sprachen sie, ließen sich den Glomskäse schmecken und zogen ab. Die Memler aber zu dankbarer Erinnerung ließen einen Glomssack mit einem Glomskäse darin zum ewigen Andenken in Erz gießen und an derselben Stelle aufhängen, wo der wirkliche Käse hinausgeschleudert worden war.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:27
DER SCHLOßVOGT

Auf dem runden Schloßberge über Tilsit hart am Ufer der Memel hüteten Hirtenknaben aus dem Kämmereidorfe Altpreußen ihr Vieh und standen betrachtend an einer recht in der Mitte des Berges tief in die Erde hinabgehenden Öffnung, erzählten auch einander dies und das, welche Bewandtnis es mit diesem unergründlichen Loche habe: daß vor alten Zeiten hier oben ein Schloß gestanden voll unermeßlicher Schätze, dessen tiefen Graben und doppelte Wälle man noch erkenne; daß dieses Schloß in einer Nacht plötzlich versunken sei, und das Loch sei der bis zur Bergeshöhe heraufreichende Schornstein; bisweilen lasse sich der Schloßvogt sehen, ein altes graues Männchen mit schneeweißen Haaren. Und da wurden die Hirtenknaben sehr neugierig, wie tief diese Höhle sei und ob sich nichts aus ihr erlangen lasse. Sie schleppten ein Seil herbei und banden den jüngsten ihrer Schar, so sehr er sich auch sträubte und schrie, daran und ließen ihn hinunter. Das Seil war zweimal so lang wie der Kirchturm der deutschen Kirche in Tilsit und hing immer noch straff, obgleich sie schon längst das Schreien ihres Gefährten nicht mehr hörten. Endlich ward es leicht und krümmte sich, jener hatte also den Grund erreicht. Sie riefen hinunter - alles blieb still; sie warteten lange und bange - endlich zogen sie das Seil herauf es war leicht und - leer. Voll Angst liefen nun alle vom Berge, und am andern Morgen wagten sie sich nicht wieder zum Schloßberggipfel. Noch trieben sie unentschlüssig auf der Straße, siehe, da kam der Knabe, den sie gestern in den Berg hinabgelassen, ihnen munter entgegen. Seine Taschen und seine Mütze waren voll Gold, und er erzählte nun seinen Kameraden, die ihn neugierig umringten, was ihm geschehen war.

Ich kam, erzählte er, in eine große Küche, darinnen funkelte es rings von prächtigem Geschirr und Geräte. Und da kam ein altes graues Männchen, das muß wohl der Schloßvogt gewesen sein, das grüßte mich freundlich und sagte: Das ist hübsch von dir, daß du mich auch einmal besuchst, habe nur nicht Bange, und band mich los vom Strick und führte mich durch das Schloß von einem Zimmer in das andere, da lag alles voll Gold und Schätze. Hernach wurde ich müde, da führte mich der Schloßvogt zu einem schönen Bette, darin schlief ich prächtig. Heute morgen kam das alte Männlein, als ich gerade ausgeschlafen hatte, an mein Bette, hieß mich aufstehen, füllte mir Mütze, Taschen und Hände voll Gold und sagte: Das sollst du vom Schloßvogt verehrt erhalten!, dann brachte er mich an ein enges Tor, schloß es auf und hieß mich hinausgehen. Wie ich draußen war, war ich im Tale, und wie ich mich umsah, war das Tor mitsamt dem Schloßvogt verschwunden.

Die Hirtenknaben verwunderten sich über diese Erzählung sehr. Sie beneideten ihren Kameraden um sein vieles Geld, dazu sie ihm doch eigentlich wider seinen Willen verholfen, und meinten, einen kürzeren Weg als durch den Schornstein hinab in das Goldschloß und zu Geld zu gelangen gäbe es auf der Welt nicht. Sie eilten daher auf den Berg, so schnell sie konnten, losten, welcher von ihnen zuerst hinabgelassen werden solle, und den das Los traf, den ließen sie hinunter unter Bedingung der Teilung dessen, was er empfangen würde. Richtig kam das Ende des Seils wieder leer herauf, und am andern Morgen gingen sie erwartungsvoll dem Kameraden entgegen. Aber er kam nicht und soll noch heute wiederkommen. Seitdem hat es keinen wieder gelüstet, in die Tiefe hinabgelassen zu werden.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:28
DER OPFERSTEIN AUF DEM ROMBINUS

Bei der Stadt Ragnit an der Memel, aber drüben jenseits des Flusses, erhebt sich ein bewaldeter und zerklüfteter Berg, der heißt Rombinus. Vorzeiten war auf ihm der alten Litauen berühmtestes und größtes Heiligtum, mit einem riesigen Steinaltar, auf welchem dem Gotte Potrimpos seine Opfer dargebracht wurden. Der Gott selbst sollte diesen Stein an jenen Ort gelegt haben und unter denselben eine goldene Schüssel und eine silberne Egge begraben, weil er der Gott der Fruchtbarkeit und der Ernte. Da war des Opferns auf dem Rombinus kein Ende, und die Sage ging schon damals, solange der Stein auf dem Berge liege, werde Litauen in Glückesblüte stehen, würde aber der Stein hinweggerückt, so werde der Berg selbst einstürzen und Unglück das Land heimsuchen, und diese Sage ging von einem Jahrhundert in das andere, als längst keine Opfer mehr auf dem Rombinus gebracht wurden.

Da kam - im Jahre 1811 soll es geschehen sein - ein deutscher Müller nach dem Dörfchen Barten (Bardehnen) nordöstlich vom Rombinus, der wollte zwei neue Windmühlen anlegen und suchte in der Gegend umher nach festen Steinen. Da kam er auch auf den Rombinus, und der Opferstein dünkte ihm baß geeignet zu seinem Werke. Allein die Umwohner sagten ihm, diesen Stein dürfe er nicht wegnehmen, von dem hange das Glück des Landes ab. Der Müller sagte den Leuten, daß sie noch im heidnischen Aberglauben befangen seien, ging zum Landrat und ließ sich die Erlaubnis schriftlich geben, den Stein wegnehmen zu dürfen. Diese erhielt er, denn der Landrat wollte nicht minder aufgeklärt sein wie ein deutscher Windmüller. Aber siehe da, die Erlaubnis half erst recht nichts, denn es rührte kein Arbeiter ringsumher eine Hand, auch nicht um den reichsten Lohn, den der Müller bot. Jetzt mußte der Müller erst im Lande herumreisen, sich herzhafte und nicht abergläubische Leute zu suchen. Endlich fand er nach langer Mühe drei kecke Gesellen, die erboten sich, den Stein zu sprengen und vom Berge wegzuführen, es war aber keiner von ihnen aus der Nähe des Rombinus. Einer war aus Gumbinnen, der zweite aus Tilsit und der dritte aus Altpreußen bei Tilsit. Jetzt gingen die vier Männer zum Rombinus hinauf und begannen die Arbeit. Der Müller tat den ersten Schlag auf den Stein, da fuhren zwei Splitter davon, die schossen ihm in die Augen, daß er alsobald erblindete und blind blieb sein Lebelang; vielleicht, daß er noch am Leben ist. Der Geselle aus Tilsit krellte sich beim zweiten Schlag, den er tat, den Arm so stark, daß ihm die Markröhre zersprang und er einen dritten Schlag nicht tun konnte. Aber den beiden andern Gesellen geschahe nichts, sie ließen sich auch nicht warnen, überwältigten den Stein und schafften ihn vom Berge herab. Als aber der Gumbinner Geselle nach getaner Arbeit wieder in seine Heimat wanderte, hat er diese nimmer erreicht und ist elendiglich am Wege hinter einem Zaun verstorben. Die goldene Schüssel und die silberne Egge, von der die Sage ging, hat keiner gefunden. Seit der Stein hinweg war, begann der Memelstrom am Berge zu arbeiten und zu nagen und ihn zu unterhöhlen, und im Jahre 1835, im September, geschahe nachts ein donnerähnliches Krachen und war ein großes Stück des Rombinus eingestürzt, und viele fürchteten, es werde noch mehr einstürzen und die alte Unglücksprophezeiung sich erfüllen.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:29
DIE FLIEGENDEN TOTEN

In der Stadt Ragnit sind zwei Kirchhöfe, einer für die deutsche, einer für die litauische Gemeinde, einer östlich, der andere südwestlich von der Stadt, doch liegen sie so, daß zwischen ihnen weder Haus noch Hecke, weder Baum noch Zaun noch Mauer steht. Und da begibt es sich besonders in Sturmnächten, daß die Toten beider Gemeinden, die einander im Leben gut kannten, sich gegenseitig besuchen und durch die Nacht zu Hunderten, ja zu Tausenden von einem Kirchhöfe zum andern fliegen, gar nicht hoch über der Erde und in gerader Linie. Nicht jeder ist imstande, sie zu sehen, aber die in der Mitternachtstunde eines Sonntags Geborenen, die sehen den grauenhaften Totenflug. Und dem kann nichts widerstehen. Ein Fremder zog nach Ragnit, baute sich dort an mit einem hübschen und festen Haus am südlichen Stadtende, aber die erste Sturmnacht warf es über den Haufen, während einige alte, schon halb verfallene Häuser, die aber seitwärts standen, unversehrt blieben. Der Fremde ließ das Haus wieder aufrichten, und es ereignete sich ganz das nämliche. Da sagte ihm ein Mann, der in der Mitternachtstunde vom Sonnabend auf den Sonntag geboren war, daß sein Haus in der Linie des Weges der fliegenden Toten stehe, und zeigte ihm eine Scheuer in der gleichen Richtung, von der nur eine Dachspitze in diese Linie hineinragte, die stets und stets, sooft sie erneut worden, wieder abgerissen worden sei. Darauf rückte der Fremde sein Haus zur Seite und den fliegenden Toten aus dem Wege, und da steht es heute noch, ohne jemals wieder Schaden genommen zu haben.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:30
DIE WEIßE JUNGFRAU DER BAYERBURG

Als Herzog Heinrich von Bayern im Jahre 1337 dem Deutschen Orden mit starker Heeresmacht zu Hilfe zog, erbaute er eine Schutz- und Trutzburg dem alten Ordenshause Christmemel am Memelstrome gegenüber, die war gar groß und fest und wurde die Bayerburg genannt. Die sollte die ganze Gegend schirmen gegen das heidnische Litauen, und eine große Stadt mit dem Sitz eines Erzbischofs sollte sich um sie her begründen. Allein dem ward nicht also. Der Ordenshochmeister setzte einen Komtur in die Bayerburg und vierzig Ritter, die sollten sie behaupten und ein gottseliges Leben in der Burg führen. Solches führten sie aber mitnichten, sondern ein Leben voll Lust und Schlemmens, mit Trunk, Spiel und Buhlerei. Einstmals brachten sie eine edle christliche Jungfrau in ihre Gewalt, die sie zu ihren Sünden zu nötigen versuchten, allein die Jungfrau willigte nimmer ein und rief in ihrer Not den Herrn an, ihren Leiden und der Ritter Greuel ein Ende zu machen. Und da tat sich die Erde auf und verschlang die Burg, die Ritter und die Jungfrau. Ihr aber ward ob ihrer Reinheit willen vergönnt, als Schutzgeist der Gegend bisweilen sichtbarlich zu erscheinen. Sie warnt die Leute vor Bösem und erzeigt ihnen Gutes. Wo die Burg gestanden hatte, gähnte ein tiefer Schlund und Abgrund hinab, in diesen stürzte vor langer Zeit ein Kind, und die Eltern jammerten ratlos droben am Rande des Abgrundes, denn niemand traute sich hinabzusteigen. Da entstieg dem Abgrunde die weiße Jungfrau und hielt in ihren Armen das unversehrte Kind, gab es zurück und verschwand. So ist sie vielen hilfreich gewesen. Auch die Schätze der versunkenen Burg, die sie bewacht, würde sie gern verteilen, aber ein schwarzer Teufel wohnt mit ihr zugleich in der Tiefe, der wehrt es ihr. Einst wird die weiße Jungfrau den schwarzen Teufel überwinden und alle ihre Schätze im Lande austeilen.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:31
SCHLACHT IM NEBEL

In den endlosen Kriegen des Deutschen Ordens gegen das litauische Heidenvolk geschah es im Jahre 1394, daß das Ordensheer bis zur Landeshauptstadt Wilna vorgedrungen war und diese Stadt belagerte. Den Belagerern die Zufuhr abzuschneiden, führte Großfürst Witoudt ein starkes Heer heran und schlug Lager. Die Zufuhr aber zu schützen, entsandte der Meister vier Banner, jedes von hundert Mannen, die stießen bei Redemynne auf die Litauer Fürsten Witoudt und Karjebut von Sewerien mit ihrem großen Heer, doch lag noch ein Fließ oder Bruch zwischen den Ordenskriegern und den Litauern; um diesen zogen erstere, und da gewahrten sie, daß des Feindes Heer also groß war, daß zehn Feinde auf einen Christenreiter kamen. Dennoch wagten sie mutig den Angriff, und da ließ Gott aus dem Bruch einen dichten Nebel aufsteigen, daß die Litauer ihrer Gegner Kleinzahl nicht wahrnahmen, sondern meinten, der Hochmeister mit dem ganzen Ordensheer stehe gegen sie, und da die Kreuzritter so tapfer und heftig angriffen, so hielten die Litauer nicht stand, sondern flohen von allen Seiten nach allen Seiten. Und solange der Kampf währte, in welchem gar viele Heiden erschlagen wurden, vermochte kein Wind den Nebel zu zerteilen.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:32
DER KÖNIG IM BERGE

Auf einer Höhe bei Lauenburg in Kassuben hatte sich im Jahre 1596 eine ungeheure Kluft aufgetan. Deren Tiefe und wie sie innen beschaffen sei, hätte der Rat gern erfahren; nun waren allda zu Lauenburg zwei Gefangene, das waren zum Tode verurteilte Missetäter, denen bot der Rat Leben und Freiheit, wenn sie es wagen wollten, hinab in die Tiefe zu steigen und Kunde heraufzubringen von dem, was sie drunten gesehen. Diese Missetäter fuhren hinab, tief, unendlich tief, und als sie endlich drunten im Berge ankamen, da erblickten sie einen großen und schönen Garten, und in dem Garten stand ein Baum mit lieblicher weißer Blüte. Und unter dem Baume stand ein Kind, das winkte den Männern und führte sie über einen weiten Plan zu einem Schloß. Daraus klang vernehmlich mancherlei Saitenspiel und liebliches Getöne, und wie das Kind den Männern die Pforte öffnete, sahen sie drinnen im Saal einen=König auf silbernem Suhle sitzen, der hielt in der einen Hand einen goldenen Szepter und in der andern Hand einen Brief. Diesen Brief gab der König in des Kindes Hand, und das Kind gab ihn den Missetätern. Die brachten ihn herauf, und dann ward ihnen ewiges Schweigen auferlegt, und sie wurden freigelassen, und niemals hat jemand erfahren, was in dem Briefe gestanden hat.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:34
DANZIG

Vom Ursprunge des Namens der Stadt Danzig gehen vielerlei Sagen, von denen manche sehr haltlos und offenbar später erst gemacht sind. Vom Tanz, den man früher Danz schrieb, kommt vielleicht der Name, vielleicht auch nicht. Ein Dorf des Namens Hochzeit liegt nahe bei Danzig, warum sollte der Tanz von Hochzeit fern sein? Es wird aber erzählt, daß im Dorfe Wiek am Ostseestrande ein vornehmer Däne hauste, der war ein großer Seeräuber, machte seinen Namen furchtbar und barg in Wiek seine Raubschätze; da gaben die Umwohner dem Orte den Namen Danske-Wiek, des Dänen Wiek, und daraus wurde durch der Zeiten und der Sprache Wandlung Danswieg, Danzig. Ob nun dieser Däne des umliegenden Landes Herr geworden oder ein von der Sage genannter Hagel, der auf dem nahen Hagelsberge saß und tyrannisch herrschte, bleibt ungewiß. Zu dem Gebietiger des Landes aber kamen die Einwohner des Ortes Wiek und trugen ihm das Anliegen vor, eine Stadt zu erbauen, er sollte ihnen nur so viel Raum und Boden vergönnen, als sie mit ihren Armen umfangen könnten. Andere nennen als solchen Grundherrn den ersten Herzog von Pommerellen, Sobislaus, der habe, da er vom König Woldemar von Dänemark mit Krieg überzogen worden, noch keinen festen Platz im Lande und daher selbst den Wunsch gehabt, einen solchen zu gründen. Daher habe er sich gegen die Wieker erboten, ihnen den Grund und das Holz zu solchem Aufbau zu schenken, und die Bewohner haben nun gebeten, ihnen so viel Boden einzuräumen, als sie mit ihren Armen umspannen würden. Und als dieses bewilligt war, da kamen auf den bestimmten Tag alle Bewohner des Ortes zusammen, jedes Geschlechtes und Alters, was nur gehen konnte, und faßten sich an den Händen und umschritten einen mächtigen Platz und kreisten so viel Raum ein, als hernach die Altstadt Danzig bedeckt hat. Das war die erste und auch die größte große Runde, die jemals getanzt worden ist, und von da an mag wohl der Rundtanz aufgekommen sein.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:35
MARIENKIRCHE ZU DANZIG

Die Danziger Marienkirche (Ober-Pfarrkirche) enthält viel Wunderbarliches, davon weit und breit erzählt wird. über Sankt Hedwigs Kapelle, andere sagen vor der Kapelle der elftausend Jungfrauen, ist ein Schnitzbild des gekreuzigten Heilandes von unübertrefflicher Schönheit und grausenhafter Wahrheit. Der Künstler, der dieses Bild fertigte, hatte, wie die Sage geht, sich einen schönen Jüngling gewonnen und ihn an sich gelockt mit mancherlei Verheißung, darunter auch die, ihm seine Tochter, die der Jüngling liebte, zur Frau zu geben, habe ihn aber, um ein wahrheit- und lebendigtreues Vorbild für sein Kunstwerk zu haben, erst betäubt und dann an ein Kreuz geschlagen, sein Sterben beobachtet und dann sein Gebilde vollendet. Da nun aber über den Tod des Geliebten auch der Tochter Herz brach, erfaßte die Reue den Künstler, und er endete sein Leben durch Selbstmord.

Ein Tabernakelschrein umschließt in derselben Kirche ein wundersam liebliches Tonbild der heiligen Jungfrau. Der Künstler, der dasselbe fertigte, tat dies im Gefängnis, wo er auf den Tod saß. Als er sein Bild vollendet hatte, sandte er es dem Rate der Stadt als ein Andenken für die Marienkirche. Wer das Bild sahe, wurde von seiner Schönheit und dem jungfräulichen Liebreiz ergriffen, den es zeigte. Da meinten die Väter der Stadt, und alles Volk meinte das gleiche, dieser Künstler sei ein Mann, den ein frommer und hoher Geist beseele und dem sein Vergehen müsse verziehen werden. Solches ist denn auch geschehen, und der Künstler hat nachher noch lange in Ehren gelebt.

Wie im Münster zu Straßburg, so auch in der Pfarrkirche zu Danzig war ein treffliches Uhrwerk, das hatte ein Meister aus Nürnberg gefertigt, der hieß Hans Düringer. Zwei große Scheiben zeigten Sonnen-, Planeten- und Mondeslauf, des Tierkreises Bilder und die heiligen Feste und Zeiten. Wandelnd traten, in sinnreichen Bildnissen ausgedrückt, die Evangelien von Sonntag zu Sonntag vor die Augen der Frommen. Die zwölf Apostel schritten im Kreise hervor, die Tagesstunden bezeichnend; über ihnen schlugen Adam und Eva auf Glocken, die Stunden und Viertelstunden anzuzeigen, und auch die Jahreszeiten waren künstlich vorgestellt. Herrlich war das Werk im Gange und die Bewunderung aller Welt. Da geschah, was auch in Straßburg sich begab. Der Neid erwachte, der Künstler sollte kein zweites Werk solcher Art vollbringen - er ward geblendet - gab vor, im Uhrwerk noch etwas nachsehen zu müssen, ward hineingeführt, hemmte durch einen einzigen Griff für immer des Werkes Gang und stürzte sich vom Turme herunter.

Der Marienkirche höchster Stolz und höchster Schmuck ist ein Gemälde des Jüngsten Gerichts, vollendet von den Künstlerhänden der berühmten Maler Johann van Eyck und seines Bruders Georg. Dieses herrliche Bild hatte der Papst für Rom bestellt, aber der Himmel bestellte es für Danzig. Ein Seeräuber erbeutete das Schiff, auf dem es nach der Heiligen Stadt befördert werden sollte, aber ein Danziger Schiffahrer, der mit dem Seeräuberschiff in Kampf kam und es eroberte, gewann es für sich und schenkte es seiner Vaterstadt. Andere sagen, jenes holländische Schiff sei gescheitert und das Bild samt seiner Kiste fern im Meere schwimmend von einem Danziger Schiffer aufgefunden worden. Der König von Frankreich habe vergebens eine Tonne Goldes für das Bild geboten.

Auch versteinertes Brot wird in der Marienkirche zu Danzig gezeigt, und geht davon mehr als eine Sage. Einmal habe zur Zeit großer Hungersnot ein Mönch ein Brot in der Kutte getragen, und ein hungernd Weib habe ihn für ihr verschmachtendes Kind um ein Brotsamlein angefleht, er aber habe gesagt, er trage kein Brot, er trage nur einen Stein, und da sei über den Notschrei der Frau das Brot alsbald zu Stein geworden.

Aber es wird auch gesprochen, daß eine reiche Danziger Frau in der Zeit derselben Hungersnot ihr schönes und sehr geliebtes kleines Kind, da es sich verunreinigt hatte, weil Tuch und Schwamm ihr nicht sanft und weich genug für des Kindes zarte Haut gewesen, mit Semmelkrumen abgeputzt habe, da wäre ihr unter der Hand die Krume zu einem rauhen Steine geworden, der des Kindes Haut blutrünstig gerissen, daß es an der nimmer heilenden Wunde gestorben, worüber die Mutter in Wahnsinn verfallen.

Ganz ähnlich wie die von dem Brotstein des Danziger Mönchs lautet auch eine Sage vom Brotstein im Kloster Oliva (berühmt durch den Friedensschluß 1660) nahe bei Danzig, allwo der Brotstein noch hängt und außer der einen noch manche andere Sagen von ihm erzählt werden. Er soll sogar noch wie Brot riechen.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:36
DER SPRING IN HEILIGENBRUNN

Ein reicher Kaufmann zu Danzig hatte eine schöne Tochter, und diese traf das Unglück, daß sie nach einer schweren Krankheit erblindete, und keine Kunst der Ärzte vermochte ihr das verlorene Augenlicht wiederzugeben. Das hatte schon ein Jahr gedauert, als die Jungfrau mit ihren Eltern sich auf dem Johannesberg erging, und da sie bekümmert und erschöpft war und über ihr Unglück weinte, so wurde ihr aus einer nahen Quelle Wasser gereicht, die schmerzenden Augen zu netzen und die Glut zu kühlen. Aber siehe, wie sie sich mit dem Wasser benetzt hatte, wurden unversehens ihre Augen aufgetan, und sie ward wieder sehend. Da dankten Vater, Mutter und Tochter dem himmlischen Helfer im heißen Gebet und rühmten allüberall der Quelle Wunderheilkraft, und das Land ward ihres Rufes voll; viele Blinde wurden sehend, und die Quelle wurde heilig gehalten und der Ort, der sich um sie her anbaute, Heiligenbrunn genannt. Da kam ein Spötter und Wunderleugner nach Heiligenbrunn, der ritt auf einem alten blinden Gaul und rief: Ist euer Wasser so wunderwirkend, so muß es auch dem Vieh gedeihen. Wenn es meine Mähre sehend macht, will ich's glauben. - Und ritt das blinde Pferd nach der Heilquelle und ließ es aus ihr trinken. Und senkte das Tier seinen ganzen Kopf in den Born, und da es diesen aus dem Wasser zog, sahe der Ritter, daß es sehend geworden, weiter aber sahe er hernach nichts mehr, denn über seine Augen lagerte sich die Nacht der Blindheit. Aber von derselben Stunde an verlor das Wasser seine Heilkraft, wie an andern wunderwirkenden Quellen bei deren frevler Entheiligung auch geschehen.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:37
HELA

Von Danzig und der Weichselmündung gerade nordwärts liegt auf der äußersten Spitze der Landzunge, die das Putziger Wiek von der Ostsee scheidet, ein kleines Städtchen, das führt den Namen Hela. Selbiges ist ein trauriger und düsterer Name, denn Hela hieß die Todesgöttin in dem skandinavischen Mythus, ein Begriff der Erstarrung, der Kälte und des Reiches unter der Erde, und es wollen manche, daß von diesem Namen sogar das deutsche Wort Hölle abstamme. Aber da, wo jetzt Hela liegt, und insonderheit einige tausend Schritte hin am äußersten Oststrande, war vorzeiten keine Hölle, sondern eitel irdischer Glanz und Helle, aber das ist freilich schon viele hundert Jahre her, da stand dort eine reiche, große und prächtige Stadt, belebt vom Handel und Wandel, besucht von allen Völkern des Morgen- und Abendlandes, gleich Stavoren und Vineta und Julin; aber wie es in diesen blühenden Städten ging, also ging es auch in Hela, der wachsende Reichtum machte die Menschen gottvergessen. Aber es steht geschrieben: Wer sich auf seinen Reichtum verlässet, der wird untergehen - und Hela ist untergegangen mitten in seinen Sünden. Es soll dieser Untergang durch die brausende Meeresflut in einer Nacht vom ersten zum zweiten Pfingsttage geschehen sein, weil es dahin gediehen war, daß der Handels- und Betriebsgeist keines Sonn- und Feiertags mehr achtete und Werkeltage aus ihnen machte, wohin auch die Neuzeit wieder steuert, die dem armen arbeitenden Volke seinen Sonntag nimmt - und nur an diesem hohen Festtage kann zuzeiten bei ruhiger See das meerverschlungene Hela erblickt werden. Und da sieht man in den reichen Straßen die Bewohner geschäftig wandeln in ihrer Prunktracht und Verkehr treiben und kann die Uhren schlagen hören und die Glocken läuten, aber in die Kirchen sieht man niemand gehen, weil das die Leute verlernt hatten über dem Jagen nach dem Mammon.

Wenn der erste Pfingsttag still war und den Hinabblick nach Hela vergönnte, erhebt mit Sonnenuntergang sich der Nordostwind und wühlt das Meer auf, als solle sich der alte Pfingststurm erneuen und als wolle er gar die ganze Landzunge verschlingen. Da eilen Schiffer und Fischer, Fahrzeuge und Nachen zu bergen und den sichern Strand zu gewinnen, denn furchtbar toben an diesem nordöstlichen Strande der Ostsee empörte Wogen.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853

General wallenstein
27.01.04, 19:38
DAS SCHLAFENDE HEER DER HEILIGEN HEDWIG

Bei Gleiwitz liegt mitten in polnischer Umgebung das deutsche Dorf Schönwald und in dessen Nähe ein großer Wald. In diesem Walde schläft die heilige Hedwig mit einem Heere gewappneter Mannen. Nach der Schlacht bei Wahlstatt am 9. April 1241 ist sie hierher gekommen und mit ihrem Gefolge in einen tiefen Schlaf gesunken. Wenn man im Walde ist, kann man oft die tiefen Atemzüge der Schlafenden hören.

Wenn einst das Land in großen Gefahren vor den Heiden sein wird, dann wird die heilige Hedwig mit ihrem Heere erwachen und die Feinde schlagen. Im Sturmjahr 1848 hat man Zeichen bemerkt, die auf das Erwachen deuteten. Man hat Männerstimmen und Waffenklirren gehört und wunderbare Gestalten gesehen.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 25

General wallenstein
27.01.04, 19:39
WIE DAS "SOMMERSINGEN" IN SCHLESIEN AUFKAM

Micislaus, der Sohn des Herzogs von Schlesien und Polen, war bis zu seinem siebenten Lebensjahre blind gewesen, dann aber, als man ihm nach damaliger Sitte zum ersten Male das Haupthaar abschnitt, wieder sehend geworden. Als er zum Jünglinge herangereift war, erhob er seine Augen zu Dombrowka, der Tochter des Königs von Böhmen. Sie aber war Christin, während Micislaus noch Heide war. Sicher hätte die schöne Böhmin nie einen Heiden geheiratet. Darum rieten viele in Gnesen wohnende Freunde, die bereits Christen geworden waren, dem Sohne ihres Herzogs, auch zum Christentume überzutreten. Dann werde Dombrowka bestimmt seiner Werbung freundlich zustimmen, und seine Ehe werde vom Glück begünstigt sein.

Dem jungen Prinzen leuchtete das ein. Er vermählte sich am Sonntag Lätare, dem 16. März des Jahres 965, mit der geliebten Braut und trat gleichzeitig zum Christentume über.

Als er die Herrschaft über sein Reich angetreten hatte, befahl er seinen Untertanen, gleichfalls Christen zu werden und sofort alle Götzenbilder mit Schimpf und Spott zum Tore hinauszuschlep-pen und in die Sümpfe zu versenken. Auch gab er den Befehl, alle Jahre an diesem Sonntage Lätare Puppen, die ihre alten Götzen darstellen sollten, hinauszutragen und so in ihnen den Tod des Heidentums zu vertreiben. So trug man am Sonntag Lätare die Götzenpuppen hinaus und sang dazu Lieder, die den Sinn der Handlung wiedergeben sollten. Eines dieser Lieder lautet:

Woas troan mir, woas troan mir,
A lebendiga Tud begroaba wir,
Wir begroaba ihn under die Tunne,
Doaß scheint die liebe Sunne.

Dieser Brauch hat sich bis heute, namentlich in den nieder-schlesischen Gauen erhalten. In dem Tode, den man hinaustreibt, glaubt man auch den Wintertod zu Grabe zu tragen. Und so verkündet der Sonntag Lätare für das wintermüde, nunmehr hoffnungsfreudig gewordene Volk sozusagen den Beginn der wärmeren Zeit. Darum nennt man den Sonntag Lätare auch den Sommersonntag und den Brauch, an diesem Tage mit geschmückten „Sommerbäumen" frohe Umzüge zu veranstalten, wobei ernste und scherzhafte Lieder gesungen werden, das Sommersingen. Eines dieser Lieder sei hier angeführt:

Den Winter haben wir hinausgetrieben,
Den lieben Sommer bringen wir wieder,
Den Sommer oder Maien,
An Blümlein vielerleien,
An Blümlein vieler Zweigelein;
Der liebe Gott wird bei uns sein,
Er wird auch bei uns wohnen,
Dort oben in den Kronen,
Dort oben in der Seligkeit,
Da ist der Frau der Stuhl bereit,
Dort oben soll sie sitzen,
Sie wart't auf Jesum Christen.
Ein Schock, zwei Schock,
Hundert Taler Vorrat!

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 1

General wallenstein
27.01.04, 19:40
DIE HAHNENKRÄHE

In Breslau arbeitete ein Stellmachergeselle. Er war ein braver und fleißiger Handwerker und hätte gern einen eignen Hausstand gegründet, wenn er nicht zu arm gewesen wäre. Seine in Deutsch-Lissa wohnende Braut liebte ihn aus ganzer Seele. Sie hatte ihm einen Ring verehrt und zugleich das Versprechen gegeben, ihm so lange treu zu bleiben, als der Ring halte. Im Vertrauen auf dieses Gelöbnis seiner geliebten Braut ging er in die Fremde, dort Geld und Gut zu gewinnen, um seine Braut an den Traualtar führen zu können.

Auf seiner Wanderung geriet er aber leider in russische Gefangenschaft und wurde nach Sibirien verschleppt. Hier mußte er in Bergwerken arbeiten. Zwanzig Jahre war er schon in Sibirien und noch bestand keine Aussicht für ihn, aus der Gefangenschaft zu entkommen. Nur der Glaube an die Treue seiner Braut hielt ihn aufrecht.

Da zerbrach sein Ring. Voll Trauer darob wollte er schier verzweifeln. In diesem seinem trostlosen Zustande erschien ihm ein Geist. Der verriet ihm, daß seine Braut am nächsten Tage Hochzeit halten werde.

Seine verzweifelte Stimmung hatte den höchsten Grad erreicht. Da beschloß er, sich dem Teufel zu verschreiben.

Der Teufel erschien und sagte: „Da bin ich. Was willst du von mir?" „Du sollst meine Seele haben", rief er ihm entgegen, „wenn du mich bis zum ersten Hahnenschrei morgen früh bis an meinen Heimatort Lissa bringst."

Der Teufel willigte ein, nahm ihn unter seinen Mantel und flog mit ihm der Heimat entgegen. Als sie eine kurze Strecke hinter Breslau waren, hörten sie den ersten Hahnenruf. Ergrimmt darob, daß sein Pakt mit dem Stellmachergesellen zuschanden ward, ließ ihn der Teufel fallen.

Der Stellmacher eilte sofort nach Lissa in die Kirche und sah dort das Brautpaar zum Altare schreiten. Am goldenen Ringe erkannte ihn seine Braut. Sie verließ sofort ihren zweiten Bräutigam, warf sich dem totgeglaubten Bräutigam in die Arme und ließ sich ihm vermählen.

Der glückliche Ehemann wurde bald ein ehrenwerter Meister, der weit und breit beliebt war. In dankbarer Erinnerung an seine Befreiung ließ er an der Stelle, wo der Hahn gekräht hatte, eine etwa vier Meter hohe achtseitige Steinpyramide mit tabernakelartigem Aufbau errichten und an den vier Seiten des letzteren den gekreuzigten Heiland, einen Reiter, ein lateinisches „W" und einen Hahn einmeißeln. Dieses Mal ist noch heute dort zu sehen, wo die Berliner Kunststraße den Damm der Eisenbahnstrecke nach Posen schneidet.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 2

General wallenstein
27.01.04, 19:41
DER GLOCKENGUß ZU BRESLAU

War einst ein Glockengießer
Zu Breslau in der Stadt,
Ein ehrenwerter Meister,
Gewandt in Rat und Tat.

Er hatte schon gegossen
Viel Glocken, gelb und weiß,
Für Kirchen und Kapellen
Zu Gottes Lob und Preis.

Und seine Glocken klangen
So voll, so hell, so rein;
Er goß auch Lieb' und Glauben
Mit in die Form hinein.

Doch aller Glocken Krone,
Die er gegossen hat,
Das ist die Sünderglocke
Zu Breslau in der Stadt.

Im Magdalenenturme,
Da hängt das Meisterstück,
Rief schon manch starres Herze
Zu seinem Gott zurück.

Wie hat der gute Meister
So treu das Werk bedacht;
Wie hat er seine Hände
Gerührt bei Tag und Nacht!

Und als die Stund' gekommen,
Daß alles fertig war,
Die Form ist eingemauert,
Die Speise gut und gar —

Da ruft er seinen Buben
Zur Feuerwacht herein:
„Ich laß auf kurze Weile
Beim Kessel dich allein;

Will mich mit einem Trunke
Noch stärken zu dem Guß;
Das gibt der zähen Speise
Erst einen vollen Fluß.

Doch hüte dich und rühre
Den Hahn mir nimmer an;
Sonst war'es um dein Leben,
Fürwitziger, getan!"

Der Bube steht am Kessel,
Schaut in die Glut hinein;
Das wogt und wallt und wirbelt
Und will entfesselt sein,

Und zischt ihm in die Ohren
Und zuckt ihm durch den Sinn
Und zieht an allen Fingern
Ihn nach dem Hahne hin.

Er fühlt ihn in den Händen;
Er hat ihn umgedreht —
Da wird ihm angst und bange;
Er weiß nicht, was er tat,

Und läuft hinaus zum Meister,
Die Schuld ihm zu gestehn,
Will seine Knie umfassen
Und ihn um Gnade flehn.

Doch wie der nur vernommen
Des Knaben erstes Wort,
Da reißt die kluge Rechte
Der jähe Zorn ihm fort.

Er stößt sein scharfes Messer
Dem Buben in die Brust;
Dann stürzt er nach dem Kessel,
Sein selber nicht bewußt.

Vielleicht, daß er noch retten,
Den Strom noch hemmen kann -
Doch sieh, der Guß ist fertig;
Es fehlt kein Tropfen dran.

Da eilt er abzuräumen
Und sieht und will's nicht sehn -
Ganz ohne Fleck und Makel
Die Glocke vor sich stehn.

Der Knabe liegt am Boden;
Er schaut sein Werk nicht mehr.
Ach Meister, wilder Meister,
Du stießest gar zu sehr!

Er stellt sich dem Gerichte,
Er klagt sich selber an.
Es tut den Richtern wehe,
Wohl um den wackern Mann.

Doch kann ihn keiner retten,
Und Blut will wieder Blut;
Er hört sein Todesurteil
Mit ungebeugtem Mut.

Und als der Tag gekommen,
da man ihn führt hinaus,
Da wird ihm angeboten
Der letzte Gnadenschmaus.

„Ich dank euch", spricht der Meister,
„Ihr Herren, lieb und wert;
Doch eine andre Gabe
Mein Herz von euch begehrt:

Laßt mich nur einmal hören
Der neuen Glocke Klang!
Ich hab'sie ja bereitet;
Möcht' wissen, ob's gelang."

Die Bitte ward gewähret,
Sie schien den Herrn gering;
Die Glocke ward geläutet,
Als er zum Tode ging.

Der Meister hört'sie klingen
So voll, so hell, so rein;
Die Augen geh'n ihm über,
Es muß vor Freude sein.

Und seine Blicke leuchten,
Als wären sie verklärt;
Er hat in ihrem Klange
Wohl mehr als Klang gehört.

Hat auch geneigt den Nacken
Zum Streich voll Zuversicht;
Und was der Tod versprochen,
Das bricht das Leben nicht.

Das ist der Glocken Krone,
Die er gegossen hat,
Die Magdalenenglocke
Zu Breslau in der Stadt.

Die ward zur Sünderglocke
Seit jenem Tag geweiht;
Weiß nicht, ob's anders worden
In dieser neuen Zeit.

Wilhelm Müller

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 3

General wallenstein
27.01.04, 19:42
Der Glockenguß zu Breslau

Als die Glocke zu St. Maria Magdalena in Breslau gegossen werden sollte und alles dazu fast fertig war, ging der Gießer zuvor zum Essen, verbot aber dem Lehrjungen bei Leib und Leben, den Hahn am Schmelzkessel anzurühren. Der Lehrjunge aber war vorwitzig und neugierig, wie das glühende Metall doch aussehen möge, und wie er so den Kran bewegte und anregte, fuhr er ihm wider Willen ganz heraus, und das Metall rann und rann in die zubereitete Form. Höchst bestürzt weiß sich der arme Junge gar nicht zu helfen, endlich wagt er's doch und geht weinend in die Stube und bekennt seinem Meister, den er um Gottes willen um Verzeihung bittet. Der Meister aber wird vom Zorn ergriffen, zieht das Schwert und ersticht den Jungen auf der Stelle. Dann eilt er hinaus, will sehen, was noch vom Werk zu retten sei, und räumt nach der Verkühlung ab. Als er abgeräumt hatte, siehe, so war die ganze Glocke trefflich wohl ausgegossen und ohne Fehl; voll Freude kehrte der Meister in die Stube zurück und sah nun erst, was für Übels er getan hatte. Der Lehrjunge war verblichen, der Meister wurde eingezogen und von den Richtern zum Schwert verurteilt. Inmittelst war auch die Glocke aufgezogen worden, da bat der Glockengießer flehentlich: ob sie nicht noch geläutet werden dürfte, er möchte ihre Resonanz auch wohl hören, da er sie doch zugerichtet hätte, wenn er die Ehre vor seinem letzten Ende von den Herren haben könnte. Die Obrigkeit ließ ihm willfahren, und seit der Zeit wird mit dieser Glocke allen armen Sündern, wenn sie vom Rathaus herunterkommen, geläutet. Die Glocke ist so schwer, daß, wenn man fünfzig Schläge gezogen hat, sie andere fünfzig von selbst gehet.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 125

General wallenstein
27.01.04, 19:43
VOM STEINERNEN KOPF AUF DEM DOMTURME ZU BRESLAU

Ein Goldschmiedegesell hatte um die Hand der Tochter seines Meisters angehalten, war aber abgewiesen worden. Aus Verzweiflung darüber wurde er Wegelagerer und Räuber. Als solcher hatte er Glück. Er entging stets den Häschern und kehrte nach längerer Zeit, reich beladen mit Schätzen, in seine Heimat zurück. Hier begehrte er aufs neue die Hand des schönen Töchterleins des Goldschmiedes. Wieder ward sie ihm verweigert.

Wutschnaubend ging er zu seinem Verwandten, dem Turmwächter am Dom. Bei Nacht aber schlich er unbemerkt bis zum Hause des Goldschmieds, zündete es an und kehrte zum Turmwächter zurück.

Neugierig schaute er von dem hohen Turme durch einen engen Spalt nach dem Brande. Je höher er stieg, um so größere Freude empfand er. Aber plötzlich ward ihm ganz eigen zumute. Sein Kopf schien zu schwellen. Und richtig! Wie er versuchte, ihn wieder zurückzuziehen, gelang es ihm nicht. Wie sehr er auch um Hilfe schrie, niemand kam, ihn zu retten, da ja das Feuer, das er entflammt hatte, die Aufmerksamkeit der ganzen Stadt gebannt hielt. Und er starb den elenden Erstickungstod.

So erhielt der Wegelagerer und Brandstifter seinen verdienten Lohn.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 4

General wallenstein
27.01.04, 19:45
DER JUNGFERNSEE BEI BRESLAU

Der Jungfernsee liegt bei dem Dorfe Kottwitz unfern Breslau am linken Ufer der Oder. Wegen seiner mannigfachen Reize wird er viel von Breslauern aufgesucht, die sich gern an seinen waldigen Ufern ergehen. In der Mitte des weitausgedehnten Sees befindet sich etwas wie eine kleine Insel aus Schilf. An ihr zu landen, ist nicht möglich, weil kein fester Grund zu finden ist, worauf der Fuß ruhen könnte.

Wie dieser Jungfernsee zu seinem Namen gekommen ist, berichtet eine alte Sage. Sie erzählt von drei schönen Jungfrauen, die sich, ihre Schönheit zu erhöhen, gern schmückten. Aber sie glaubten, den lieben Gott nicht nötig zu haben, waren sie doch viel von jungen Liebhabern umworben. In die Kirche gingen sie selten oder gar nicht; denn sie hielten die Zeit, die sie in der Kirche zubrachten, für verloren. Nur dem Vergnügen huldigten sie. Namentlich der Tanzleidenschaft ergaben sie sich mit ungebändigter Gier.

Eines Tages wurden sie von ihren Eltern aufgefordert, zum Gottesdienste zu gehen. Um dem beständigen Drängen der Ihren zu entgehen, zogen sie ihre Feiertagskleider an und versicherten, in die Kirche gehen zu wollen.

Aber sie suchten nicht die Kirche auf, sondern begaben sich auf die Wiese zum Tanze, wohin sie ihre Verehrer bestellt hatten.

Wie sie so ungebändigt tanzten und sich in feurigem Wirbel drehten, öffnete sich auf einmal die Erde unter ihnen, Wasser quoll hervor und zog die Tanzenden in ihr nasses Grab. Seitdem ward nichts mehr von den Jungfrauen gesehen.

An der Stelle, wo sie im Wasser versanken, wuchsen gewaltige Schilfpflanzen aus der Tiefe hervor, ihr Grab zu decken. Wenn es jemand vermöchte, diese Schilfpflanzen mit der Wurzel aus ihrem feuchten Grunde zu reißen, dann könnte er die Jungfrauen von ihren Qualen im Jenseits befreien.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 5

General wallenstein
27.01.04, 19:46
DER DOPPELGÄNGER

Ein Breslauer Arzt hatte einst ein merkwürdiges Erlebnis. Am späten Abende kam er von seinen Krankenbesuchen nach Hause. Da sah er, wie ihm gegenüber auf der Straße ein Mensch schritt, der ihm vollständig glich; denselben Hut und Mantel trug er und hielt auch mit ihm stets gleichen Schritt. Was er auch tat, alles äffte er ihm nach. So kamen sie bis zur Wohnung des Arztes. Die Gestalt ging auf die Haustür zu, schloß sie auf und wieder zu und stieg, nach dem Geräusche zu urteilen, die Treppe hinauf. Oben angekommen, zündete sie Licht an. Der Arzt aber ging nicht in das Haus, sondern kletterte auf einen Baum, der gegenüber dem Fenster stand und sah, wie seine Wirtin ins Zimmer trat, mit der Gestalt unbefangen plauderte, das Abendbrot auftrug und wie jener endlich sich zu Bett begab und das Licht auslöschte.

Jetzt rannte der Arzt zu einem nahewohnenden Freunde, erzählte ihm alles und blieb über Nacht bei ihm. Am folgenden Morgen klopfte es bei diesem Freunde. Die Wirtin des Arztes erschien und jammerte: „Um Gottes Willen, denken Sie doch, der Doktor ist erschlagen. Die Decke ist in der Nacht heruntergebrochen und auf das Bett gefallen!" Sie glaubte allen Versicherungen des Freundes nicht und sagte: „Ich habe ihn doch noch gestern abend gesprochen!" Endlich erschien der Totgeglaubte, und nun ging man in seine Wohnung, um den Fall aufzuklären. Besonders forschte man danach, wer der Mann gewesen sein mochte, der sich gestern abend in des Doktors Gestalt schlafen gelegt hatte. Man räumte die Trümmer der Decke fort und fand — ein leeres Bett.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 6

General wallenstein
27.01.04, 19:47
DIE DREISTE MAGD HAT VIEL GEWAGT

Am Marktplatze zu Brieg befand sich am Beginn des 19. Jahrhunderts ein Haus, über dessen Haustür ein Gemälde war, das eine Magd auf einem Schimmel sitzend darstellt, die vom Galgen nach der Stadt flieht, darunter die obigen Worte als Unterschrift. Die Veranlassung zu diesem Bilde gab folgender Vorfall:

Im Anfange des 17. Jahrhunderts war dieses Haus eine Weinschenke. Eines Abends unterhielt sich eine größere Anzahl von Gästen über allerlei Spuk und Gespenster. Die Magd des Hauses aber erklärte, sie fürchte sich nicht vor solchen Dingen. Da gab ihr der Scharfrichter den Schlüssel zum Galgen, sie solle seine dort vergessenen Handschuhe holen, sonst sei sie eine Prahlerin.

Sie machte sich sofort auf den Weg und ereichte den Galgen um Mitternacht. Sie fand zu ihrer Überraschung die Tür des Galgens schon geöffnet. Aber gleichwohl schritt sie hinein und fand des Scharfrichters Handschuhe. Dabei entdeckte sie mancherlei Gegenstände, die auf die Anwesenheit einer Räuberbande schließen ließen, aber sie sah keinen Menschen.

Beim Hinaustreten fand sie einen reichbeladenen Schimmel, der vorher nicht dagewesen war. Rasch schwang sie sich auf seinen Rücken und trabte, so schnell sie konnte, dem Stadttore zu. Aber nur einige hundert Schritte weit war sie gekommen, als sie sich verfolgt fühlte. Todesangst ergriff sie; denn der Verfolger war dicht hinter ihr her. Dennoch gelang es ihr, das Tor zu erreichen.

Einige Tage darauf — es war gerade Sonntag, und alle Leute waren in der Kirche — traten zwei vornehm gekleidete Herren in die Schenke, wo das Mädchen allein war. Sie verlangten Wem. Von einer dunklen Ahnung ergriffen, daß dies die Räuber seien, stieg sie in den Keller hinab. Plötzlich hörte sie Fußtritte hinter sich. „Halt, Kanaille!" rief eine Stimme. Rasch blies sie das Licht aus und wußte in dem ihr wohlbekannten Keller den Ausgang zu finden, ehe die beiden Verfolger sich zurechtfanden. Sie warf die Tür zu, verrammelte sie und erstattete sogleich Anzeige bei der Obrigkeit. Die Räuber wurden festgenommen und genötigt, ihre Mitschuldigen anzugeben. Die ganze Bande wurde hingerichtet.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 7

General wallenstein
27.01.04, 19:48
WIE BRESLAU VOR DEM ANSTURM DER TARTAREN GERETTET WURDE

Im Jahre 1241 kamen die wilden Horden der Tataren nach Schlesien. Sie richteten fürchterliches Unheil an; sie raubten, plünderten, sengten, mordeten. Kein Wunder darum, daß sich der Bewohner Schlesiens eine große Angst bemächtigte, und daß sie sich in die Wälder flüchteten, sobald sie hörten, daß die grausamen, mord- und raublustigen Scharen sich ihren Ansiedlungen näherten. Auch bis Breslau drangen die wilden Völkerschaften der Tataren vor. Hier ließen sie sich vor den Toren der Stadt nieder und wandten alle Künste an, sich der Stadt zu bemächtigen. Die Bürger Breslaus fürchteten das Schlimmste. Da verließen sie auf den Rat des Dominikanerpaters Eseslaus die Stadt und verschanzten sich auf der festen Kreuzburg. Die Oderbrücke brachen sie hinter sich ab.

Die Tataren folgten ihnen auf dem Fuße und gelangten bis an die Oder. Der Fürst der Tataren forderte nun die Bürgerschaft auf, sich zu ergeben. Aber, ermutigt durch die Predigten des Paters Eseslaus, gaben sie seiner Aufforderung nicht nach und leisteten heldenmütigen Widerstand.

Da schwur der Tatarenfürst, daß er keines Bürgers Leben schonen werde, und gab den Befehl, den Fluß zu durchschwimmen. Aber die Tataren kamen nicht weit. Denn jenseits der Stadt stand Eseslaus, ermutigte die verängstigten Bürger, auszuhalten und auf Gott zu vertrauen, und forderte sie schließlich auf, sich auf die Knie niederzuwerfen und den allmächtigen Gott um Hilfe in der Not anzuflehen. Und siehe, wie der Hilferuf gen Himmel drang, öffnete sich der Himmel, es regnete Feuer hernieder, und die Tataren mußten, entsetzt ob dieser furchtbaren Erscheinung, umkehren und waren froh, als sie die rauchenden Trümmer der brennenden Stadt hinter sich hatten. Einige der Tataren aber waren von diesem seltsamen Ereignis so erschüttert, daß sie sich heimlich taufen ließen.

In der ältesten Kirche der Stadt Breslau, der St. Martinskirche, ist diese wunderbare Errettung der Breslauer aus der Gewalt der Tataren auf einem Gemälde dargestellt.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 8

General wallenstein
27.01.04, 19:49
DER TARTAREN RACHEZUG

Was wollt ihr aber hören,
Was wollt ihr, daß ich sing'?
Von der Tatarprinzessin schön,
Wie's der zu Neumarkt ging.

Nach Breslau in Schlesien
Eine große Reise sie macht';
Nach Neumarkt kam sie gefahren
Und blieb allda zur Nacht.

Da sprach der Wirt zum andern:
„Eine Heidin wohnt bei mir.
Sie hat viel Gold und Edelstein;
Die laß ich nicht von hier.

Gute Nacht, Prinzessin, schöne,
Ihr lebt nicht bis zum Tag!" —
Und wandte sich behende,
Gab ihr den Todesschlag.

Und all ihr Hofgesinde
In tiefem Schlaf er fand,
Und würgte sie groß und kleine
Mit seiner eignen Hand.

Mit seinen eignen Händen
Begrub er allzumal
Gar tief im kalten Keller,
Ihr Geld und Gut er stahl.

Er zeigte drauf den andern
Seine Hand von Blut so rot,
Von Gold und Edelsteinen
Die Hälfte er ihnen bot.

Die nahmen sie so gerne
Und schwiegen von der Tat.
Doch was nicht früh wird gerächet,
Das straft' der Himmel spat.

Der Tatarfürst, der hörte:
Zu Neumarkt ist Euer Kind
Gemordet und beraubet arg;
Den Körper man noch find't.

Da rief er seinen Haufen:
„Auf, nehmet Spieß und Schwert!
Nach Schlesien wollen wir ziehen,
Es ist des Ziehens wert!"

So kamen sie in Scharen
Ins ganze Schlesierland
Und sengten, brannten und stahlen;
Der Welt ist's wohlbekannt.

Der Fürstin Tod zu rächen,
Bei Wahlstatt ging es trüb',
Zu Ehren der Heidenprinzessm
Ein christlicher Herzog blieb.

So ward am Land gerächet,
Was Neumarkt hat getan. —
Herr, Gott, mich selbst regiere,
Fang ich allem was an!

Volkslied

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 9

General wallenstein
27.01.04, 19:50
DAS OHRENFEST ZU WAHLSTATT

Wenn am Sonntag nach dem 9. April die Scharen nach Wahlstatt eilen, dort den Kriegssonntag zu feiern, erwarten sie, daß ihnen neun Säcke mit den abgeschnittenen Ohren der einst in Gefangenschaft geratenen Christen gezeigt werden. Diese Erwartung gründet sich auf folgende Sage:

Als am 9. April des Jahres 1241 auf der Ebene bei Wahlstatt die Mongolenschlacht geschlagen ward, in der Herzog Heinrich II., der Sohn der heiligen Hedwig, fiel, gebärdeten sich die Hunnen als ein äußerst grausames Volk und schnitten allen Christen, die das Unglück hatten, in ihre Gefangenschaft zu geraten, die Ohren ab. Diese steckten sie sodann in große Säcke. Neun solcher Säcke füllten sie damit. Diese neun Säcke beabsichtigten sie, dem Khan Batu, ihrem Oberbefehlshaber, zu senden, damit er sich von ihrer Tapferkeit überzeugen könne und eine Ahnung von der großen Niederlage bekäme, die sie den Christen beigebracht hatten. Diese neun Säcke sollen jedoch den Oberherrscher nicht erreicht haben. Darum müssen sie noch in Wahlstatt zu finden sein.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 10

General wallenstein
27.01.04, 19:51
DER FÜRST VOM MONGOLENLANDE AM KOISCHWITZER SEE

Nach der für sie wohl siegreichen, doch auch blutigen Schlacht, die ihnen viele Opfer abgefordert hatte, zogen die Mongolen nach dem Liegnitzer Piastenschlosse, belagerten es und wollten es zur Übergabe zwingen. Aber all ihre Anstrengungen scheiterten an der Tapferkeit der Belagerten. Es gelang ihnen nicht, das Schloß zu erobern. Als sie nach großen Verlusten an Menschenleben das Vergebliche ihres Bemühens einsahen, zogen sie in der Richtung über Koischwitz, bei welchem Orte ein See liegt, ab. In den See warfen sie wutentbrannt das Haupt Herzog Heinrichs II., das sie auf einer Stange ihren Heerhaufen vorangetragen und höhnend den Verteidigern des Liegnitzer Schlosses gezeigt hatten. Doch soll das Haupt dort unten im See nicht dauernd liegen. Dereinst wird ja ein großer morgenländischer Fürst mit großer Heeresmacht nach Schlesien kommen, und die Rosse der Mannen werden das Wasser des Sees austrinken. Dann wird das unversehrte Haupt des bei Wahlstatt gefallenen Sohnes der heiligen Hedwig unversehrt wieder zum Vorscheine kommen.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 11

General wallenstein
27.01.04, 19:52
DIE RABENDOCKEN BEI GOLDBERG

Vor alter Zeit stand in der Nähe von Goldberg, dort wo die Felsgruppe der Rabendocken drohend ins Land blickt, eine Burg. Der Besitzer derselben war ein böser, gottverlassener Mann, dessen Gedanken nur auf Raub und Mord gerichtet waren. Oft schaute er von dem hohen Wartturme ins Land hinaus, um zu erspähen, wo sich eine passende Gelegenheit fände, sein grausam Handwerk auszuüben. Dadurch erregte er den Grimm eines gewaltigen Zauberers. Als dieser den räuberischen Ritter auf hoher Burgzinne sah, verwandelte er ihn in Stein. Das ist die Felsgruppe der Rabendocken.

In der Christnacht nun öffnet sich seit jener Zeit in mitternächtlicher Stunde eine Pforte; diese gibt den Weg in das Innere der ehemaligen Burg frei. Unermeßliche Schätze liegen darin noch heute verborgen. Wer rechtzeitig in die Burg Einlaß sucht, kann diese Schätze heben. Er muß sich aber beeilen und darf in ihr nicht zu lange weilen. Denn um ein Uhr nach Mitternacht schließt sich das Tor. Hat er es zu dieser Stunde nicht hinter sich, so bleibt er zeitlebens in der Burg eingeschlossen und sieht nie mehr das Licht der Sonne wieder.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 12

General wallenstein
27.01.04, 19:53
DER SCHWARZE CHRISTOPH

Im Goldberger Kreise, eine halbe Meile nördlich vom Gröditzberge, im Dorfe Nieder-Alzenau, hatte der schwarze Christoph seine Burg. Er war aus dem Geschlecht von Reisewitz. Den Übernamen verdankte er seinen schwarzen Haaren. Mit seinem Namen scheuchten die Mütter die Kinder; denn er war ein in Schlesien gefürchteter Raubritter. Besonders diente ihm der der Stadt Goldberg gehörige Hainwald zum Aufenthalt. Hier überfiel er die Kaufleute. Große Achtung hatte er allein vor Gelehrten. Er verschonte sie fast immer; jedoch mußten sie sich ihm als solche erst ausweisen, indem sie eine Feder schnitten oder eine Zeile schrieben.

Viele Edelleute hielten zu ihm, und auch der Herzog Friedrich II. nahm über die Zeit Rücksicht, bis ihn die Goldberger Bürger in seiner Burg während eines nächtlichen Festes überfielen, nach blutigem Kampfe banden und einlieferten. Der Herzog verurteilte ihn schließlich, und man hing ihn und einen Knecht, beide in weißen Hemden, den Herrn zum Unterschiede mit Sporen an den Stiefeln, in Liegnitz an den Galgen. Wie er zur Richtstätte geführt ward, sagte er: „Hätte ich daran gedacht, was David im Psalter sagt: Verlaßt euch nicht auf Fürsten, sie sind Menschen und können nicht helfen, so ständen meine Sachen besser." Als man seinen Knecht, einen anständigen Menschen, henken wollte, bat dieser: Liebe Herren, schont doch meiner. Ich will euer treuer Diener sein, auch fleißig arbeiten, und wo mir dieses nicht helfen sollte, will ich sogar ein Weib nehmen. Denn das hielt er für eine schwerere Arbeit als Holz hauen und Steine tragen. Aber alles nützte ihm nichts; er mußte an den Galgen.

Das Angedenken des Ritters ist heute noch lebendig. Du leugst wie der schwarze Christoph! hieß es von einem argen Lügner.

Sein Raubschloß in Alzenau ist versunken; ein Erlicht bezeichnet die Stelle, an der es stand; noch heute ist es dort nicht geheuer. In der Sternburg bei Bunzlau, deren Stille kein Vogel stören darf, konnte man noch in den sechziger Jahren das aufrechtstehende Denkmal eines Ritters erblicken, in welchem das Volk den schwarzen Christoph erblicken wollte.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 13

General wallenstein
27.01.04, 19:54
DIE VERFLUCHTEN STIEFEL

Es war in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Da hatte ein Buttlerscher Dragoner einem Schuster in Lauban ein Paar Stiefel geraubt. Ergrimmt über den frechen Raub, verfluchte der Schuster die Stiefel und sprach: „So wollt' ich doch, daß derTeufel die Stiefel regieren sollte, daß sie ewig herumirren müßten." Der Dragoner gab nichts auf diesen Fluch. Er lachte nur dazu und zog die Stiefel an. Aber es geschah, daß diesem Dragoner bei Lützen beide Beine weggeschossen wurden. Und siehe da, beide Beine irrten nun mit den Stiefeln ruhelos umher. Am dritten Tage sind sie am Steinberge herumlaufen gesehen worden. Sogar noch viele Jahre nachher haben sie Fuhrleute an einem 9. November gesehen. Einmal wurden von ihnen sogar zwei Kinder umgerannt.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 14

General wallenstein
27.01.04, 19:55
DIE GRÜNDUNG DES KLOSTERS TREBNITZ

Der edle Herzog Heinrich zu Pferd
Stürzt in den Sumpf gar tief,
Seines Lebens er sich schier verwehrt,
Als Gott seinen Engel rief.

Der Engel naht in Köhlertracht
Und trat zum Sumpf hinan
Und schnell dem Herrn ein Ästlein bracht':
„Da halt der Herr sich dran."

Und als der Herzog gerettet war,
Da kniet' er freudig hin:
„O Herr, wie ist es wunderbar,
Daß ich gerettet bin!

Und bin ich denn gerettet nun,
Bau' ich ein Kloster dir,
Daß man dir dien' in Fried' und Ruh
Auf diesem Flecklein hier."

Das Kloster war so schön gebaut,
Des freut' sich, wer es sah,
Und manche fromme Gottesbraut
Kam hin von fern und nah.

„Was begehrt ihr edle Jungfrau'n mehr?"
Der Herzog fragt sie dann.
„Wir bedürfen nichts und nimmermehr,
Dieweil wir alles ha'n."

„Und weil euch denn nichts not mehr ist,
So sei denn dieser Nam'
Trebnitz!" Das hieß, wir bedürfen nichts;
Den Namen es bekam.

Aus „Des Knaben Wunderhorn"

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 15

General wallenstein
27.01.04, 19:56
HERZOG HANS I. VON SAGAN UND DER ABT

Herzog Hans I. von Sagan war ein gar wüster und grausamer Gesell. Einmal trat der Abt des Augustinerklosters vor ihn und hielt ihm eine scharfe Bußpredigt. Herzog Hans aber lachte nur, wies auf den neuen Turm und sagte: „Pfaffe, wenn dieser starke Kirchturm einfällt oder eine wilde Gans allein fliegen wird, will ich dir glauben." Danach ließ er ihn blenden.

Kurz darauf, am 12. Februar 1439, geschah es, daß der feste Kirchturm ohne Ursache und Anlaß zusammenstürzte, niemanden aber verletzte als den Wächter, der einen lahmen Fuß davontrug. Der humpelte eilig zum Herzog und verkündete ihm das Unglück. Der Herzog geriet in große Angst und befahl, seinen Wagen anzuspannen, um wegzufahren. Als er noch einmal zum Fenster hinausrief, daß man eilen solle, sah er eine wilde Gans fliegen. Darüber erschrak er aufs heftigste. Furcht und Angst machten ihn krank. Der Pater Martin besuchte ihn und vollendete, was der Turm angefangen hatte. Bittere Tränen vergoß der Herzog um seine Taten. Da erschien der Satan und sagte zu ihm: „Sieh, du Feiger, hast du dich losgemacht mit deinem Weinen?"

Sonntag nach Ostern starb der Herzog und ward in der Saganer Klosterkirche begraben, und zwar nach seinem Begehren in der Mitte der Kirche, damit die Geistlichen, die er im Leben so sehr beleidigt hatte, ihn mit den Füßen treten möchten.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 16

General wallenstein
27.01.04, 19:57
DER ARME SÜNDER ZU SPROTTAU

In Sprottau sollte einst ein armer Sünder abgeurteilt werden. Da aber die Hinrichtung zur Sommerszeit getroffen hätte, wo das Getreide noch auf dem Felde stand, so verschob man sie bis nach der Ernte, damit das Korn um den Richtplatz nicht zertrampelt werden möge. Dieser Aufschub jedoch verursachte wieder neue Kosten; denn der arme Sünder mußte bis dahin verpflegt werden.

Um diese Ausgaben zu ersparen, kam man auf den Einfall, den armen Sünder vorzurufen und ihm das Versprechen abzunehmen, daß, wenn er auf freien Fuß gestellt würde, er zu einer bestimmten Zeit nach der Ernte sich wieder einstellen und seine Strafe erleiden wolle. Dieses Versprechen ward von dem Sünder mit Freuden gegeben, und er ward frei.

Als der bestimmte Tag, an dem er wieder erscheinen und seine Hinrichtung erfolgen sollte, herangekommen war, hatte diese Kunde viel neugierige Zuschauer aus der Umgegend auf den Weg gelockt, um bei der Hinrichtung gegenwärtig zu sein. Auch der arme Sünder hatte seinem Versprechen gemäß die Reise nach der Stadt Sprottau angetreten und des Morgens sehr frühe sich unter die Zuschauer gemischt.

Als er bemerkte, daß sie schnell liefen, sagte er wider sie: „Eilt doch nicht so sehr! Wenn ich nicht dabei bin, wird aus der ganzen Sache nichts." — Dann setzte er seinen Weg bis zu einem Sprottauer Tore fort und fand es bei seiner Ankunft noch verschlossen. Er zog die Klingel, um den Wächter auf dem Torturme aufmerksam zu machen, er möge das Tor aufschließen. Als dieser nun zum Fenster herunterfragte, wer da wäre, gab er zur Antwort: „Der arme Sünder von der Sprotte!" Darauf kam der Wächter sogleich herunter, um das Tor zu öffnen, aber beim Herabkommen traf er den Angemeldeten nicht mehr an. Durch dieses Erscheinen und Anmelden hatte der Sünder ja das gegebene Wort bereits gelöst.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 17

General wallenstein
27.01.04, 19:58
WINZIGER WEIN

Als zur Weinlese eines Nachts sämtliche Trauben die Beute eines Fuchses geworden waren und er daran verenden mußte, verfielen die Winziger auf einen klugen Gedanken. Sie verlangten nämlich vom Rat die Abschaffung des Galgens; denn, so sagten sie, statt einen zu hängen, ist es besser, ihm ein Glas Winziger Wein zu geben. Das töte ihn ebenso sicher.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 18

General wallenstein
27.01.04, 20:00
DIE ZWEI LILIEN AM WUNZENTEICHE

Auf dem Wunzenteich unfern Pfördten in der Niederlausitz sieht man zuweilen in der mittägigen Zeit zwischen Pfingsten und der Johannisnacht zwei Lilien sich erheben und allgemach im Wasser wieder versinken. Wie diese Lilien auf den Wunzenteich gekommen sind, darüber erzählt man sich in dieser Gegend folgendes:

Etwa um das Jahr 900 nach Christi Geburt wohnten in der Niederlausitz die heidnischen Wenden. Die christlichen Glaubensboten aus Deutschland gaben sich die erdenklichste Mühe, diesen Volksstamm zum Christentum zu bekehren. Manchen Erfolg konnten sie aufweisen. Aber viele von den Wenden verharrten im Heidentum und vertrieben oder töteten gar die christlichen Missionare.

Zu den grausamsten Gegnern des Christentums zählte der Ritter Udo von den Wunzen. Da schickte der Frankenkönig ein Heer in das Wendenland und gab den Befehl, sich unter allen Umständen dieses gefährlichen Christenfeindes zu bemächtigen. Die fränkischen Mannen drangen tief ins wendische Gebiet hinein. Aber der Kampf war für sie sehr schwierig, da sie das Wendenland mit seinen weit ausgedehnten Sümpfen, Morästen und unwegsamen Wäldern zu wenig kannten. Für die Wenden hingegen war es ein leichtes, die fränkischen Ritter in die Irre zu führen. Diese bemühten sich, des Königs Befehl nachzukommen. Aber trotz all ihrer Anstrengungen wurden sie nur des einzigen Sohnes Udos, namens Adalbert, habhaft. Der Vater selbst entkam in das Gebiet der Sümpfe.

Adalbert ward in die Gefangenschaft abgeführt. Udo aber ließ sich sofort nach dem Abzüge der Fränkischen Ritter in dem Morast und Gestrüpp des Wunzenteiches ein festes Schloß bauen. Um das Schloß wucherte wildes Gestrüpp. Durch dieses ließ Udo Irrwege legen, die scheinbar den Ankommenden dem Schlosse zuführten, ihn aber in Wirklichkeit nur weiter vom Schlosse wegleiteten und schließlich in Sümpfen endeten, wo jeder, der die Wege ging, elend ums Leben kommen mußte.

Sowie die gesamte Anlage fertig war, ließ Udo im Lande verkünden, er wolle Christ werden. Darauf kamen mancherlei Glaubenshelden zu ihm, aber alle fanden in den Irrwegen, die das Schloß umgaben, einen furchtbaren Tod.

Adalbert, sein Sohn, diente inzwischen bei dem Ritter Hans von Sährichen. Dieser, wie seine Gemahlin Thusnelda und seine liebliche Tochter Elfriede, waren Christen der Tat. Sie behandelten ihre Untergebenen, wie es Christus befohlen hatte, mit Liebe und schätzten sie als Menschen und Ebenbilder Gottes sich durchaus ebenbürtig. Adalbert dachte oft in geruhsamen Stunden darüber nach, woher sein Herr und seine ganze Familie eine solch edle Gesinnung haben konnten. Er verglich unwillkürlich die Behandlung, die er erfuhr, mit der, die den Gefangenen in seiner Heimat widerfuhr, und kam zu der Überzeugung, daß dies einzig auf den Einfluß der christlichen Religion zurückgeführt werden könne. Einer solchen Religion, die die Menschen beglückt und die Untergebenen nicht unterjocht, mochte auch er sich zuwenden. Darum bat er seinen Herrn, ihn in den Lehren des Christentums unterweisen zu lassen. So wurde er Christ.

Hierdurch wurde er der Familie des Ritters Hans von Sährichen immer inniger verbunden. Dieser erinnerte sich der Herkunft des jungen Mannes aus ritterbürtigem Stamme, und da Adalbert in seinem ganzen Auftreten bei aller Bescheidenheit etwas Ritterliches zeigte, ward er später zum Ritter geschlagen, und der Ritter Hans von Sährichen gab ihm sogar seine Tochter zur Gemahlin.

Nur eines fehlte Adalbert noch zu seinem Glücke: Er sehnte sich, seinen Vater wiederzusehen. Wie verlangte es ihn, wieder einen Blick in seine geliebte Heimat tun zu können! Mit allen Fasern seines Herzens hing er ja an Vaterhaus und Heimat.

Wie als ob seine Gedanken den Weg bis zum Vater im fernen Wendenlande gefunden und sich dort in dessen Seele gefangen hätten, dachte auch der Vater gerade in dieser Zeit öfter als sonst an seinen einzigen Sohn. Einst, als er so in Gedanken versunken auf seinem Lehnstuhl am Fenster seines Wohngemaches saß, kam sein treuer Diener Bodo ins Zimmer. Er erriet den Grund der Trübseligkeit des alten Herrn, waren doch auch seine Gedanken oft auf den jungen Herrn und Erben des Schlosses gerichtet, und er begann von Adalbert zu sprechen. Da äußerte Udo den Wunsch, seinen Sohn vor seinem Tode noch einmal zu sehen. Aber wo mochte er nur sein? Nun erbot sich Bodo, auf die Suche nach Adalbert zu gehen.

Sein Bemühen hatte Erfolg. Nach Verlauf einer längeren Zeit hatte Bodo den Aufenthalt des jungen Herrn ausgekundschaftet. Er trat vor ihn und merkte zu seinem Entsetzen, daß Adalbert Christ geworden sei, ja, daß er sogar eine christliche Gemahlin hatte. Darob machte er dem Sohne seines Herrn bittere Vorwürfe. Dieser aber enthüllte ihm in aller Offenheit die Beweggründe, die ihn veranlaßt hatten, sich taufen zu lassen. Das machte auf Bodo einen solchen Eindruck, daß auch er bat, Christ werden zu dürfen und getauft zu werden.

Nun machten sie sich auf den Weg ins Wendenland. Als die drei in die Nähe des Schlosses gelangt waren, bat Bodo das junge Ehepaar, vorausgehen und den alten Ritter auf die Ankunft des Sohnes und seiner Gattin vorbereiten zu dürfen.

Bodo trat in das Gemach Udos, erzählte seinem Herrn von seinen Erlebnissen und auch davon, daß er und Adalbert Christen seien.

Das ergrimmte den alten Heiden. Er befahl, seinen Diener Bodo grausam zu martern und umzubringen. Andere Diener schickte er zu seinem Sohne und ließ ihn bitten, zu ihm zu kommen. Den Dienern aber gab er den geheimen Auftrag, Adalbert und Elfriede auf den Irrwegen ins Verderben zu führen.

Das geschah. So mordete der verbohrte Heide seinen unschuldigen Sohn und seine herzensreine Schwiegertochter.

Aber diese Grausamkeit und unmenschliche Handlungsweise rächte der Himmel. Ein fürchterliches Unwetter, wie man es bisher in jener Gegend noch nie erlebt hatte, erhob sich. Der Himmel verfinsterte sich. Furchtbare Regengüsse mit Hagel stürzten hernieder. Furchtbar rollte der Donner, und Blitze fuhren zerschmetternd m das Schloß, unter dessen Trümmern Udo begraben wurde.

Seitdem erscheinen die Seelen der engelreinen Kinder des verstockten Wüterichs als Lilien auf dem Wunzenteiche.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 19

General wallenstein
27.01.04, 20:01
DER SCHWARZE HUND IN GÖRLITZ

In Görlitz war bis vor wenigen Jahren an der Ecke der Juden- und Büttnergasse im Pflaster ein großes Abzugsloch. Das hieß im Volksmunde das Hundeloch. Das kommt daher:

In der Weihnachtsnacht zwischen zwölf und ein Uhr spukt in Görlitz ein großer schwarzer Hund. Der kommt aus einem ähnlichen Wasserloche am Jakobshospital heraus, geht zum Frauentore hinein bis an jenes Loch, wo er verschwindet; aber nach einiger Zeit kommt er wieder zum Vorschein, um seinen Rückzug anzutreten. Wegen dieses Hundes ließen die Stadtsoldaten am Frauentore allemal in der Weihnachtsnacht das Pförtchen auf, weil sie sich fürchteten, ihn in seinem Wege zu hindern. Es war aber einmal ein beherzter Kerl unter ihnen, der fürchtete sich vor dem Teufel selber nicht, spottete über die Erscheinung und beschloß, dem Hunde entgegenzutreten. Es war ein sehr stürmischer Weihnachtsabend. Die ändern Soldaten blieben in der Wachtstube, er aber schloß sorgfältig die Pforte und stellte sich mit aufgestecktem Bajonett an der innern Seite derselben auf. Kaum hatte es zwölf Uhr geschlagen, da kam der Hund, groß, schwarz und zottig, und als er das Tor nicht geöffnet fand, schüttelte er sich zornig und machte so große feurige Augen, daß es erschrecklich anzusehen war. Plötzlich aber setzte er mit einem gewaltigen Sprunge über das hohe Gitter hinweg. Die Soldaten in der Wachtstube hörten ein furchtbares Schnauben und Poltern, dann war alles still. Wie sie endlich hinausgehen, finden sie ihren Kameraden leblos im Schilderhause. Seine Flinte aber war zusammengedreht wie eine Schraube. Als der Soldat erwachte, erzählte er, was ihm begegnet war. Er ist aber nicht wieder gesund geworden und schon nach drei Wochen gestorben.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 20

General wallenstein
27.01.04, 20:02
DIE GROßE LINDE AUF DEM NIKOLAIKIRCHHOFE ZU GÖRLITZ

Die Görlitzer Schoppen übten strenge Gerechtigkeit und henkten manchen bei der Wegelagerung betroffenen Stegreifritter an den lichten Galgen. Einst hatten sie einen armen Knappen gefangen und zum Tode verurteilt; denn wenn er auch seine Unschuld behauptete, so preßten ihm doch die Daumenschrauben und die Streckbank das Geständnis eines Verbrechens aus, das er nicht begangen hatte. So wurde er denn an einem schönen Morgen hinausgeführt, um gehenkt zu werden. Als er nun am Nikolaikirchhofe vorbeikam, wo seine ehrbaren Eltern begraben lagen, ward es ihm sehr wehe im Herzen, daß er eines so unehrlichen Todes sterben sollte, obwohl er unschuldig war, und gedachte ein Zeichen zu hinterlassen, woran man wenigstens nach seinem Tode seine Unschuld erkennen möchte, bat also den Henker, ihm zu erlauben, daß er am Grabe seiner Eltern noch ein Ave-Maria und ein Paternoster beten dürfe. Das gewährte der Henker dem armen Knappen und ließ ihn von seinen Knechten zu dem Grabe geleiten, auf welchem ein junges Lindenbäumchen stand. Nachdem nun der Verurteilte sein Gebet verrichtet hatte, riß er das Lindenbäumchen aus und pflanzte es umgekehrt wieder ein, so daß die Wurzeln als Zweige nach oben gerichtet, die Zweige aber als Wurzeln mit Erde bedeckt wurden, und sagte dabei: „So gewiß wie dies Bäumchen aus den Zweigen Wurzeln und aus den Wurzeln Zweige treiben und emporwachsen wird zu einem mächtigen Baume, so gewiß habt ihr mich unschuldig zum Tode verdammt."

Und siehe! Das Bäumchen wuchs und wurde ein mächtiger Baum, der seine schattenden Zweige weithin über den Friedhof verbreitet, bis auf den heutigen Tag.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 21

General wallenstein
27.01.04, 20:03
DER NACHTSCHMIED IN GÖRLITZ

In Görlitz lebte einst ein Schmied; der war sehr fleißig und geschickt und deshalb geachtet und gesucht; nur stand er in dem Rufe, auf Kirche und Glauben nicht viel zu halten. Lange lebte er unbescholten, bis einst ein Knecht zu ihm kam, baumstark, rothaarig, einäugig und lahm, der aber durch Gehorsam, Genügsamkeit, Fleiß und Geschicklichkeit sich bei ihm einschmeichelte, so daß er ihn als seinen Gesellen annahm. Ja, er wurde ihm bald unentbehrlich, indem er alle Arbeit in unglaublich kurzer Zeit verrichtete. Da des Meisters Gegenwart in der Werkstätte überflüssig erschien, ergab er sich der Untätigkeit, dem Spiele und dem Trunke. Zuletzt brachte die Arbeit des fleißigen Knechtes kaum so viel ein, als der Meister durchbrachte.

Eines Abends kam ein Junker in schwarzer Tracht, auf schwarzem Rosse, ein schwarzes Barett mit roter Hahnenfeder auf dem Kopfe, vor die Schmiede geritten. Der bestellte ein eisernes Gitter um eine Gruft für einen sehr hohen Preis, verlangte aber, daß es unbedingt bis Mitternacht des dritten Tages fertig sein müßte. Dafür wollte er die Hälfte vorausbezahlen. Halb trunken vom Gelage, lacht der Meister zuversichtlich: „Dafür will ich wohl Leib und Seele verpfänden, daß zur Zeit alles fertig wird." Der Junker aber erwidert: „Wenn Ihr das tut, wird Euch der vierfache Preis zuteil werden." Von Habsucht geblendet, unterschreibt der Meister mit seinem Blute die Bedingung und sieht mit Erstaunen das Gold richtig bezahlt vor sich liegen. Doch der Junker ist verschwunden.

Der Leichtsinnige vergißt bald, was geschehen ist und kehrt zum Gelage zurück. Am Morgen erzählt er seinem Knechte die Sache und heißt ihn sogleich ans Werk gehen. Dieser lacht höhnisch: „Das hättet Ihr getrost an einem Vormittag zu liefern Euch verpflichten können." Völlig beruhigt geht der Meister weg und verpraßt das im voraus empfangene Geld. Erst am dritten Nachmittag fällt ihm ein, nach der Arbeit zu sehen. Er eilt in die Werkstatt; das Gitter ist bis auf einen einzigen Ring fertig, aber der Knecht ist verschwunden. Eiligst geht er selbst an den Amboß, um den fehlenden Ring zu ergänzen; aber vergeblich müht er sich. Alles Eisen, das der Hammer berührt, springt unter seinen Händen entzwei. Da merkt er, daß der Hölle Macht im Spiele ist. Entsetzen faßt ihn und treibt ihn bald von der trostlosen, hoffnungslosen Arbeit hinweg, bald mit verzweifelter Anstrengung wieder hin.

Der Knecht ist für immer verschwunden. Mitternacht erscheint. Mit dem ersten Glockenschlage öffnet sich die Erde und verschlingt den Meister, der jetzt dem Teufel verfallen ist. Seitdem ist er verdammt, so lange zu schmieden, bis der fehlende Ring am Gitter sein wird. Menschliche Macht aber kann ihn nicht erlösen; denn so oft Vorwitzige oder Fromme den fehlenden Ring am Gitter ersetzten, verschwand er von selbst m der Nacht, oder die Leute hatten keine Ruhe, bis der Ring wieder abgenommen war, wie es noch vor kurzer Zeit einem Schmiedegesellen namens Wende ergangen ist.

Darum muß der Schmied unter der Erde schmieden, und allnächtlich hören die Bewohner des Obermarktes, besonders des Hauses in der nordwestlichen Ecke, wo er gewohnt hat, sein Hämmern, bald in ruhigem, abgemessenem Takte, bald wieder in raschen, ungestümen Schlägen, wenn ihn über der Arbeit die Verzweiflung bemeistert. Zwar haben in neuerer Zeit Leute, die alles besser wissen wollen, in unterirdischen Gewässern die Ursache des dumpfen, hämmernden Geräusches finden wollen; aber man weiß, was man von solchen Sachen zu halten hat. Der Name des Schmiedes soll Volprecht gewesen sein.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 22

General wallenstein
27.01.04, 20:04
DIE WALLFAHRTSKIRCHE ZU HOCHKIRCH UND IHR MARIENBILD

Hochkirch, drei Viertelmeilen südöstlich von Glogau, ward in früheren Jahrhunderten, wo es zum benachbarten Gräditz gehörte, Hohenkirchen offen Berge genannt. Es hat eine Wallfahrtskirche mit 1856 neugebautem Turme und ein wunderbares Marienbild auf dem Hochaltare, zu dem von weit her aus Schlesien und Polen gewallfahrtet wird. Die größten Wallfahrten finden statt am Sonntage Trinitatis, wo auch eine Prozession von der Probstei Seitsch aus dem Guhrauschen ankommt, und dann am Feste Maria Geburt.

An die Kirche und das darin befindliche Muttergottesbild knüpft sich folgende Sage:

Als die Kirche vor uralten Zeiten erbaut werden sollte, hatte der Gutsherr eine andere Anhöhe in der Nähe derjenigen, auf der heute die Kirche steht, als Platz dazu bestimmt. Fromme Spenden waren zu ihrer Erbauung reichlich eingegangen, und der Gutsherr lieferte das Bauholz. Er ließ dieses auf die von ihm ausersehene Anhöhe schaffen. Die Geistlichen des Sprengeis wünschten sie zwar dort nicht, aber sie fügten sich, als der Gutsherr außer dem Bauholze noch reiche Gaben versprach. Dennoch kam es anders, denn es trat ein seltsames Ereignis ein.

Am andern Morgen nämlich war das Holz von der Anhöhe verschwunden. Erst dachte man an einen Raubfrevel, aber man fand das gesamte Holz in bester Vollständigkeit und Ordnung auf einem benachbarten Hügel. Der Gutsherr hielt dies für einen mutwilligen Streich und ließ das Holz auf den früheren Platz zurückschaffen und noch mehr dazubringen. Am andern Morgen war es wieder fort und lag wieder auf jenem ändern Hügel. Das brachte eine große Bewegung in der Gemeinde hervor, und viele gingen zum Gutsherrn und erklärten, das gehe nicht mit richtigen Dingen zu und sei ein Wunder, das etwas zu bedeuten habe. Aber der Gutsherr ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen, er wolle doch sehen, meinte er, ob das Holz zum dritten Male seinen Platz verändern werde. Der Herr ließ von seinen Leuten das Holz wieder zurückschaffen. Für die Nacht stellte er zwei Wächter daneben auf. Doch wieder lag es am nächsten Morgen auf dem ändern Berge. Die Wächter hatten nichts bemerkt und sagten aus, ein unwiderstehlicher Schlaf habe sie befallen. Nun stürmten alle auf den Gutsherrn ein, er möge doch gestatten, daß die Kirche dort gebaut werde, wohin schon in dreien Nächten das Bauholz von unsichtbaren Händen geschafft worden sei; es sei sicher Gottes Wille so. Da sagte der Gutsherr: „Nun in Gottes Namen, baut dorthin die Kirche zu seiner Ehre." Mit Jubel ward diese Entscheidung aufgenommen, und der Bau ward behende in Angriff genommen, schien es doch allen ein heilig Werk. Die Teilnahme für das Gotteshaus wuchs weit über den Sprengel hinaus. Die Kirche war fertig, auch die innere Ausschmückung war fast vollendet. Aber noch fehlte ein würdiges Bild für den Hauptaltar. Da griff wiederum eine wunderbare Macht ein.

In einer Nacht, als alle Einwohner Hochkirchs längst schliefen, rief der Wächter eben die Mitternachtsstunde aus. Zufällig schweifte sein Blick nach der Höhe hinauf, wo die Kirche stand. Wunderbar! Das Innere des Gotteshauses strahlte in hellem Lichterglanz. Es war keine Feuersbrunst, aber dennoch rief er die Bewohner aus ihrem Schlafe. Staunend scharte sich die ganze Gemeinde zusammen und wie zur ersten Wallfahrt geordnet schritt sie dem neuen Gotteshause entgegen. Schon war die Menge bis zum Fuße der Anhöhe gelangt, da ereignete sich ein zweites Wunder. Herrliche Töne erklangen aus der Kirche, bald schmelzend und bald brausend wie im vollen Chor, Posaunen und Orgelton und Priestergesang dazwischen, über dem ganzen schwebend aber ein Klang wie von Engelsharmonien. Wer waren die nächtlichen Musiker dort oben? Die Gemeinde sank am Fuße des Hügels auf ihre Knie und wohnte dem Gottesdienste dort oben in andächtiger Ferne bei. Das war das erste Hochamt, ehe noch das Gotteshaus die kirchliche Weihe erhalten hatte. Plötzlich erloschen Licht und Gesang; stumm und finster lag das Gebäude wieder auf seiner einsamen Höhe. Tief ergriffen aber kehrten die Leute zurück; was sich da oben zugetragen hatte, war ihnen ein unerklärliches Rätsel. Als aber der Morgen anbrach, sendete der Gutsherr den Gemeindevorstand in die Kirche, um den Ursachen des nächtlichen Geschehnisses nachzuspüren. Ganze Scharen von Menschen schlössen sich an, und als die Türe der Kirche geöffnet wurde und die Blicke auf den Hochaltar fielen, da prangte dort ein Bild der Mutter Gottes in schönster Farbenpracht. Das Staunen löste sich in ein still Gebet auf, das der wunderbaren Macht den heißen Dank der Gemeinde aussprach für die herrliche Gabe.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 23

General wallenstein
27.01.04, 20:05
DER WETTSTEIN BEI MARKLISSA UND DER TEUFELSSTEIN BEI SAGAN

Nicht weit von Marklissa, in der Gegend des Zangenberges, sieht man einen schön geäderten Quarzfelsen, der heißt der Wettstein, und die Marklissaer wissen auch warum.

Es ist einmal ein Prediger in Marklissa gewesen, ein sehr gelehrter und weitgereister Mann, der besonders von der Natur und ihren Geheimnissen mehr gewußt hat, als sich mit seinem heiligen Amte zu vertragen schien. Der hat auch den Teufel zitieren können und hat einmal mit ihm eine Wette gemacht: Der Böse sollte nämlich jenen Stein, den der Pastor in einem fernen Eande irgendwo gesehen hatte, während des Gottesdienstes herbeischaffen und vor Beendigung desselben vor die Kirchtüre setzen. Der Teufel hat's aber nicht gekonnt; denn als er mit dem Steine durch die Luft geflogen kam, hat er schon beim Zangenberge am Glockengeläute gehört, daß die Predigt zu Ende sei. Da hat er vor Ärger den Stein zur Erde geworfen.

Ein „Teufelsstein", der ebenfalls mit einer Wette in Verbindung steht, liegt bei Sagan. Bis vor wenigen Jahren lag in geringer Entfernung davon ein ganz ähnliches Felsstück, der „Hergottstein". Der Teufel habe mit Gott von den Hellbergen (bei Frey-stadt) aus um die Wette werfen wollen, sei aber um einige Meter zurückgeblieben und habe nun vor Ärger über sein Verlieren dem Steine mit seinem Pferdefuß einen kräftigen Tritt gegeben, dessen Spur noch jetzt zu sehen ist.

Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 24

General wallenstein
27.01.04, 20:06
Der Schweidnitzer Ratsmann

Es lebte vorzeiten ein Ratsherr zu Schweidnitz, der mehr das Gold liebte als Gott und eine Dohle abgerichtet hatte, durch eine ausgebrochene Glasscheibe des vergitterten Fensters in die seinem Haus grad gegenüberliegende Ratskämmerei einzufliegen und ihm ein Stück Geld daraus zu holen. Das geschah jeden Abend, und sie brachte ihm eine der goldenen oder silbernen Münzen, die gerade von der Stadt Einkünften auf dem Tische lagen, mit ihrem Schnabel getragen. Die andern Ratsbedienten gewahrten endlich der Verminderung des Schatzes, beschlossen, dem Dieb aufzulauern, und fanden bald, daß die Dohle nach Sonnenuntergang geflogen kam und ein Goldstück wegpickte. Sie zeichneten darauf einige Stücke und legten sie hin, die von der Dohle nach und nach gleichfalls abgeholt wurden. Nun saß der ganze Rat zusammen, trug die Sache vor und schloß dahin, falls man den Dieb herausbringen würde, so sollte er oben auf den Kranz des hohen Rathausturms gesetzt und verurteilt werden, entweder oben zu verhungern oder bis auf den Erdboden herabzusteigen. Unterdessen wurde in des verdächtigen Ratsherrn Wohnung geschickt und nicht nur der fliegende Bote, sondern auch die gezeichneten Goldstücke gefunden. Der Missetäter bekannte sein Verbrechen, unterwarf sich willig dem Spruch, den man, angesehen sein hohes Alter, lindern wollte, welches er nicht zugab, sondern stieg vor aller Augen mit Angst und Zittern auf den Kranz des Turms. Beim Absteigen unterwärts kam er aber bald auf ein steinern Geländer, konnte weder vor noch hinter sich und mußte stehenbleiben. Zehn Tage und Nächte stand der alte arme Greis da zur Schau, daß es einen erbarmte, ohne Speis und Trank, bis er endlich vor großem Hunger sein eigen Fleisch von den Händen und Armen abnagte und reu- und bußfertig durch solchen grausamen, unerhörten Tod sein Leben endigte. Statt des Leichnams wurde in der Folge sein steinernes Bild nebst dem der Dohle auf jenes Turmgeländer gesetzt. 1642 wehte es ein Sturmwind herunter, aber der Kopf davon soll noch auf dem Rathaus vorhanden sein.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 358

General wallenstein
27.01.04, 20:10
Wir fanden die "Verfluchten Stiefel" sehr amüsant, was wohl daran liegt, dass dieser Dragoner Butler unterstanden hat.

Erwin Rommel
28.01.04, 14:41
Die Mittagshexe

Im Spreewald war es Brauch zur Mittagszeit das Flachsernten sein zu lassen.
Weibsbilder die es dennoch nicht sein lassen konnten, griff sich die Mittagshexe. Eine alte Hexe in langem weißem Gewand und einer Sichel an einem langen Stiel. Das unglückseelige Weib welches von der Mittagshexe gegriffen wurde, musste nun der Hexe eine Stunde etwas über das Flachsernten erzählen. Konnte sie das nicht tötete die Hexe das Weib.

Erwin Rommel
28.01.04, 14:53
Der Schlangenkönig

Im Spreewald galten die Schlangen schon seit jeher als gute Wesen.
(Darum findet man manchmal auch an den Giebeln alter Spreewaldhäuser zwei Schlangen, sie sollen das Haus beschützen).
Nun gab es auch noch einen Schlangenkönig. Er hatte eine kleine goldene Krone auf seinem Haupt. Jeden Tag suchte er sich einen freien, hellen Platz um sich in der Mittagssonne baden zu können. Das goldene Krönchen legte er dabei auf die Herde und schlängelte sich um seine Krone. Wer diese Krone nun in seinen Besitz bringen konnte war fortan ein reicher Mann, der niemals mehr Not leiden brauchte. Schlaue Jungen die davon wussten, legten ein weißes Tuch auf einen freien Platz und warteten auf den Schlangenkönig, im Gebüsch. Wenn er kam holten sie sich die Krone mit einer List und waren fortan reich.

Erwin Rommel
28.01.04, 14:59
Der Teufel und der Spreewald

Einmal, vor langer langer Zeit wollte der Teufel ein Acker pflügen. Er hatte zwei große und starke Ochsen vor den Pflug gespannt und trieb sie nun an das Acker durchzupflügen. Doch die beiden Ochsen wollten nicht so recht, und rannten mal hier mal dorthin. Irgendwann reichte es dem Teufel und er stieg hinab in die Hölle. Doch die Ochsen zogen den Pflug weiter hinter sich her, durch das ganze Gebiet des Spreewalds. So entstanden die Fließe des Spreewaldes, welche Kreuz und Quer durch die Gegend gezogen sind. Genauso wie die Ochsen den Pflug zogen.

Erwin Rommel
28.01.04, 15:19
Grenzenlose Liebe

Es gab einmal eine Prinzessin, sie besaß eine goldene Kutsche und noch viel wichtiger, sie besaß einem Bräutigam. Beide waren unsterblich ineinander verliebt, doch es kam Krieg in das Land und Ihr Bräutigam musste in die Schlacht ziehen. Vorher sprach die Prinzessin noch zu Ihm das Sie Ihm überall hinfolgen würde. Egal wohin er gehe.
Doch irgendwann fiel Ihr Angetrauter in der Schlacht. Die Prinzessin wusste nichts davon und sie fuhr mit Ihrer goldenen Kutsche durch den Spreewald. Dieser war damals ein einziger Moor. Schließlich versank die Kutsche im Moor und mit Ihr die Prinzessin. So also folgte Sie Ihrem Angetrauten auch in den Himmel, wo sie wieder miteinander vereint waren. Die Kutsche aber, wurde nie gefunden. Heute soll eine große alte Eiche über der Kutsche stehen. Doch die Eiche wurde bis heute nicht gefunden und mit Ihr auch nicht die Kutsche, welche vollkommen aus Gold bestand oder noch besteht.

Erwin Rommel
28.01.04, 15:33
Die Irrlichter

Wer des Nachts noch durch den dunklen Wald und den Moor nach Hause musste, ward froh wenn Er dies geschafft. Denn nicht selten sind Mann oder Frau im Moor des Spreewaldes verschwunden.
Doch es gab auch die Irrlichter. Kleine, meist freundliche und lustige Lichtgestalten. Diese halfen nun den armen Wandersleuten wenn sie sich arg verlaufen hatten. Doch dafür forderten sie auch Ihren gerechten Lohn. Ein Goldstück musste derjenige dem die Irrlichter halfen auf einem Holzscheid zu Ihnen hinüberreichen. Das Goldstück ward danach verschwunden und das eine Holzende verbrannt. Doch wehe dem der die Zeche prellen wollte. Den jagten die Irrlichter wieder zurück in das Moor. Sie trieben Ihn solange bis Er im Moor versank.

General wallenstein
28.01.04, 16:20
Wenn jemand wissen sollte wo diese Eiche steht, dann sage Er Uns bitte Bescheid. :D

Und nun mal etwas aus Estland.

General wallenstein
28.01.04, 16:21
DIE PESTZIEGE

In der alten Pestzeit aßen die Bauern einmal Abendbrot. Zum Essen hatten sie Brot, das gerade aus dem Ofen genommen worden war, und das sie nun beim Essen in salziges Wasser eintunkten.

Da kam der Pesttod wie eine Ziege auf die Tür und rief aus:

"Welch ein Wunder! Das Volk ißt Feuer und trinkt Funken!"

Großmütterchen rief ihr vom Ofen entgegen:

"Welch ein Wunder! Wer hat das schon gehört, daß die Ziege unsere Sprache sprechen kann!"

Die Ziege schüttelte wütend den Kopf und ging weg, ohne daß sie jemandem etwas Böses angetan hätte.


Estnische Orignalfassung: (falls es jemand lesen kann und wir Uns nicht vertippt haben. *ggg*)

Vanal katkuajal istunud kord taluperes rahvas õhtut sööma. Söögiks olnud neil praegu ahjust võetud leib, mida nad soolveesse kastnuvad. Seal astnud surm kitsi näul ukselävele ja hüüdnud: "Ime, ime! Rahvas söövad tuld ja rüüpavad sädemeid peale!" Vana emakene ahju peal aga hüüdnud vasta: "Ime, ime! Kes seda enne kuulnud, et kide meie keelel räägib!" Kits raputanud vihaselt pead ja läinud ära, ilma et ta kellegile midagi paha oleks teinud.

General wallenstein
28.01.04, 16:22
DER KIRCHENBAU DES TEUFELS

Der Teufel wollte einmal die Tochter eines frommen Mannes heiraten, er ging zu dem Vater um seine Tochter werben. Der fromme Mann sagte:

"Ich werde dir meine Tochter sonst nicht geben, als dass du dorthin auf den hohen Berggipfel in einer Nacht eine Steinkirche baust!"

An einem Abend fing der Teufel an zu arbeiten, arbeitete eine halbe Nacht, konnte aber nicht viel mehr als die halbe Mauer fertig bauen, bald war der Hahnenschrei zu erwarten. Der Teufel sah, dass er die Kirche nicht mehr fertig bauen wird, deshalb fing er an, die Mauer niederzureissen. Er warf die Stein vom Berg hinunter. Der Hahn schrie, das Niederreissen der Mauer wurde nicht vollendet. Die Mauern, die übrigblieben, sollen heute noch dort auf dem Berg stehen. Am Fusse des Berges sollen überall Steine sein, auf allen Steinen Fingerabdrücke an den Stellen, wo der Teufel sie anfasste, als er die Mauer niederriss. So wurde die Brautwerbung eingestellt, der Teufel hat sich dort nicht mehr sehen lassen.


Estnische Version:

KURADI KIRIKUEHITUS

Vanakurat tahtnud kord üht vaga mehe tütart omale naiseks, läinud isa juure tütart kauplema. Vaga mees öölnud:

"Muido ma oma tütart sulle ei anna, kui et sa senna kõrge mäetipu otsa ühe ööka raiutud kivist kiriku ehitad!"

Vanakurat hakanud üks õhto tööle, teinud poole ööni tööd, ei ole enam kui natuke üle poole müüri valmis saanud, kukelaul olnud oodata. Kurat näinud, et enam kirikut valmis ei saa, seepärast hakanud müüri lahutama. Loopinud kivid mää otsast alla. Kukk laulnud, müüri lahutus jäänud pooleli. Need järelejäänud müürid peavad praegu mää otsas alles olema, määalune peab kivi täis olema, kõigil sõrmejäljed külles, kust Kurat kinni võtnud, kui müüri lahutas. Nii jäänud kosjakaup katki, Kurat ei ole ennast enam seal näitanud.

Aus: Muistendid Vanapaganast. [Die Sagen über den dummen Teufel.]

General wallenstein
28.01.04, 16:23
DER WEG DES TEUFELS

Etwa fünf Kilometer von dem Hafen Mahu entfernt, in der Richtung Narva, in Vikkuri ist der Weg des dummen Teufels. Das ist eine Steinreihe, die direkt in die See läuft. Darüber wird erzählt, dass der dumme Teufel dort den Weg über die See bis nach Finnland bauen wollte. Er trug und trug in der Schürze die Steine dorthin zusammen, und heimlich, in der Nacht. Am Tage konnte man niemanden sehen, in der Nacht aber baute er die Brücke und jeden Morgen sahen die Leute, dass die Landzunge länger geworden war. Dann an einem Morgen war sie aber gar nicht länger geworden, und von dieser Zeit an hörte der dumme Teufel mit dem Brückenbau auf. Dann erfuhr man, dass dem Teufel ein Schürzenband zerrissen war und ihm ein Stein auf den Zeh fiel. Der dumme Teufel ärgerte sich und liess die Arbeit unvollendet.

Estnische Version:

VANAKURADI TEE

Mahu sadamast umbes 5 km Narva poole Vikkuril asub Vanapagana tee. See on umbes poole kilomeetri pikkune kivikari, mis jookseb otse mere sisse. Sellest räägitakse, et Vanapagan tahtis teed üle mere teha kuni Soomeni. Tassis ja tassis polle sees neid kive sinna kokku ja ööse salaja. Päeval ei old näha kedagi, aga öösel, siis tegi silda ja iga hommiku inimesed nägivad, et jälle on kari pikemast venind. Siis ühel hommiku enamb ei oldki pikem sugugi ja sellest ajast jäi Vanapaganal sillategu poolele. Siis saadi teada, et Paganal oli kive kandades üks pollepael katki mend ja kivi varba pääle kukkund. Vanapagan vihastand ja jättand töö pooleli.

Aus: Muistendid Vanapaganast. [Die Sagen über den dummen Teufel.]

General wallenstein
28.01.04, 16:24
Im Folgenden nun einige Sagen von unseren niederländischen Nachbarn.

General wallenstein
28.01.04, 16:25
Das Schwanschiff am Rhein

Im Jahr 711 lebte Dietrichs, des Herzogen zu Kleve, einzige Tochter Beatrix, ihr Vater war gestorben, und sie war Frau über Kleve und viel Lande mehr. Zu einer Zeit saß diese Jungfrau auf der Burg von Nimwegen, es war schön klar Wetter, sie schaute in den Rhein und sah da ein wunderlich Ding. Ein weißer Schwan trieb den Fluß abwärts, und am Halse hatte er eine goldne Kette. An der Kette hing ein Schiffchen, das er fortzog, darin ein schöner Mann saß. Er hatte ein goldnes Schwert in der Hand, ein Jagdhorn um sich hängen und einen köstlichen Ring am Finger. Dieser Jüngling trat aus dem Schifflein ans Land und hatte viel Worte mit der Jungfrau und sagte, daß er ihr Land schirmen sollte und ihre Feinde vertreiben. Dieser Jüngling behagte ihr so wohl, daß sie ihn liebgewann und zum Manne nahm. Aber er sprach zu ihr: »Fraget mich nie nach meinem Geschlecht und Herkommen; denn wo Ihr danach fraget, werdet Ihr mein los sein und ledig und mich nimmer sehen.« Und er sagte ihr, daß er Helias hieße; er war groß von Leibe, gleich einem Riesen. Sie hatten nun mehrere Kinder miteinander. Nach einer Zeit aber, so lag dieser Helias bei Nacht neben seiner Frau im Bette, und die Gräfin fragte unachtsam und sprach: »Herr, solltet Ihr Euren Kindern nicht sagen wollen, wo Ihr herstammet?« über das Wort verließ er die Frau, sprang in das Schwanenschiff hinein und fuhr fort, wurde auch nicht wieder gesehen. Die Frau grämte sich und starb aus Reue noch das nämliche Jahr. Den Kindern aber soll er die drei Stücke, Schwert, Horn und Ring, zurückgelassen haben. Seine Nachkommen sind noch vorhanden, und im Schloß zu Kleve stehet ein hoher Turm, auf dessen Gipfel ein Schwan sich drehet, genannt der Schwanturm, zum Andenken der Begebenheit.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 535

General wallenstein
28.01.04, 16:26
Lohengrin zu Brabant

Der Herzog von Brabant und Limburg starb, ohne andere Erben als eine junge Tochter Els oder Elsam zu hinterlassen; diese empfahl er auf dem Todbette einem seiner Dienstmannen, Friedrich von Telramund *). Friedrich, sonst ein tapferer Held, der zu Stockholm in Schweden einen Drachen getötet hatte, wurde übermütig und warb um der jungen Herzogin Hand und Land unter dem falschen Vorgeben, daß sie ihm die Ehe gelobt hatte. Da sie sich standhaft weigerte, klagte Friedrich bei dem Kaiser Heinrich dem Vogler; und es wurde Recht gesprochen, daß sie sich im Gotteskampf durch einen Helden gegen ihn verteidigen müsse. Als sich keiner finden wollte, betete die Herzogin inbrünstig zu Gott um Rettung. Da erscholl weit davon zu Montsalvatsch beim Gral der Laut der Glocke, zum Zeichen, daß jemand dringender Hilfe bedürfe; alsobald beschloß der Gral, den Sohn Parzivals, Lohengrin, darnach auszusenden. Eben wollte dieser seinen Fuß in den Stegreif setzen, da kam ein Schwan auf dem Wasser geflossen und zog hinter sich ein Schiff daher. Kaum erblickte ihn Lohengrin, als er rief: »Bringt das Roß wieder zur Krippe; ich will nun mit diesem Vogel ziehen, wohin er mich führt.« Speise im Vertrauen auf Gott nahm er nicht in das Schiff; nachdem sie fünf Tage über Meer gefahren hatten, fuhr der Schwan mit dem Schnabel ins Wasser, fing ein Fischlein auf, aß es halb und gab dem Fürsten die andere Hälfte zu essen.

Unterdessen hatte Elsam ihre Fürsten und Mannen nach Antwerpen zu einer Landsprache berufen. Gerade am Tage der Versammlung sah man einen Schwan die Schelde heraufschwimmen, der ein Schifflein zog, in welchem Lohengrin auf sein Schild ausgestreckt schlief. Der Schwan landete bald am Gestade, und der Fürst wurde fröhlich empfangen; kaum hatte man ihm Helm, Schild und Schwert aus dem Schiff getragen, als der Schwan sogleich zurückfuhr. Lohengrin vernahm nun das Unrecht, welches die Herzogin litt, und übernahm es gerne, ihr Kämpfer zu sein. Elsam ließ hierauf alle ihre Verwandten und Untertanen entbieten, die sich bereitwillig in großer Zahl einstellten; selbst König Gotthart, ihr mütterlicher Ahn, kam aus Engelland, durch Gundemar, Abt zu Clarbrunn, berufen. Der Zug machte sich auf den Weg, sammelte sich nachher vollständig zu Saarbrück und ging von da nach Mainz. Kaiser Heinrich, der sich zu Frankfurt aufhielt, kam nach Mainz entgegen; und in dieser Stadt wurde das Gestühl errichtet, wo Lohengrin und Friedrich kämpfen sollten. Der Held vom Gral überwand; Friedrich gestand, die Herzogin angelogen zu haben, und wurde mit Schlägel und Barte (Beil) gerichtet. Elsam fiel nun dem Lohengrin zuteile, die sich längst einander liebten; doch behielt er sich insgeheim voraus, daß ihr Mund alle Fragen nach seiner Herkunft zu vermeiden habe; denn sonst müsse er sie augenblicklich verlassen.

Eine Zeitlang verlebten die Eheleute in ungestörtem Glück, und Lohengrin beherrschte das Land weise und mächtig; auch dem Kaiser leistete er auf den Zügen gegen die Hunnen und Heiden große Dienste. Es trug sich aber zu, daß er einmal im Speerwechsel den Herzog von Kleve herunterstach und dieser den Arm zerbrach; neidisch redete da die Klever Herzogin laut unter den Frauen: »Ein kühner Held mag Lohengrin sein, und Christenglauben scheint er zu haben; schade, daß Adels halben sein Ruhm gering ist; denn niemand weiß, woher er ans Land geschwommen kam.« Dies Wort ging der Herzogin von Brabant durch das Herz, sie errötete und erblich. Nachts im Bette, als ihr Gemahl sie in Armen hielt, weinte sie; er sprach: »Lieb, was wirret dir?« Sie antwortete: »Die Klever Herzogin hat mich zu tiefem Seufzen gebracht«, aber Lohengrin schwieg und fragte nicht weiter. Die zweite Nacht weinte sie wieder; er aber merkte es wohl und stillte sie nochmals. Allein in der dritten Nacht konnte sich Elsam nicht länger halten und sprach: »Herr, zürnt mir nicht! Ich wüßte gern, von wannen Ihr geboren seid; denn mein Herz sagt mir, ihr seiet reich an Adel.« Als nun der Tag anbrach, erklärte Lohengrin öffentlich, von woher er stamme: daß Parzival sein Vater sei und Gott ihn vom Grale hergesandt habe. Darauf ließ er seine beiden Kinder bringen, die ihm die Herzogin geboren, küßte sie und befahl, ihnen Horn und Schwert, das er zurücklasse, wohl aufzuheben; der Herzogin ließ er das Fingerlein, das ihm einst seine Mutter geschenkt hatte. Da kam mit Eile sein Freund, der Schwan, geschwommen, hinter ihm das Schifflein; der Fürst trat hinein und fuhr wider Wasser und Wege in des Grales Amt. Elsam sank ohnmächtig nieder, daß man mit einem Keil ihre Zähne aufbrechen und ihr Wasser eingießen mußte. Kaiser und Reich nahmen sich der Waisen an; die Kinder hießen Johann und Lohengrin. Die Witwe aber weinte und klagte ihr übriges Leben lang um den geliebten Gemahl, der nimmer wiederkehrte.

*) Die Erzählung im Parzival ist noch einfacher. Friedrich fehlt ganz, die demütige Herzogin wird von Land und Leuten bedrängt, sich zu vermählen. Sie verschwört jeden Mann, außer den ihr Gott sende, und da schwimmt der Schwan herzu.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 536

General wallenstein
28.01.04, 16:29
Der Schwanritter

Herzog Gottfried von Brabant war gestorben, ohne männliche Erben zu hinterlassen; er hatte aber in einer Urkunde gestiftet, daß sein Land der Herzogin und seiner Tochter verbleiben sollte. Hieran kehrte sich jedoch Gottfrieds Bruder, der mächtige Herzog von Sachsen, wenig, sondern bemächtigte sich, aller Klagen der Witwe und Waisen unerachtet, des Landes, das nach deutschem Recht auf keine Weiber erben könne.

Die Herzogin beschloß daher, bei dem König zu klagen; und als bald darauf Karl nach Niederland zog und einen Tag zu Neumagen am Rheine halten wollte, kam sie mit ihrer Tochter dahin und begehrte Recht. Dahin war auch der Sachsenherzog gekommen und wollte der Klage zu Antwort stehen. Es ereignete sich aber, daß der König durch ein Fenster schaute; da erblickte er einen weißen Schwan, der schwamm den Rhein heran und zog an einer silbernen Kette, die hell glänzte, ein Schifflein nach sich; in dem Schiff aber ruhte ein schlafender Ritter, sein Schild war sein Hauptkissen, und neben ihm lag Helm und Halsberg; der Schwan steuerte gleich einem geschickten Seemann und brachte sein Schiff an das Gestade. Karl und der ganze Hof verwunderten sich höchlich ob diesem seltsamen Ereignis; jedermann vergaß der Klage der Frauen und lief hinab dem Ufer zu. Unterdessen war der Ritter erwacht und stieg aus der Barke; wohl und herrlich empfing ihn der König, nahm ihn selbst zur Hand und führte ihn gegen die Burg. Da sprach der Held zu dem Vogel: »Flieg deinen Weg wohl, lieber Schwan! Wann ich dein wieder bedarf, will ich dir schon rufen.« Sogleich schwang sich der Schwan und fuhr mit dem Schifflein aus aller Augen weg. Jedermann schaute den fremden Gast neugierig an; Karl ging wieder ins Gestühl zu seinem Gericht und wies jenem eine Stelle unter den andern Fürsten an.

Die Herzogin von Brabant, in Gegenwart ihrer schönen Tochter, hub nunmehr ausführlich zu klagen an, und hernach verteidigte sich auch der Herzog von Sachsen. Endlich erbot er sich zum Kampf für sein Recht, und die Herzogin solle ihm einen Gegner stellen, das ihre zu bewähren. Da erschrak sie heftig; denn er war ein auserwählter Held, an den sich niemand wagen würde; vergebens ließ sie im ganzen Saal die Augen umgehen, keiner war da, der sich ihr erboten hätte. Ihre Tochter klagte laut und weinte; da erhob sich der Ritter, den der Schwan ins Land geführt hatte, und gelobte, ihr Kämpfer zu sein. Hierauf wurde sich von beiden Seiten zum Streit gerüstet, und nach einem langen und hartnäckigen Gefecht war der Sieg endlich auf seiten des Schwanritters. Der Herzog von Sachsen verlor sein Leben, und der Herzogin Erbe wurde wieder frei und ledig. Da neigten sie und die Tochter dem Helden, der sie erlöst hatte, und er nahm die ihm angetragene Hand der Jungfrau mit dem Beding an, daß sie nie und zu keiner Zeit fragen solle, woher er gekommen und welches sein Geschlecht sei; denn außerdem müsse sie ihn verlieren.

Der Herzog und die Herzogin zeugten zwei Kinder zusammen, die waren wohlgeraten; aber immer mehr fing es an, ihre Mutter zu drücken, daß sie gar nicht wußte, wer ihr Vater war; und endlich tat sie an ihn die verbotene Frage. Der Ritter erschrak herzlich und sprach: »Nun hast du selbst unser Glück zerbrochen und mich am längsten gesehen.« Die Herzogin bereute es aber zu spät, alle Leute fielen zu seinen Füßen und baten ihn zu bleiben. Der Held waffnete sich, und der Schwan kam mit demselben Schifflein geschwommen; darauf küßte er beide Kinder, nahm Abschied von seinem Gemahl und segnete das ganze Volk; dann trat er ins Schiff, fuhr seine Straße und kehrte nimmer wieder. Der Frau ging der Kummer zu Bein und Herzen, doch zog sie fleißig ihre Kinder auf. Aus dem Samen dieser Kinder stammen viel edle Geschlechter, die von Geldern sowohl als Kleve, auch die Rieneker Grafen und manche andre; alle führen den Schwan im Wappen.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 538

General wallenstein
28.01.04, 16:30
Das taube Korn

Zu Stavoren in Friesland waren die Einwohner durch ihren Reichtum stolz und übermütig geworden, daß sie Hausflur und Türen mit Gold beschlagen ließen, den ärmeren Städten der Nachbarschaft zum Trotz. Von diesen wurden sie daher nicht anders genannt als »die verwöhnten Kinder von Stavoren«. Unter ihnen war besonders eine alte geizhalsige Witwe, die trug einem Danzigfahrer auf, das Beste, was er laden könne, für ihre Rechnung mitzubringen. Der Schiffer wußte nichts Bessers, als er nahm einige tausend Lasten schönes polnisch Getreid, denn zur Zeit der Abreise hatte die Frucht gar hoch gestanden in Friesland. Unterwegs aber begegnete ihm nichts wie Sturm und Unwetter und nötigten ihn zu Bornholm überwintern, dergestalt, daß, wie er frühjahrs endlich daheim anlangte, das Korn gänzlich im Preise gefallen war und die Witwe zornig die sämtliche Ladung vor der Stadt in die See werfen ließ. Was geschah? An derselben Stelle tat sich seit der Zeit eine mächtige Sandbank empor, geheißen der Frauensand, darauf nichts als taubes Korn (Wunderkorn, Dünenheim, weil es die Dünen wider die See helmt [schützt], arundo arenaria) wuchs, und die Sandbank lag vor dem Hafen, den sie sperrte, und der ganze Hafen ging zugrunde. So wuchs an der Sünde der alten Frau die Buße für die ganze Stadt auf.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 238

General wallenstein
28.01.04, 16:31
Der Frauensand

Westlich im Südersee wachsen mitten aus dem Meer Gräser und Halme hervor an der Stelle, wo die Kirchtürme und stolzen Häuser der vormaligen Stadt Stavoren in tiefer Flut begraben liegen. Der Reichtum hatte ihre Bewohner ruchlos gemacht, und als das Maß ihrer Übeltaten erfüllt war, gingen sie bald zugrunde. Fischer und Schiffer am Strand des Südersees haben die Sage von Mund zu Mund fortbewahrt.

Die vermögendste aller Insassen der Stadt Stavoren war eine sichere Jungfrau, deren Namen man nicht mehr nennt. Stolz auf ihr Geld und Gut, hart gegen die Menschen, strebte sie bloß, ihre Schätze immer noch zu vermehren. Flüche und gotteslästerliche Reden hörte man viel aus ihrem Munde. Auch die übrigen Bürger dieser unmäßig reichen Stadt, zu deren Zeit man Amsterdam noch nicht nannte und Rotterdam ein kleines Dorf war, hatten den Weg der Tugend verlassen.

Eines Tags rief die Jungfrau ihren Schiffsmeister und befahl ihm auszufahren und eine Ladung des Edelsten und Besten mitzubringen, was auf der Welt wäre. Vergebens forderte der Seemann, gewohnt an pünktliche und bestimmte Aufträge, nähere Weisung; die Jungfrau bestand zornig auf ihrem Wort und hieß ihn alsbald in die See stechen. Der Schiffsmeister fuhr unschlüssig und unsicher ab, er wußte nicht, wie er dem Geheiß seiner Frau, deren bösen, strengen Sinn er wohl kannte, nachkommen möchte und überlegte hin und her, was zu tun. Endlich dachte er: Ich will ihr eine Ladung des köstlichsten Weizen bringen, was ist Schöners und Edlers zu finden auf Erden als dies herrliche Korn, dessen kein Mensch entbehren kann? Also steuerte er nach Danzig, befrachtete sein Schiff mit ausgesuchtem Weizen und kehrte alsdann, immer noch unruhig und furchtsam vor dem Ausgang, wieder in seine Heimat zurück. »Wie, Schiffsmeister«, rief ihm die Jungfrau entgegen, »du bist schon hier? Ich glaubte dich an der Küste von Afrika, um Gold und Elfenbein zu handeln, laß sehen, was du geladen hast.« Zögernd, denn an ihren Reden sah er schon, wie wenig sein Einkauf ihr behagen würde, antwortete er: »Meine Frau, ich führe Euch zu dem köstlichsten Weizen, der auf dem ganzen Erdreich mag gefunden werden.« - »Weizen«, sprach sie, »so elendes Zeug bringst du mir?« - »Ich dachte, das wäre so elend nicht, was uns unser tägliches und gesundes Brot gibt.« - »Ich will dir zeigen, wie verächtlich mir deine Ladung ist; von welcher Seite ist das Schiff geladen?« - »Von der rechten Seite (Stuurboordszyde)«, sprach der Schiffsmeister. - »Wohlan, so befehl ich dir, daß du zur Stunde die ganze Ladung auf der linken Seite (Backboord) in die See schüttest; ich komme selbst hin und sehe, ob mein Befehl erfüllt worden.«

Der Seemann zauderte, einen Befehl auszuführen, der sich so greulich an der Gabe Gottes versündigte, und berief in Eile alle armen und dürftigen Leute aus der Stadt an die Stelle, wo das Schiff lag, durch deren Anblick er seine Herrin zu bewegen hoffte. Sie kam und frug: »Wie ist mein Befehl ausgerichtet?« Da fiel eine Schar von Armen auf die Knie vor ihr und baten, daß sie ihnen das Korn austeilen möchte, lieber als es vom Meer verschlingen zu lassen. Aber das Herz der Jungfrau war hart wie Stein, und sie erneuerte den Befehl, die ganze Ladung schleunig über Bord zu werfen. Da bezwang sich der Schiffsmeister länger nicht und rief laut: »Nein, diese Bosheit kann Gott nicht ungerächt lassen, wenn es wahr ist, daß der Himmel das Gute lohnt und das Böse straft; ein Tag wird kommen, wo Ihr gerne die edlen Körner, die Ihr so verspielt, eins nach dem andern auflesen möchtet, Euren Hunger damit zu stillen!« - »Wie«, rief sie mit höllischem Gelächter, »ich soll dürftig werden können? Ich soll in Armut und Brotmangel fallen? So wahr dies geschieht, so wahr sollen auch meine Augen diesen Ring wieder erblicken, den ich hier in die Tiefe der See werfe.« Bei diesem Wort zog sie einen kostbaren Ring vom Finger und warf ihn in die Wellen. Die ganze Ladung des Schiffes und aller Weizen, der darauf war, wurde also in die See ausgeschüttet.

Was geschieht? Einige Tage darauf ging die Magd dieser Frauen zu Markt, kaufte einen Schellfisch und wollte ihn in der Küche zurichten; als sie ihn aufschnitt, fand sie darin einen kostbaren Ring und zeigte ihn ihrer Frauen. Wie ihn die Meisterin sah, erkannte sie ihn sogleich für ihren Ring, den sie neulich ins Meer geworfen hatte, erbleichte und fühlte die Vorboten der Strafe in ihrem Gewissen. Wie groß war aber ihr Schrecken, als in demselben Augenblick die Botschaft eintraf, ihre ganze, aus Morgenland kommende Flotte wäre gestrandet! Wenige Tage darauf kam die neue Zeitung von untergegangenen Schiffen, worauf sie noch reiche Ladungen hatte. Ein anderes Schiff raubten die Mohren und Türken; der Fall einiger Kaufhäuser, worin sie verwickelt war, vollendete bald ihr Unglück, und kaum war ein Jahr verflossen, so erfüllte sich die schreckliche Drohung des Schiffsmeisters in allen Stücken. Arm und von keinem betrauert, von vielen verhöhnt, sank sie je länger, je mehr in Not und Elend, hungrig bettelte sie Brot vor den Türen und bekam oft keinen Bissen, endlich verkümmerte sie und starb verzweifelnd.

Der Weizen aber, der in das Meer geschüttet worden war, sproß und wuchs das folgende Jahr, doch trug er taube Ähren. Niemand achtete das Warnungszeichen, allein die Ruchlosigkeit von Stavoren nahm von Jahr zu Jahr überhand, da zog Gott der Herr seine schirmende Hand ab von der bösen Stadt. Auf eine Zeit schöpfte man Hering und Butt aus dem Ziehbrunnen, und in der Nacht öffnete sich die See und verschwalg mehr als drei Viertel der Stadt in rauschender Flut. Noch beinah jedes Jahr versinken einige Hütten der Insassen, und es ist seit der Zeit kein Segen und kein wohlhabender Mann in Stavoren zu finden. Noch immer wächst jährlich an derselben Stelle ein Gras aus dem Wasser, das kein Kräuterkenner kennt, das keine Blüte trägt und sonst nirgends mehr auf Erden gefunden wird. Der Halm treibt lang und hoch, die Ähre gleicht der Weizenähre, ist aber taub und ohne Körner. Die Sandbank, worauf es grünt, liegt entlangs der Stadt Stavoren und trägt keinen andern Namen als den des Frauensands.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 239

General wallenstein
28.01.04, 16:39
Der Ritter mit dem Schwan (belgische Sage)

Zu Flandern war vor alters ein Königreich Lillefort, da, wo jetzt die Städte Ryßel und Doway liegen; in demselben herrschte Pyrion mit Matabruna, seiner Gemahlin. Sie zeugten einen Sohn, namens Oriant. Dieser jagte eines Tages im Walde einen Hirsch, der Hirsch entsprang ihm aber in ein Wasser, und Oriant setzte sich müde an einen schönen Brunnen, um dabei auszuruhen. Als er so allein saß, kam eine edle Jungfrau gegangen, die seine Hunde sah und ihn fragte, mit wessen Urlaub er in ihrem Wald jage. Diese Jungfrau hieß Beatrix, und Oriant wurde von ihrer wunderbaren Schönheit so getroffen, daß er ihr die Liebe erklärte und seine Hand auf der Stelle bot. Beatrix willigte ein, und der junge König nahm sie mit aus dem Wald nach Lillefort, um eine fröhliche Hochzeit zu feiern. Matabrun, seine Mutter, ging ihm aber entgegen und war der jungen Braut gram darum, daß er sie nackt und bloß heimgeführt hatte und niemand wußte, woher sie stammte. Nach einiger Zeit nun wurde die Königin schwanger; währenddessen geschah's, daß sie von ungefähr am Fenster stand und zwei Kindlein, die eine Frau auf einmal geboren hatte, zur Taufe tragen sah. Da rief sie heimlich ihren Gemahl und sprach: wie das möglich wäre, daß eine Frau zwei Kinder gebäre, ohne zwei Männer zu haben? Oriant antwortete: »Mit Gottes Gnaden kann eine Frau sieben Kinder auf einmal von ihrem Manne empfangen.« Bald darnach mußte der König in den Krieg ziehen; da sich nun seine Gemahlin schwanger befand, empfahl er sie seiner Mutter zu sorgfältiger Obhut und nahm Abschied. Matabruna hingegen dachte auf nichts als Böses und beredete sich mit der Wehmutter, daß sie der Königin, wenn sie gebären würde, statt der Kinder junge Hunde unterschieben, die Kinder selbst töten und Beatrix einer strafbaren Gemeinschaft mit Hunden anklagen wollten.

Als nun ihre Zeit heranrückte, ward Beatrix von sechs Söhnen und einer Tochter entbunden, und jedem Kindlein lag um seinen Hals eine silberne Kette. Matabruna schaffte sogleich die Kinder weg und legte sieben Wölpe hin; die Wehfrau aber rief. »Ach, Königin, was ist Euch geschehen! Ihr habt sieben scheußliche Wölpe geboren, tut sie weg und laßt sie unter die Erde graben, daß dem Könige seine Ehre bewahrt bleibe.« Beatrix weinte und rang die Hände, daß es einen erbarmen mußte; die alte Königin aber hub an sie heftig zu schelten und des schändlichsten Ehebruchs zu zeihen. Darauf ging Matabruna weg, rief einen vertrauten Diener, dem sie die sieben Kindlein übergab, und sprach: »Die silbernen Ketten an dieser Brut bedeuten, daß sie dereinst Räuber und Mörder werden; darum muß man eilen, sie aus der Welt zu schaffen.« Der Knecht nahm sie in seinen Mantel, ritt in den Wald und wollte sie töten; als sie ihn aber anlachten, wurde er mitleidig, legte sie hin und empfahl sie der Barmherzigkeit Gottes. Darauf kehrte er an den Hof zurück und sagte der Alten, daß er ihren Befehl ausgerichtet, wofür sie ihm großen Lohn versprach. Die sieben Kinder schrien unterdessen vor Hunger im Walde; das hörte ein Einsiedler, Helias mit Namen, der fand sie und trug sie in seinem Gewande mit sich in die Klause. Der alte Mann wußte aber nicht, wie er sie ernähren sollte; siehe, da kam eine weiße Geiß gelaufen, bot den Kindern ihre Mammen, und sie sogen begierig daran. Diese Geiß stellte sich nun von Tag zu Tage ein, bis daß die Kinder wuchsen und größer wurden. Der Einsiedel machte ihnen dann kleine Röcklein von Blättern, sie gingen spielen im Gesträuch und suchten sich wilde Beeren, die sie aßen, und wurden auferzogen in Gottes Furcht und Gnade.

Der König, nachdem er den Feind besiegt hatte, kehrte heim und wurde mit Klagen empfangen, daß sein Gemahl von einem schändlichen Hunde sieben Wölpe geboren hätte, welche man weggeschafft. Da befiel ihn tiefer Schmerz; er versammelte seinen Rat und fragte, was zu tun wäre. Und einige rieten, die Königin zu verbrennen, andere aber, sie nur gefangen einzuschließen. Dieses letztere gefiel dem Könige besser, weil er sie noch immer liebte. Also blieb die unschuldige Beatrix eingeschlossen, bis zur Zeit, daß sie wieder erlöst werden sollte.

Der Einsiedel hatte unterdessen die sieben Kinder getauft und eines, das er besonders liebte, Helias nach seinem Namen geheißen. Die Kinder aber in ihren Blätterröcklein, barfuß und barhaupt, liefen stets miteinander im Wald herum. Es geschah, daß ein Jäger der alten Königin daselbst jagte und die Kindlein alle sieben, mit ihren Silberketten um den Hals, unter einem Baum sitzen sah, von dem sie die wilden Äpfel abrupften und aßen. Der Jäger grüßte sie, da flohen die Kinder zu der Klause, und der Einsiedler bat, daß der Jäger ihnen kein Leid tun möchte. Als dieser Jäger wieder nach Lillefort kam, erzählte er Matabrunen alles, was er gesehen hatte; sie wunderte sich und riet wohl, daß es Oriants sieben Kinder wären, welche Gott beschirmt hatte. Da sprach sie auf der Stelle: »O guter Gesell, nehmt von Euren Leuten und kehret mir eilends zum Wald, daß Ihr die sieben Kinder tötet, und bringt mir die sieben Ketten zum Wahrzeichen mit! Tut Ihr das nicht, so ist's um Euer eigen Leben geschehn, sonst aber sollt Ihr großen Lohn haben.« Der Jäger sagte: »Euer Wille soll befolgt werden«, nahm sieben Männer und machte sich auf den Weg nach dem Walde. Unterwegs mußten sie durch ein Dorf, wo ein großer Haufen Menschen versammelt war. Der Jäger fragte nach der Ursache und erhielt zur Antwort: »Es soll eine Frau hingerichtet werden, weil sie ihr Kind ermordet hat.« Ach, dachte der Jäger, diese Frau wird verbrennt, weil sie ein Kind getötet hat, und ich gehe darauf aus, sieben Kinder zu morden; verflucht sei die Hand, die dergleichen vollbringt! Da sprachen alle Jäger. »Wir wollen den Kindern kein Leid tun, sondern ihnen die Ketten ablösen und sie der Königin bringen, zum Beweise, daß sie tot seien.« Hierauf kamen sie in den Wald, und der Einsiedler war gerade ausgegangen, auf dem Dorfe Brot zu betteln, und hatte eins der Kinder mitgenommen, das ihm tragen helfen mußte. Die sechs andern schrien vor Furcht, wie sie die fremden Männer sahen. »Fürchtet euch nicht«, sprach der Jäger. Da nahmen sie die Kinder und taten ihnen die Ketten vom Hals; in demselben Augenblick, wo dies geschah, wurden sie zu weißen Schwänen und flogen in die Luft. Die Jäger aber erschraken sehr, und zuletzt gingen sie nach Haus und brachten der alten Königin die sechs Ketten unter dem Vorgeben, die siebente hätten sie verloren. Darüber war Matabruna sehr bös und entbot einen Goldschmied, aus den sechsen einen Napf zu schmieden. Der Goldschmied nahm eine der Ketten und wollte sie im Feuer prüfen, ob das Silber gut wäre. Da wurde die Kette so schwer, daß sie allein mehr wog als vorher die sechse zusammen. Der Schmied war verwundert, gab die fünfe seiner Frau, sie aufzuheben; und aus der sechsten, die geschmolzen war, wirkte er zwei Näpfe, jeden so groß, als ihn Matabrun begehrt hatte. Den einen Napf behielt er auch noch zu den Ketten und den andern trug er der Königin hin, die sehr zufrieden mit seiner Schwere und Größe war.

Als nun die Kinder in weiße Schwäne verwandelt worden waren, kam der Einsiedler mit dem jungen Helias auch wieder heim und war erschrocken, daß die andern fehlten. Und sie suchten nach ihnen den lieben langen Tag bis zum Abend und fanden nichts und waren sehr traurig. Morgens frühe begann der kleine Helias wieder nach seinen Geschwistern zu suchen, bis er zu einem Weiher kam, worauf sechs Schwäne schwammen, die zu ihm hinflossen und sich mit Brot füttern ließen. Von nun ging er alle Tage zu dem Wasser und brachte den Schwänen Brot; es verstrich eine geraume Zeit.

Während Beatrix gefangen saß, dachte Matabrun auf nichts anderes, als sie durch den Tod wegzuräumen. Sie stiftete daher einen falschen Zeugen an, welcher aussagte, den Hund gekannt zu haben, mit dem die Königin Umgang gepflogen hätte. Oriant wurde dadurch von neuem erbittert; und als der Zeuge sich erbot, seine Aussage gegen jedermann im Gotteskampf zu bewähren, schwur der König, daß Beatrix sterben solle, wenn kein Kämpfer für sie aufträte. In dieser Not betete sie zu Gott, der ihr Flehen hörte und einen Engel zum Einsiedler sandte. Dieser erfuhr nunmehr den ganzen Verlauf: wer die Schwäne wären und in welcher Gefahr ihre arme Mutter schwebte. Helias, der Jüngling, war erfreut über diese Nachricht und machte sich barfuß, barhaupt und in seinem Blätterkleid auf, an den Hof des Königs, seines Vaters, zu gehen. Das Gericht war gerade versammelt, und der Verräter stand zum Kampfe bereit. Helias erschien, seine einzige Waffe war eine hölzerne Keule. Hierauf überwand der Jüngling seinen Gegner und tat die Unschuld der geliebten Mutter dar, die sogleich befreit und in ihre vorigen Rechte eingesetzt wurde. Als sich nun die ganze Verräterei enthüllt hatte, wurde sogleich der Goldschmied gesandt, der die Schwanketten verschmieden sollte. Er kam und brachte fünf Ketten und den Napf, der ihm von der sechsten übergeschossen war. Helias nahm nun diese Ketten und war begierig, seine Geschwister wieder zu erlösen; plötzlich sah man sechs Schwäne zu dem Schloßweiher geflogen kommen. Da gingen Vater und Mutter mit ihm hinaus, und das Volk stand um das Ufer und wollte dem Wunder zusehen. Sobald die Schwäne Helias erblickten, schwammen sie hinzu, und er strich ihnen die Federn und wies ihnen die Ketten. Hierauf legte er einem nach dem andern die Kette um den Hals, augenblicklich standen sie in menschlicher Gestalt vor ihm, vier Söhne und eine Tochter, und die Eltern liefen hinzu, ihre Kinder zu halsen und zu küssen. Als aber der sechste Schwan sah, daß er allein übrigblieb und kein Mensch wurde, war er tief betrübt und zog sich im Schmerz die Federn aus; Helias weinte und ermahnte ihn tröstend zur Geduld. Der Schwan neigte mit dem Hals, als ob er ihm dankte, und jedermann bemitleidete ihn. Die fünf andern Kinder wurden darauf zur Kirche geführt und getauft; die Tochter empfing den Namen Rose, die vier Brüder wurden hernachmals fromme und tapfere Helden.


König Oriant, nach diesen wunderbaren Begebenheiten, gab nun die Regierung des Reichs in seines Sohnes Helias Hände. Der junge König aber beschloß, vor allem das Recht walten zu lassen, eroberte die feste Burg, wohin Matabrun geflohen war, und überlieferte sie dem Gericht, welches die Übeltäterin zum Tode des Feuers verdammte. Dieses Urteil wurde sodann vollstreckt. Helias regierte nun eine Weile zu Lillefort; eines Tages aber, da er den Schwan, seinen Bruder, auf dem Schloßweiher einen Nachen ziehen sah, hatte er keine längre Ruhe, sondern hielt dies für ein Zeichen des Himmels, daß er dem Schwan folgen und irgendwo Ruhm und Ehre erwerben solle. Er versammelte daher Eltern und Geschwister, entdeckte ihnen sein Vorhaben und küßte sie zum Abschied. Dann ließ er sich Harnisch und Schild bringen. Oriant, sein Vater, schenkte ihm ein Horn und sprach: »Dieses Horn bewahre wohl! Denn alle, die es blasen hören, denen mag kein Leid geschehen!« Der Schwan schrie drei- oder viermal mit ganz seltsamer Stimme, da ging Helias zum Gestade hinab; sogleich schlug der Vogel die Flügel, als ob er ihn fröhlich bewillkommnete, und neigte seinen Hals. Helias betrat den Nachen, und der Schwan stellte sich vornen hin und schwamm voraus; schnell flossen sie davon, von Fluß in Fluß, von Strom in Strom, bis sie zu der Stelle gelangten, wohin sie nach Gottes Willen beschieden waren.

Zu diesen Zeiten herrschte Otto I., Kaiser von Deutschland, und unter ihm stand das Ardennerland, Lüttich und Namur. Dieser hielt gerade seinen Reichstag zu Nimwegen, und wer über ein Unrecht zu klagen hatte, der kam dahin und brachte seine Worte an. Es begab sich nun, daß auch der Graf von Frankenburg vor den Kaiser trat und die Herzogin von Billon (Bouillon), namens Clarissa, beschuldigte, ihren Gemahl vergiftet und während seiner dreijährigen Meerfahrt eine unrechte Tochter erzeugt zu haben; darum sei das Land nunmehr an ihn, den Bruder des Herzogs, verfallen. Die Herzogin verantwortete sich, so gut sie konnte; aber das Gericht sprach einen Gotteskampf aus, und daß sie sich einen Streiter gegen den Grafen von Frankenburg stellen müsse, der ihre Unschuld dartun wolle. Die Herzogin sah sich aber vergebens nach einem Retter um; indem hörten alle ein Horn blasen. Da schaute der Kaiser zum Fenster, und man erblickte auf dem Wasser den Nachen fahren, von dem Schwan geleitet, in welchem Helias gewappnet stand. Kaiser Otto verwunderte sich, und als das Fahrzeug anhielt und der Held landete, hieß er ihn sogleich vor sich führen. Die Herzogin sah ihn auch kommen und erzählte ihrer Tochter einen Traum, den sie die letzte Nacht gehabt hatte: »Es träumte mir, daß ich vor Gericht mit dem Grafen dingte, und ward verurteilt, verbrannt zu werden. Und wie ich schon an den Flammen stand, flog über meinem Haupt ein Schwan und brachte Wasser zum Löschen des Feuers; aus dem Wasser stieg ein Fisch, vor dem fürchteten sich alle, so daß sie bebten; darum hoffe ich, daß uns dieser Ritter vom Tode erlösen wird.« Helias grüßte den Kaiser und sprach: »Ich bin ein armer Ritter, der durch Abenteuer hierherkommt, um Euch zu dienen.« Der Kaiser antwortete: »Abenteuer habt Ihr hier gefunden! Hier stehet eine auf den Tod verklagte Herzogin; wollt Ihr für sie kämpfen, so könnt Ihr sie retten, wenn ihre Sache gut ist.« Helias sah die Herzogin an, die ihm sehr ehrbar zu sein schien, und ihre Tochter war von wunderbarer Schönheit, daß sie ihm herzlich wohlgefiel. Sie aber schwur ihm mit Tränen, daß sie unschuldig wäre; und Helias gelobte, ihr Kämpfer zu werden. Das Gefecht wurde hierauf anberaumt, und nach einem gefährlichen Streite schlug der Ritter mit dem Schwan dem Grafen Otto das Haupt vom Halse, und der Herzogin Unschuld wurde offenbar. Der Kaiser begrüßte den Sieger; die Herzogin aber begab sich des Landes zugunsten ihrer Tochter Clarissa und vermählte sie mit dem Helden, der sie befreit hatte. Die Hochzeit wurde prächtig zu Nimwegen gefeiert; hernach zogen sie in ihr Land Billon, wo sie mit Freuden empfangen wurden. Nach neun Monaten gebar die Herzogin eine Tochter, welche den Namen Ida empfing und späterhin die Mutter berühmter Helden ward. Eines Tages nun fragte die Herzogin ihren Gemahl nach seinen Freunden und Magen, und aus welchem Lande er gekommen wäre. Helias aber antwortete nichts, sondern verbot ihr diese Frage; sonst müsse er von ihr scheiden. Sie fragte ihn also nicht mehr, und sechs Jahre lebten sie in Ruhe und Frieden zusammen.

Was man den Frauen verbietet, das tun sie zumeist, und die Herzogin, als sie einer Nacht bei ihrem Gemahl zu Bette lag, sprach dennoch: »O mein Herr! Ich möchte gerne wissen, von wannen Ihr seid.« Als dies Helias hörte, wurde er betrübt und antwortete: »Ihr wißt, daß Ihr das nicht wissen sollt; ich gelobe Euch nun, morgen von Lande zu scheiden.« Und wieviel sie und die Tochter klagten und weinten, stand der Herzog morgens auf, berief seine Mannen und gebot ihnen, Frau und Tochter nach Nimwegen zu geleiten, damit er sie dort dem Kaiser empfehlen könne; denn er kehre nimmermehr wieder. Unter diesen Reden hörte man schon den Schwan schreien, der sich über seines Bruders Wiederkunft freuete, und Helias trat in den Nachen. Die Herzogin reiste mit ihrer Tochter zu Lande nach Nimwegen, dahin kam bald der Schwan geschwommen. Helias blies ins Horn und trat vor den Kaiser, dem er sagte, daß er notgedrungen sein Land verlassen müsse, und dringend seine Tochter Ida empfahl. Otto sagte es ihm zu, und Helias, nachdem er Abschied genommen, Weib und Kind zärtlich geküßt hatte, fuhr in dem Nachen davon.

Der Schwan aber geleitete ihn wieder nach Lillefort, wo ihn alle, und zumal Beatrix, seine Mutter, fröhlich bewillkommten. Helias dachte vor allen Dingen, wie er seinen Bruder Schwan wieder lösen möchte. Er ließ daher den Goldschmied rufen und händigte ihm die Näpfe ein, mit dem Befehl, daraus eine Kette zu schmieden, wie die gewesen war, die er einstens geschmolzen hatte. Der Schmied tat es, und brachte die Kette; Helias hängte sie dem Schwan um, der ward alsobald ein schöner Jüngling, wurde getauft und Eßmer (nach andern Emeri, Emerich) genannt.

Einige Zeit darauf erzählte Helias seinen Verwandten die Begebenheit, die er im Lande Billon erfahren hatte; begab sich darauf der Welt und ging in ein Kloster, um da geistlich zu leben bis an sein Ende. Aber zum Andenken ließ er ein Schloß bauen, ganz wie das in Ardennen, und nannte es auch mit demselben Namen Billon.

Als nun Ida, Helias' Tochter, vierzehn Jahre alt geworden war, vermählte sie Kaiser Otto mit Eustachias, einem Grafen von Bonn. Ida lag auf eine Zeit im Traum, da deuchte ihr, als wenn drei Kinder an ihrer Brust lägen, jedes mit einer Krone auf dem Haupt; aber dem dritten zerbrach die Krone, und sie hörte eine Stimme, die sprach, sie würde drei Söhne gebären, von denen der Christenheit viel Frommen erwachsen solle; nur müsse sie verhüten, daß sie keine andere Milch sögen als ihre eigene. Innerhalb drei Jahren brachte auch die Gräfin drei Söhne zur Welt; der älteste hieß Gottfried, der zweite Baldewin, der dritte Eustachias; alle aber zog sie sorgfältig mit ihrer Milch groß. Da begab sich, daß auf einen Pfingsttag die Gräfin in der Kirche war und etwas lange von ihrem Säugling Eustachias blieb; da weinte das Kind so, daß eine andere Frau ihm zu säugen gab. Als die Gräfin zurückkehrte und ihren Sohn an der Frauen Brust fand, sprach sie: »Ach, Frau, was habt Ihr getan? Nun wird mein Kind seine Würdigkeit verlieren.« Die Frau sagte: »Ich meinte wohlzutun, weil es so weinte, und dachte es zu stillen.« Die Gräfin aber war betrübt, aß und trank den ganzen Tag nicht und grüßte die Leute nicht, die ihr vorgestellt wurden.

Die Herzogin, ihre Mutter, hätte unterdessen gar zu gern Kundschaft von ihrem Gemahl gehabt, wohin er gekommen wäre; und sie sandte Pilger aus, die ihn suchen sollten in allen Landen. Nun kam endlich einer dieser Pilger vor ein Schloß, nach dessen Namen er fragte, und hörte mit Erstaunen, daß es Billon hieße; da er doch wohl wußte, Billon liege noch viel weiter. Die Landleute erzählten ihm aber, warum Helias diesen Bau gestiftet und so benannt habe, und berichteten den Pilgrim der ganzen Geschichte. Der Pilgrim dankte Gott, daß er endlich gefunden hatte, was er so lange suchte; ließ sich bei dem König Oriant und seinen Söhnen melden und erzählte, wie es um die Herzogin in Billon und ihre Tochter stünde. Eßmer brachte dem Helias die frohe Botschaft in sein Kloster, Helias gab dem Pilgrim seinen Trauring zum Wahrzeichen mit; auch sandten die andern viele Kostbarkeiten ihren Freunden zu Billon. Der Pilgrim fuhr damit in seine Heimat, und bald zogen die Herzogin und die Gräfin hin zu ihrem Gemahl und Vater in sein Kloster. Helias empfing sie fröhlich, starb aber nicht lange darnach; die Herzogin folgte ihm aus Betrübnis. Die Gräfin aber, als ihre Eltern begraben waren, zog wieder heim in ihr Land und unterwies ihre Söhne in aller Tugend und Gottesfurcht. Diese Söhne gewannen hernachmals den Ungläubigen das Heilige Land ab, und Gottfried und Baldewin wurden zu Jerusalem als Könige gekrönt.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 534

General wallenstein
28.01.04, 16:43
Und nun denken Wir ist es an der Zeit, dass auch einige böhmische Sagen Einzug in diese Hallen halten. Also lehnt Euch zurück und genießt...

General wallenstein
28.01.04, 16:44
DAS HUFEISEN AN DER KIRCHENTÜR

In alter Zeit hat sich einmal ein Ritter im Böhmerwald verirrt. In der höchsten Not tat er das Gelübde, eine Kapelle zu Ehren der Gottesmutter Maria zu erbauen, wenn er Rettung fände. Bald fand sich der Ritter wirklich zurecht. Wie er nun darüber nachsann, wohin seine Kapelle sollte, verlor sein Ross plötzlich ein Eisen und war nicht mehr von der Stelle zu bringen. Da glaubte der Ritter, das sei ein Zeichen des Himmels, und nahm sich vor, an dieser Stelle das Gotteshaus zu erbauen. Da konnte er auch ungehindert seine Reise wieder fortsetzen. Als dann die Kapelle fertig gebaut war, ließ der Ritter das Hufeisen, das sein Pferd damals an der Stelle verloren hatte, an die Kapellentüre nageln. Später hat man da eine größere Wallfahrtskirche errichtet, das Hufeisen kam aber auch wieder an die Türe und ist heute noch da zu sehen.

Quelle: Friedrich Lüers, Bayrische Stammeskunde, o.J.

General wallenstein
28.01.04, 16:45
Der verzauberte König zu Schildheiß

Das alte Schloß Schildheiß, in einer wüsten Wald- und Berggegend von Deutschböhmen, sollte aufs neue gebaut und wiederhergestellt werden. Als die Werkmeister und Bauleute die Trümmer und Grundfesten untersuchten, fanden sie Gänge, Keller und Gewölbe unter der Erde in großer Menge, mehr als sie gedacht; in einem Gewölbe saß ein gewaltiger König im Sessel, glänzend und schimmernd von Edelgestein, und ihm zur Rechten stund unbeweglich eine holdselige Jungfrau, die hielt dem König das Haupt, gleich als ruhete es drinnen. Als sie nun vorwitzig und beutegierig näher traten, wandelte sich die Jungfrau in eine Schlange, die Feuer spie, so daß alle weichen mußten. Sie berichteten aber ihren Herrn von der Begebenheit, welcher alsbald vor das bezeichnete Gewölbe ging und die Jungfrau bitterlich seufzen hörte. Nachher trat er mit seinem Hund in die Höhle, in der sich Feuer und Rauch erzeigte, so daß der Ritter etwas zurückwich und seinen Hund, der vorausgelaufen war, für verloren hielt. Das Feuer verlosch, und wie er sich von neuem näherte, sah er, daß die Jungfrau seinen Hund unbeschädigt im Arme hielt, und eine Schrift an der Wand, die ihm Verderben drohte. Sein Mut trieb ihn aber nachher dennoch an, das Abenteuer zu wagen, und er wurde von den Flammen verschlungen.


Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 25

General wallenstein
28.01.04, 16:48
Die Gründung von Pernstein

Zu jener Zeit, als noch mächtige, kriegsberühmte Könige in dem längstgesunkenen herrrlichen Welehrad Hof hielten, lebte in jener Gegend, wo nunmehr auf hohem, waldigen Felsenzacken oberhalb des Dorfes Piwonic die öden Trümmer der kühn gebauten Veste Zuberstein über Abgründe herrüberragen, ein armer Köhler in düsterer Abgeschiedenheit, nur seinem Gewerbe nachgehend. Ein ungeheurer Büffel, deren es damals in den Forsten, die das Mährerland größtentheils bedeckten, in Menge gab, erfüllte den friedlichen Burggau des stolzen Welehrad mit Schrecken und Verheerung. Der Landesfürst setzte einen bedeutenden Preis auf die Erlegung dieses Ungethüms. Den Versuch, solchen zu verdienen und das Landvolk von dem drohenden Feinde seines Eigenthums und Lebens zu befreien, hatte schon manchem tapfern Kämpen den Tod gebracht.

Eines Tages näherte sich das Ungethüm der dürftigen Hütte Wieniawas's so - und auch Woitèch wird der Köhler in der Sage genannt - und bedrohte Hab und Gut des einfachen Siedlers mit Zerstörung. Doch Wieniawa faßte den Ur mit einer Hand an den Hörnern und zog ihm mit der andern furchtlos eine Ruthe durch die Nase, an der er ihn nun an den Hof des Königs führte. Wieniawa hielt den Büffel für ein des Herrschers würdiges Geschenk, weil er von seltener Größe war. Alles bewunderte dort das Ungethüm, noch mehr aber Wieniawa's Stärke, zumal, als der Köhler vor den Augen des Königs und seiner Lopoten mit einem Beil dem Thiere auf einen Hieb den Kopf abschlug. Da ihm nun der König eine Gnade angeboten, der Köhler aber bescheidentlich nur bat, ihn auch fürderhin in seinem Gewerbe nicht zu hindern, gefiel dies dem Fürsten so wohl, daß er ihm nicht nur die ganzen umliegenden Berge als Eigenthum schenkte, sondern ihn auch unter seine Ritter aufnahm und ihm zum Andenken den Büffelkopf mit einem durch die Nase gezogenen Ringe im Schilde zu tragen befahl.

Als Wieniawa in seine Berge zurückgekommen war, baute an Stelle seiner Hütte ein geräumiges festes Haus von Holz, und benannte es zum Andenken des von ihm erlegten Büffels, der in slawischer Sprache "zubr" heißt, "Zuberstein", welches dann in der Folge unter die festesten Burgen des Landes gezählt wurde, nun aber längst im Schutte darnieder liegt. Sein Sohn Prsten wählte sich nach des Vaters Hinscheiden eine andere Wohnung, und erbaute zuerst auf felsigen Berge, wo nun das ehrwürdige "Pernstein" sich erhebt, eine hölzerne Veste, um vor den wiederholten Einfällen der feindlichen Nachbarn sicher zu sein. Als man eben mit Graben der Gründe zur Errichtung des neuen Schlosses beschäftigt war, schritt ein frommer, aus Palästina rückkehrender Pilger an der Burgstätte vorüber, und lächelte über die Bemühungen der Bauleute. Er glaubte nicht, daß sie auf solchem schroffen Felsen ein Gebäude aufzuführen im Stande wären, und betheuerte hoch und theuer, daß der Bau nimmer gelingen könne, es geschehe denn, daß sein dürrer Wanderstab, den er nun in die Erde stoße, aufblühe, Sprossen treibe und ein lebendiger Baum würde. Und siehe da! Der trockene Stock bekam Wurzeln, blühte und - die Burg ward aufgebaut, nach dem Gründer Prsten genannt und zum Hauptsitze des Pernstein'schen Geschlechtes erkoren.

Die Burg Pernstein

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Quelle: Das romantische Mähren. Eine Sammlung vaterländischer Sagenstoffe. Hg von Willibald Müller, Ölmütz 1881, S. 305

General wallenstein
28.01.04, 16:49
Der Rattenfänger

Der Rattenfänger weiß einen gewissen Ton, pfeift er den neunmal, so ziehen ihm alle Ratten nach, wohin er sie haben will, in Teich oder Pfütze.

Einmal konnte man in einem Dorfe der Ratten gar nicht loswerden und ließ endlich den Fänger holen. Der richtete nun einen Haselstock so zu, daß alle Ratten dran gebannt waren, und wer den Stock ergriff, dem mußten sie nach; er wartete aber bis sonntags und legte ihn vor die Kirchentür. Als nun die Leute vom Gottesdienst heimkamen, ging auch ein Müller vorbei und sah gerade den hübschen Stock liegen, sprach: »Das gibt mir einen feinen Spazierstock.« Also nahm er ihn zur Hand und ging dem Dorf hinaus, seiner Mühle zu. Indem so huben schon einzelne Ratten an, aus ihren Ritzen und Winkeln zu laufen, und sprangen querfeldein immer näher und näher, und wie mein Müller, der von nichts ahnte und den Stock immer behielt, auf die Wiese kam, liefen sie ihm aus allen Löchern nach, über Acker und Feld, und liefen ihm bald zuvor, waren eher in seinem Haus als er selbst und blieben nach der Zeit bei ihm zur unausstehlichen Plage.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 245

General wallenstein
28.01.04, 16:50
Die Semmelschuhe

Im Klatauer Kreis, eine Viertelstunde vom Dorf Oberkamenz, stand auf dem Hradekberg ein Schloß, davon noch einige Trümmer bleiben. Vor alter Zeit ließ der Burgherr eine Brücke bauen, die bis nach Stankau, welches eine Stunde Wegs weit ist, führte, und die Brücke war der Weg, den sie zur Kirche gehen mußten. Dieser Burgherr hatte eine junge, hochmütige Tochter, die war so vom Stolz besessen, daß sie Semmeln aushöhlen ließ und statt der Schuhe anzog. Als sie nun einmal auf jener Brücke mit solchen Schuhen zur Kirche ging und eben auf die letzte Stufe trat, so soll sie und das ganze Schloß versunken sein. Ihre Fußstapfe sieht man noch jetzt in einem Stein, welcher eine Stufe dieser Brücke war, deutlich eingedrückt.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 235

General wallenstein
28.01.04, 16:51
Die Brotschuhe

Einer Bürgersfrau war ihr junges Kind gestorben, das ihr Augapfel war, und wußte gar nicht genug, was sie ihm noch Liebes und Gutes antun sollte, eh es unter die Erde käme und sie's nimmermehr sehen würde. Und wie sie's nun im Sarg auf das beste putzte und kleidete, so deuchten ihr die Schühlein doch nicht gut genug und nahm das weißeste Mehl, was sie hatte, machte einen Teig und buk dem Kind welche von Brot. In diesen Schuhen wurde das Kind begraben, allein es ließ der Mutter nicht Rast noch Ruh, sondern erschien ihr jammervoll, bis sein Sarg wieder ausgegraben wurde und die Schühlein aus Brot von den Füßen genommen und andere ordentliche angezogen waren. Von da an stillte es sich.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 237

General wallenstein
28.01.04, 16:52
Der Wassermann und der Bauer

Der Wassermann schaut wie ein anderer Mensch, nur daß, wenn er den Mund bleckt, man ihm seine grünen Zähne sieht. Auch trägt er grünen Hut. Er zeigt sich den Mädchen, wenn sie am Teich vorübergehen, mißt Band aus und wirft's ihnen zu.

Einmal lebte er in guter Nachbarschaft mit einem Bauer, der unweit des Sees wohnte, besuchte ihn manchmal und bat endlich, daß der Bauer ihn ebenfalls unten in seinem Gehäus besuchen möchte. Der Bauer tat's und ging mit. Da war unten im Wasser alles wie in einem prächtigen Palast auf Erden, Zimmer, Säle und Kammern voll mancherlei Reichtum und Zierat. Der Wassermann führte den Gast aller Enden umher und wies ihm jedes, endlich gelangten sie in ein kleines Stübchen, wo viel neue Töpfe umgekehrt, die Öffnung bodenwärts, standen. Der Bauer fragte, was das doch wäre. »Das sind die Seelen der Ertrunkenen, die hebe ich unter den Töpfen auf und halte sie damit fest, daß sie nicht entwischen können.« Der Bauer schwieg still und kam hernach wieder heraus ans Land. Das Ding mit den Seelen wurmte ihn aber lange Zeit, und er paßte dem Wassermann auf, daß er einmal ausgegangen sein würde. Als das geschah, hatte der Bauer den rechten Weg hinunter sich wohl gemerkt, stieg in das Wasserhaus und fand auch jenes Stübchen glücklich wieder; da war er her, stülpte die Töpfe um, einen nach dem andern, alsbald stiegen die Seelen der ertrunkenen Menschen hinauf in die Höhe aus dem Wasser und wurden wieder erlöst.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 52

General wallenstein
28.01.04, 16:53
Der Wassermann an der Fleischerbank

Der Wassermann kam auch wöchentlich in die Stadt zur Fleischerbank, sich da einzukaufen, und wiewohl seine Kleidung etwas anders war als der übrigen Menschen, ließ ihn doch jeder gewähren und dachte sich weiter nichts Besonders dabei. Allein er bezahlte immer nur mit alten durchlöcherten Groschen. Daran merkte ihn zuletzt ein Fleischer und sprach: »Wart, den will ich zeichnen, daß er nicht wiederkommt.« Jetzt, wie der Wassermann wiederkam und Fleisch kaufen wollte, ersah's der Metzger und ritzte ihn flugs mit dem Messer in den ausgestreckten Finger, worin er das Geld hinreichte, so daß sein Blut floß. Seit der Zeit ist der Wassermann ganz weggeblieben.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 53

General wallenstein
28.01.04, 16:54
Steinverwandelte Zwerge

In Böhmen, nicht weit von Elbogen, liegt in einem rauhen, aber schönen Tal, durch welches sich die Eger bis beinahe ans Karlsbad in mancherlei Krümmungen durchwindet, die berühmte Zwergenhöhle. Die Bewohner der benachbarten Dörfer und Städte erzählen davon folgendes. Diese Felsen wurden in alten Zeiten von kleinen Bergzwergen bewohnt, die im stillen da ihr Wesen trieben. Sie taten niemanden etwas zuleid, vielmehr halfen sie ihren Nachbarn in Not und Trübsal. Lange Zeit wurden sie von einem gewaltigen Geisterbanner beherrscht, einmal aber, als sie eben eine Hochzeit feiern wollten und darum zu ihrer Kirche ausgezogen waren, geriet er in heftigen Zorn und verwandelte sie in Stein, oder vielmehr, da sie unvertilgbare Geister waren, bannte er sie hinein. Die Reihe dieser Felsen heißt noch jetzt die verwünschte Zwergenhochzeit, und man sieht sie in verschiedenen Gestalten auf den Bergspitzen stehen. In der Mitte eines der Felsen zeigt man das Bild eines Zwergs, welcher, als die übrigen dem Bann entfliehen wollten, zu lange im Gemach verweilte und, indem er aus dem Fenster nach Hilfe umherblickte, in Stein verwandelt wurde.

Auch zeigt man auf dem Rathause zu Elbogen noch jetzt die verbannten ruchlosen und goldgeizigen Burggrafen in einem Klumpen klingenden Metall. Der Sage nach soll niemand, der mit einer Todsünde befleckt ist, diesen Klumpen in die Höhe heben können.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 32

General wallenstein
28.01.04, 16:56
Die Wichtlein

Die Wichtlein oder Bergmännlein erscheinen gewöhnlich wie die Zwerge, nur etwa dreiviertel Elle groß. Sie haben die Gestalt eines alten Mannes mit einem langen Bart, sind bekleidet wie Bergleute mit einer weißen Hauptkappe am Hemd und einem Leder hinten, haben Laterne, Schlägel und Hammer. Sie tun den Arbeitern kein Leid, denn wenn sie bisweilen auch mit kleinen Steinen werfen, so fügen sie ihnen doch selten Schaden zu, es sei denn, daß sie mit Spotten und Fluchen erzürnt und scheltig gemacht werden. Sie lassen sich vornehmlich in den Gängen sehen, welche Erz geben oder wo gute Hoffnung dazu ist. Daher erschrecken die Bergleute nicht vor ihnen, sondern halten es für eine gute Anzeige, wenn sie erscheinen, und sind desto fröhlicher und fleißiger. Sie schweifen in den Gruben und Schachten herum und scheinen gar gewaltig zu arbeiten, aber in Wahrheit tun sie nichts. Bald ist's, als durchgrüben sie einen Gang oder eine Ader, bald, als faßten sie das Gegrabene in den Eimer, bald, als arbeiteten sie an der Rolle und wollten etwas hinaufziehen, aber sie necken nur die Bergleute damit und machen sie irre. Bisweilen rufen sie, wenn man hinkommt, ist niemand da.

Am Kuttenberg in Böhmen hat man sie oft in großer Anzahl aus den Gruben heraus- und hineinziehen gesehen. Wenn kein Bergknappe drunten, besonders wenn groß Unglück oder Schaden vorstand (sie klopfen dem Bergmann dreimal den Tod an), hat man die Wichtlein hören scharren, graben, stoßen, stampfen und andere Bergarbeiten mehr vorstellen. Bisweilen auch, nach gewisser Maße, wie die Schmiede auf dem Amboß pflegen, das Eisen umkehren und mit Hämmern schmieden. Eben in diesem Bergwerke hörte man sie vielmals klopfen, hämmern und picken, als ob drei oder vier Schmiede etwas stießen; daher sie auch von den Böhmen Hausschmiedlein genannt wurden. In Idria stellen ihnen die Bergleute täglich ein Töpflein mit Speise an einen besonderen Ort. Auch kaufen sie jährlich zu gewissen Zeiten ein rotes Röcklein, der Länge nach einem Knaben gerecht, und machen ihnen ein Geschenk damit. Unterlassen sie es, so werden die Kleinen zornig und ungnädig.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 37

General wallenstein
28.01.04, 16:57
Regenbogen über Verurteilten

Als im Juni 1621 zu Prag siebenundzwanzig angesehene Männer, welche in den böhmischen Aufruhr verwickelt waren, sollten hingerichtet werden, rief einer derselben, Joh. Kutnauer, Bürgerhauptmann in der Altstadt, inständig zum Himmel empor, daß ihm und seinen Mitbürgern ein Zeichen der Gnade gegeben werde, und mit so viel Vertrauen, daß er sprach, er zweifle gar nicht, ein solches zu erhalten. Als nun der Vollzug der Todesstrafen eben beginnen sollte, erschien nach einem kleinen Regen über dem sogenannten Lorenzberge ein kreuzweis übereinandergehender Regenbogen, der bei einer Stunde zum Troste der Verurteilten stehenblieb.

Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 359

General wallenstein
28.01.04, 17:15
RABENKAMPF

In Sachsen erblickte man um 1074 viele Wunderzeichen, die das kommende Unheil vorahnen ließen. Auf der Magdeburger Wiese kämpften die Raben so heftig miteinander, daß mancher von ihnen tot auf dem Platze blieb. Noch viele andere heilige Zeichen offenbarten die Zukunft. Die Hirtenstäbe der Bischöfe wurden bei heiterer, ja sogar von Sommerhitze durchglühter Luft in den Kapellen so naß, daß sie jedem, der sie nur anfühlte, die Hand mit Wasser füllten. In Steterburg war ein hölzernes Kruzifix, das um dieselbe Zeit im Sommer von so reichlichen Schweißtropfen benetzt wurde, daß es nicht aufhörte zu schwitzen, nachdem es gar mit Tüchern abgewischt worden war, und selbst einige Näpfchen mit dem aufgefangenen Schweiße erfüllte. Als Bischof Werinher von Merseburg die Messe feierte und nach gewohnter Weise einen Teil des Brotes auf den Wein legte, sank das Stück auf den Boden des Kelches, gleich als ob es in Blei verwandelt worden wäre. Ein Priester im Magdeburger Bistum, im Dorfe Alten-Weddigen (im Amte Wanzleben), der sich weder durch Lasterhaftigkeit noch durch den Ruhm besonderer Tugend hervortat, sah bei der Messe den Wein sichtbar in Blut verwandelt. Durch dessen Röte und Dichtigkeit erschreckt, wagte er nicht davon zu kosten, sondern trug ihn mit großer Angst nach der Stadt Merseburg, wo er lange ehrfurchtsvoll aufbewahrt wurde.

Quelle: Brunos Buch vom sächsischen Kriege, ed. W. Wattenbach, Leipzig 1893

General wallenstein
28.01.04, 18:41
Jetzt kommen einige längere Werke, welche jedoch Unserer bescheidenen Meinung nach dennoch lesenswert sind.

General wallenstein
28.01.04, 18:42
Walther und Hildegund

Den Waltharius verfaßte im ersten Drittel des zehnten Jahrhunderts der Klosterschüler Eckehard in St. Gallen für seinen Lehrer Geraldus. Noch im elften Jahrhundert verbesserte der vierte Eckehard seinen Stil und sein Latein. Das Gedicht, ein Epos in Hexametern, wurde in den Klöstern gern gelesen und hat sich uns in vielen Handschriften erhalten.

Attila, der König der Hunnen, zog erobernd durch die germanischen Länder. Weil die Franken, die Burgunden und die Aquitanier zu schwach waren zum Widerstand, leisteten sie dem Eroberer hohe Tributzahlungen und gaben ihm Geiseln: Gibicho (Gibich) von Franken den Hagano (Hagen), Herrich von Burgund seine Tochter Hildgund (Hildegund), Alphere von Aquitanien seinen Sohn Walthari (Walther). Die drei Königskinder wurden am Hof der Hunnen sorgfältig und liebevoll erzogen. Attila war dem tapferen Jüngling geneigt und seine Gemahlin der Hildegund. Als Gibich starb, verweigerte sein Sohn Günther die Tributzahlung, und Hagen entfloh den Hunnen. Attila wollte den Walther nun dadurch für immer an seinen Hof binden, daß er ihn mit einer hunnischen Fürstentochter vermählte. Doch den Walther trieb es, wie seinen Freund, zur Heimat zurück; er wich dem König in geschickten Worten aus und verdoppelte dann sein Vertrauen durch einen glänzenden Sieg, den er für ihn gegen seine Widersacher erstritt. Als er müde vom Streit zurückkehrte, fand er Hildegund allein im Königsgemach. Sie reichte ihm einen Erquickungstrunk, er erinnerte sie daran, daß sie von Kind auf einander versprochen seien und fragte sie, ob sie nun ihm wieder in die Heimat folgen wolle. Hildegund wagte zuerst kaum den Ernst dieser Frage zu glauben, dann folgte sie gern seinen Vorschlägen. Walther veranstaltete nun zur Feier seines Sieges ein großes Gelage und berauschte dabei den Attila und sein Gefolge: Als sie im tiefen Schlafe lagen, entrann er mit der Geliebten. Das Mädchen hatte - sie war die Schatzmeisterin - aus dem Schatz der Königin zwei große Truhen Goldes entwendet, damit beluden sie Walthers Roß. Hildegund führte es mit der einen Hand am Zaum, mit der anderen trug sie eine Angelrute, damit beide sich durch Fischfang das Leben fristen könnten. Walther in schwerer Rüstung schritt voran.

Attila erwachte aus seinem Rausche erst den nächsten Mittag und rief umsonst nach Walther und die Königin ebenso umsonst nach Hildegund. Voller Grimm verbrachte der König eine schlaflose Nacht: Am nächsten Morgen bot er dem ungeheuren Lohn, der ihm die Flüchtlinge finge und wiederbrächte. Doch von seinen Edlen wagte das keiner.

Nach vierzig Tagen und nach beschwerlicher Wanderung gelangten Walther und Hildegund an den Rhein; sie waren auf versteckten Wegen mehr des Nachts als des Tages fortgeeilt und lebten unterwegs von Jagd und Fischfang. Bei Worms gab Walther dem Fährmann einen großen Fisch für die Überfahrt. Der Fährmann brachte diesen dem König, und bei der Tafel bestaunten alle die Größe des Tieres. Der Fährmann schilderte den Helden, der ihn so reich belohnt, seine Begleiterin und das mit Gold beladene Roß. Da sprang Hagen auf, denn er hatte erkannt, daß dieser Held kein anderer als Walther sein könne. Günther aber triumphierte, daß er nun den Schatz zurückerhalte, den Attila seinem Vater einst genommen, und trotz der Vorstellungen Hagens machte er sich mit ihm und elf Helden auf den Weg, um dem Walther seinen Schatz zu nehmen.

Dieser war unterdessen vor eine enge Felshöhle gekommen, von der aus er einen weiten Blick über die Landschaft hatte, und die selbst für ihn den besten Schutz bot. Nur ein schmaler Pfad führte zu ihr. Der Held ruhte von der Mühsal der Reise aus, Hildegund bewachte den Schlafenden. Als sie Reiter herankommen sah, weckte sie ihn sanft. Walther erkannte die Franken, von ihnen sagte er, brauche ich nur den Hagen zu fürchten, und der ist mein Freund. Günther aber schickte an Walther einen Boten: Gegen Schatz, Mädchen und Pferd solle er das Leben behalten. Walther wies diese unerhörte Anforderung zurück und bot dem Günther hundert Armringe. Hagen beschwor seinen Herrn, dies Angebot anzunehmen, aber Günther fertigte ihn mit solch höhnischen Vorwürfen ab, daß er sich zornig abwandte und von einem Hügel gleichmütig den Kämpfen zusah, die sich nun entwickelten. Walther erhöhte noch einmal sein Angebot; zweihundert Armringe soll Günther von ihm nehmen, aber auch das wies der habgierige König zurück und schickte seine Helden gegen Walther vor. Der aber streckte die elf Mannen Günthers einen nach dem anderen nieder.

Der König flehte nun Hagen um Hilfe. Dieser, im Widerstreit zwischen der Treue zum Freund und der zum Herrn, konnte doch die Erniedrigung seines Königs nicht verwinden. Deshalb schlug er ihm vor, den Walther nicht jetzt in seiner günstigen Stellung, sondern ihn am nächsten Tage auf freiem Feld zu überfallen. Günther war das zufrieden, und beide Helden ritten davon, damit Walther glaube, er sei nun ganz außer Gefahr.

Der Held von Aquitanien verschanzte sich in seiner Stellung, tröstete die Geliebte und erquickte sich durch Speise und Trank. Dann schlief er die erste, Hildegund die andere Hälfte der Nacht. Am anderen Morgen belud er die Pferde der Erschlagenen mit ihren Waffen. Da er nirgends einen Feind sah, ritt er mit Hildegund davon. Diese aber spähte ängstlich zurück und sah, wie zwei Reiter sie verfolgten. Walther schickte das Mädchen mit ihren Schätzen rasch in den Wald, er selbst stellte sich den Feinden entgegen. Die heftigen Schmähungen Günthers überhörte er, den Hagen erinnerte er an die alte Treue, und Hagen erwiderte finster, der Tod so vieler junger Helden habe die Freundschaft zwischen ihnen zerrissen, und er müsse auch seinen Neffen rächen, den Walther ihm erschlagen. Nun war also der Kampf unvermeidlich, es wurde für Walther der schwerste von allen. Günther war ja schwächlich, und ihn brauchte Walther nicht zu fürchten. Aber in Hagen hatte er einen zumindesten ebenbürtigen Gegner. Zweimal wehrte dieser von seinem König den Todesstreich ab, aber das konnte er nicht verhindern, daß Walther dem Günther sein Bein über dem Knie vom Leibe schlug. Dafür trennte er durch einen Schwertstreich Walthers Hand vom Arm, dieser aber stieß ihm mit seinem Dolch das rechte Auge aus und raubte ihm, Wange und Mund durchschneidend, sechs Zähne.

Hildegund, von Walther gerufen, reichte den nun kampfuntauglich gewordenen Helden den Becher und verband sanft ihre Wunden. Walther und Hagen spotteten in derben Reden über ihre und Günthers Verstümmelung. Dann setzten sie den König auf sein Pferd, und Hagen brachte ihn nach Worms, Walther aber zog nach der Heimat, führte dort die Geliebte heim und herrschte lange und glücklich über sein Volk.

In diesem Epos, das Eckehard so hübsch und lebendig erzählt, befremden uns Wunderlichkeiten; derselbe Attila, dem drei germanische Fürsten Tribut zahlen und Geiseln stellen, damit er sie verschone, der soll, um zweier Flüchtlinge willen, einen ganzen Tag verdämmern, eine schlaflose Nacht verbringen und keine Krieger haben, die es wagen, den Entflohenen zu folgen? Und schließlich soll er sich bei der Flucht seiner Schützlinge beruhigen? Und ein König und Fürst, was Günther doch ist, fällt feige, wie ein Wegelagerer, mit beschämend großer Übermacht über den Walther her, der ihm nichts entwendete und auf dessen Schätze nur Attila ein Recht hätte?

Solche Widersprüche in Handlungen und in Charakteren haben die reine alte Heldendichtung niemals entstellt, dagegen sind sie den Erzählungen eigentümlich, die das Volk weiterträgt, wenn es in seiner Art, indem es den Stoff häuft und vermischt, alte Heldensagen wiedergibt. Eine zur Volkssage gewordene Heldensage wird auch dem Eckehard als Stoff für seine Dichtung vorgelegen haben.

Natürlich hat die Forschung versucht, die Sagen wiederherzustellen, aus deren Vermischug deren Waltharins hervorging. Dies Unternehmen schien die reiche Überlieferung der sehr beliebten Walthersage zu begünstigen. Schon altenglische Fragmente des achten Jahrhunderts besingen den Walther, der, vom Kampf ermüdet, von Hildegund ermutigt, gegen Günther und Hagen sich hält. Die Thidreksaga gibt eine besondere Darstellung der Walthersage, und ein eigenes Gedicht des deutschen Mittelalters aus dem dreizehnten Jahrhundert in nibelungenähnlichen Strophen feiert wiederum den starken Walther. Leider sind uns nur spärliche Bruchstücke erhalten. Die Überlieferung, auf der sie beruhen, war anscheinend dem Dichter des Nibelungenliedes bekannt. Die Bruchstücke schildern, wie Volker den Walther und die Hildegund durch Günthers Land führt, wie beide Flüchtlinge jubelnd von Hildegunds Eltern begrüßt werden, und wie die Hochzeit des Paares feierlich gerüstet wird, sogar den Etzel und die Frau Helche lädt Walther ein. Über Niederdeutschland drang schließlich im vierzehnten Jahrhundert die Sage sogar nach Polen, wo sie sich dann weiter verwirrte.

In der Thidreksaga wird Walther von dem im Dienst des hunnischen Königs weilenden Hagen verfolgt; dieser erreicht ihn mit elf Begleitern. Walther tötet zuerst diese, verletzt dann den Hagen, daß er ein Auge verliert und beschämt an Attilas Hof zurückkehrt. Einige Forscher erklären diese Form der Walthersage für die ursprüngliche; sie sei auch deshalb alt, weil sie mit der Hildesage Verwandschaft zeige. Darin entführe ein Held einem anderen, der auch Hagen heiße, seine Tochter; die Entführte heiße dort Hilde, hier Hildegund (hild und gund heißt beides Kampf, Hildegund wäre also eine doppelte Hilde). Und in beiden Fällen eile Hagen den Verführern nach. Die Hildegund sei, wie die altenglischen Fragmente zeigten, in der alten Sage nicht so demütig und ängstlich gewesen wie bei Eckehard, sondern kriegerisch und wild wie die Hilde auch, und wie ihr Name es fordert. Ganz deutlich werde der alte Zusammenhang von Hilde- und Hildegundssage aus der polnischen Fassung der Walthersage, in welcher Walther die Hildegund wie Horand die Hilde durch seine Gesangskunst gewinne, ihrem Verlobten entführe und den ihr nachsetzenden Vater besiege.

Gegen diese bestechenden Vermutungen ist einzuwenden, daß der Erzähler der polnischen Fassung in seinem Bericht verschieden Stoffe und Erinnerungen, die er wohl aus mündlicher Überlieferung kannte, durcheinander gebracht hat. Als altes und echtes Zeugnis für die Walthersage kann diese Version nicht gelten, ihr Verfasser hat eben, durch die Ähnlichkeiten verführt, die auch den Forschern der Gegenwart auffielen, beide Sagen, Walthersage und Hildesage, miteinander verschmolzen. Die Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Geschichten sind außerdem ganz äußerlich; sie beschränken sich im Grunde auf die Namen und deuten auf keine Verwandschaft der Sagen. In keiner Fassung der Walthersage ist Hagen der Vater der Hildegund, das Enscheidende aber bei der Hildesage bleibt aber gerade, daß ein kühner Entführer dem Vater die Tochter raubt und daß er diese in den tragischen Konflikt zwischen Vater und Geliebtem treibt. Gegen die Ursprünglichkeit der Fassung der Thidreksaga spricht noch anderes: Einmal weilt Hagen in keiner anderen germanischen Sage am Hofe Attilas, dagegen ist er immer an Günthers Seite zu finden. Alsdann nimmt in den anderen Fassungen der Walthersage gerade Günther am Kampf gegen Walther teil, ja er ist der eigentliche Anstifter; so auch schon in den englischen Fragmenten.

Die Vermutungen der Forschung über Hagens Bedeutung in der Walthersage lehnen wir also ab, sehen aber ein, daß es schwer ist, sie durch andere und überzeugendere zu ersetzen. Soviel scheint klar: Der erste Teil der Walthersage ist eine Fluchtsage. Zwei Königskinder werden als Geiseln an Attilas Hof geschickt, sie entfliehen und entkommen durch Kühnheit und Glück den nachstellenden Verfolgern. Solche Flucht begab sich in der Völkerwanderung oft; die Geschichtsschreiber wissen manches davon. Wie sich Geschichten dieser Art in Sagen verwandelten, hat uns etwa das Beispiel von Attalus und Leo gezeigt, das Gregor von Tours, auch er ein Geistlicher, behaglich erzählte. Die nordische Überlieferung besitzt Sagen, die der von Walther und Hildegund noch ähnlicher waren. In der Kormakssaga entführt Bersi die Steinwör, die mit ihm gefangen ist. Beide fliehen auf einem Pferd, er verbirgt sie und das Pferd im Wald und kämpft dann glücklich gegen eine Übermacht der Feinde. In der Gönguhrolfssaga flieht Gönguhrolf mit einer Königstochter und zwei Goldkisten auf einem Pferd, und beide reisen mehr nachts als tags.

Die Kämpfe von Günther und Walther galten vielleicht ursprünglich dem Streit zweier Fürsten um einen Schatz, auf den beide ein Recht zu haben glaubten, oder den einer dem anderen geraubt hatte und nun wiedergeben sollte. Damit kann es zusammenhängen, daß Walther bei Eckehard dem Günther so reichen Ersatz anbietet. In der alten Sage war vielleicht die Situation etwa der verwandt, die uns das Lied von der Hunnenschlacht schilderte. Ähnlich wie in Waltharius bricht dort ein Kampf aus, nachdem unmäßige Forderungen eines Bruders und gerechte Anerbietungen des anderen zurückgewiesen sind. Und Walther von Aquitanien ist wie Anganty und Hlöd ein westgotischer Held. - Hieldegund ist eine burgundische Königstochter, Günther und Hagen sind Franken, Habgier und Kämpfe aber um der Schätze willen sind bezeichnend auch für fränkische und burgundische Fürsten. Gregor von Tours weiß davon nur allzuviel Geschichten. - Der schwächliche, feige, geldlüsterne Günther hier, der tapfere, wortkarge Hagen dort, der den König verachtet und ihm doch in der Not die Treue hält, sind wiederum Männer, wie sie uns die Geschichtsschreiber der Franken oft schildern. Das für die fränkische Geschichte bezeichnende Verhältnis zwischen König und Hausmeister spiegelt sich in ihnen sehr lebendig wieder.

In der Fluchtsage stehlen Walther und Hildegund den Schatz, in der Kampfsage kämpfen Helden um einen Schatz, der Schatz also brachte beide Sagen zusammen. Wo und wann sie verschmolzen sind, wissen wir nicht. Da aber die altenglischen Fragmente die Fluchtsage nicht erwähnen und nicht zu kennen scheinen, dafür aber den Kampf um den Schatz viel lebhafter und eindringlicher schildern als Eckehard, ist die Annahme erlaubt, daß im achtzehnten Jahrhundert die Kampfsage noch für sich bestand. Die anderen Wege der Sage liegen im Dunkel, und da die Forschung den erhellenden Strahl noch nicht fand, ist es das Geratenste, sie dort zu lassen. Bei Eckehard spielen sich die Kämpfe im Wasgenwald ab.

Die Darstellung des Eckehard zeigt noch einige Eigentümlichkeiten der alten germanischen Dichtung. Wenn wir von Einzelheiten absehen, wie von dem germanischen Lohn, den Attila dem verspricht, der ihm Walther und Hieldegund zurückbringt (er will ihn von Kopf zu Fuß mit einem Berg von Gold umgeben), so darf als germanisch gelten die Freude am Kampf, die Gier nach Schätzen, der Kampf zwischen Verwandten, die Skrupellosigkeit, mit der Hildegund ihre Wohltäterin, die Königin der Hunnen, beraubt, das nicht auf Liebe, sondern auf Treue gegründete Verhältnis von Walther und Hildegund. der Widerstreit der Empfindungen in Hagens Brust.

Den Charakter der Hildegund hat Eckehard freilich in das Weibliche und in das Christliche herübergezogen; sie ist bei ihm keine germanische Heldin, sondern demütig und gehorsam, und sie blickt ja vor dem letzten Kampf in ihrer Angst zurück und entdeckt, daß Günther und Hagen den Walther verfolgen. Im Gedicht des Klosterschülers finden wir, wie es nicht anders sein kann, auch sonst allerhand Christliches. Walther bittet seinen Troß, in dem er sich vermißt, alle Franken zu erschlagen, die ihm seinen Schatz rauben wollen, seinem Gott bald reumütig ab, und als der Held wirklich elf seiner Feinde getötet, dankt er voller Demut dem Herrn für seine Gnade und seinen Schutz. Sind auch die bösen und warnenden Träume des Hagen, daß er im Kampf ein Auge und Günther ein Bein verliert, unter dem Einfluß christlicher Dichtung eingeführt?

Nirgends in dem ganzen Gedicht schiebt sich aber das Christentum aufdringlich vor, und weniger von der Frömmigkeit, als von der Bildung seines Klosters ist die Arbeit seines Schülers ein schönes Zeugnis. Überall in Eckehards Versen finden wir den Einfluß der lateinischen Bibel, daneben den des im Mittelalter so gern studierten Prudentius und schließlich und vor allem den des Vergil. Am deutlichsten wird er in der Schilderung der Einzelkämpfe. Darin bietet Eckehard seine ganze Kunst und seinen Fleiß auf, um Abwechslung zu schaffen. Für ihn sind die Einzelkämpfe das Wesentliche seiner Dichtung; das Germanische ist ein beiläufiger, halb zufälliger Rest, der in der Sage nun einmal da war.

Häufung der Einzelkämpfe und in der Häufung wieder Abwechslung, das ist das eine Ziel von Eckehards Kunst. Charakterisierung, nicht Idealisierung, ist das andere Ziel, das geht aus der Schilderung von Hildegund, von Walther, von Attila, von Hagen und dem Günther hervor. Der Dichter zeigt uns weniger Helden als Menschen; ein germanischer Hagen hätte z.B. Günthers Vorwürfe nicht trotzig über sich ergehen lassen, sondern sofort zurückgegeben und dann zugeschlagen.

Eckehards künstlerische Bestrebungen gehören ganz in seine Zeit und in deren künstlerische Art. Er folgt auch darin ihrer Liebhaberei, daß er in seine Darstellung Komik, Derbheit und Übertreibung hineinmischt. Wenn Hagen ein Auge und einige Backenzähne, Günther ein Bein und Walther seine Hand einbüßt, und wenn die Helden nachher in derben Spaßen über ihre Verstümmelungen scherzen, so ist das als derbe Übertreibung gemeint. Natürlich beruht sie nicht auf alter sagenhafter Überlieferung, und weniger die Verletzung selbst als das sonderbare und etwas lächerliche Bild der grotesk verletzten Helden steht dem Dichter vor Augen.
In der Sage vom Riesen Einher, die wohl in unsere Zeit gehört, reitet der Held durch alle Wasser, zieht sein Pferd am Schwanz hinter sich, mäht die Hunnen und Wenden mit seinem Schwert nieder, wie mit der Sense Gras, hängt sie an den Spieß, und trägt sie über den Achseln wie Hasen oder Füchse. Nachher nennt er sie verächtlich quackende Fröschlein. - Der starke Adelgis, den wir schon kennen, bricht Hirsch- und Bären- und Ochsenknochen auf, als wären es Hanfstengel, und wirft sie in großen Haufen unter den Tisch, nachdem er ihr Mark verzehrt. Die Spange, die er am Arm trägt, fällt dem Kaiser Karl bis auf seine Schulter. - Von unserem Walther aber ging die Sage, er habe sich am Abend seines Lebens in ein Kloster zurückgezogen und sei dort Gärtner geworden. Im Auftrag des Klosters habe er einmal gegen Räuber gekämpft, auf seinem alten Pferde sitzend, das nun dem Bäcker sein Korn in die Mühle trug. Nachdem er sich zuerst, den christlichen Lehren des Abtes widerwillig gehorchend, seine Rüstung bis auf die Hose ausziehen ließ, schlug er dann auf einen Räuber seinen Steigbügel, so daß dieser besinnungslos niederfiel. Danach riß er einem Kalb das Schulterblatt aus und schlug damit weiter auf seine Angreifer ein, bis sie alle in voller Angst davonliefen. Einem versetzte er mit der Faust einen solchen Streich über dem Hals, daß ihm das zerbrochene Halsbein sogleich in den Schlund fiel.

Hier haben wir die Entsprechungen zu unserem Waltahrius. Erfindungen dieser Art liebte vor allem die französische Heldendichtung; der alternde Held im Kloster gehört zu ihren Lieblingsfiguren. Von Frankreich her wanderten solche Geschichten in späteren Jahrhunderten noch einmal in die deutschen Heldenepen, z.B. in das vom Mönch Ilsan und von Wolfdietrich. Beide, französische Poeten und Eckehard, werden diese Vorliebe für das Groteske, Derbe und Anschauliche von den Spielleuten übernommen haben, in deren Kunst solche Würze fast eine Notwendigkeit war, da sie ja auf der Wirkung des mimischen Vortrags fast ganz beruhte. Einwirkungen von den Spielleuten her zeigt der Waltharius auch an anderen Stellen, etwa wie Attila, als er vom Rausch aufwacht, die beiden Hände ächzend an seinen Kopf preßt und nachher, wie er von Walthers Flucht hört, nur mit Gebärden seinen Grimm kundgibt, oder wie die Recken den großen Fisch bewundern, den Walther als Lohn gab, und wie der Fährmann lüstern erzählt, in den Truhen seiner Fährgäste sei bei jeder Bewegung des Pferdes das Gold erklungen.

Wie weit hat uns die Betrachtung des Waltharius von der alten germanischen Heldendichtung fortgetragen! Der Stoff des Gedichtes ist, wenn auch keine alte germanische Heldensage, so doch eine Volkserzählung, die aus alten Heldensagen sich bildete. Ihre Menschen sind den Fürsten der Völkerwanderung ähnlich, allerdings mehr in ihren Menschlichkeiten als in ihrem Heldentum. Aber das Germanische tritt sehr zurück, und statt seiner sehen wir die Kunst des zehnten Jahrhunderts. Diese wollte Menschen schildern, erzählte viele Kämpfe, liebte aber Abwechslung in der Erzählung, und ihr besonderer Spaß waren die anschaulichen, derben und grotesken Übertreibungen und die lächerlichen und treffenden Gebärden der vortragenden Spielleute.

Quelle: Heldensagen, Genf 1996

General wallenstein
28.01.04, 18:43
König Rother

Die Geschichte von König Rother erzählt uns am ausführlichsten ein deutsches Spielmannsgedicht aus der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts. Wir geben im Anschluß an Ludwig Uhland und Friedrich Vogt seinen Inhalt wieder:

Am Westmeere sitzt König Rother in der Stadt zu Bare (Bari in Apulien). Er sendet Boten, die um die Tochter des Königs Konstantin zu Konstantinopel für ihn werben sollen. Als sie hinschiffen wollen, heißt er seine Harfe bringen. Drei Leiche (Spielweisen) schlägt er an; wo sie diese in der Not vernehmen, sollen sie seiner Hilfe sicher sein. Jahr und Tag ist um, die Boten sind nicht zurück. Konstantin, jede Werbung verschmähend, hat sie in einen Kerker geworfen, wo sie nicht Sonne noch Mond sehen. Frost, Nässe und Hunger leiden sie; mit dem Wasser, das im Kerker steht, laben sie sich. Auf einem Steine sitzt Rother drei Tage und drei Nächte, ohne mit jemand zu sprechen, traurigen Herzens seiner Boten gedenkend.

Auf den Rat Berchters von Meran, Vaters von sieben der Boten, beschließt er Heerfahrt, sie zu retten oder zu rächen. Das Heer sammelt sich; da sieht man auch den König Alprian, den kein Roß trägt, mit zwölf riesenhaften Mannen daherschreiten; der grimmigste unter ihnen, Widolt mit der Stange, wird wie ein Löwe an der Kette geführt und nur zum Kampfe losgelassen. Bei den. Griechen angekommen, nimmt Rother den Namen Dietrich an. Er läßt sich vor Konstantin auf die Knie nieder; vom übermächtigen König Rother geächtet, suche er Schutz und biete dafür seinen Dienst an. Konstantin fürchtet sich, die Bitte zu versagen. Durch Pracht und Übermut erregen die Schützlinge Staunen und Furcht. Den zahmen Löwen, der von des Königs Tischen das Brot wegnimmt, wirft Alprian an des Saales Wand, daß er zerschmettert wird. Wie leid es dem König ist, er rührt sich nicht. Rother verschafft sich, nach Berchters Rat, durch reiche Spenden großen Anhang.

Da klagt die Königin, daß ihre Tochter dem versagt worden, der solche Männer vertrieben. Die Tochter selbst möchte den Mann sehen, von dem so viel gesprochen wird. Am Pfingstfeste, wo sie mit ihren Jungfrauen zu Hofe kommt, gelingt ihr dies nicht vor dem Gedränge der Gaffer um die glänzenden Fremdlinge. Als es in der Kammer stille geworden ist, geht ihre Dienerin Herlind, Rother zu ihr zu bescheiden. Er stellt sich scheu, läßt aber seine Goldschmiede eilends zwei silberne Schuhe gießen und zwei von Golde. Von jedem Paare schickt er der Königstochter einen, beide für denselben Fuß. Bald kehrt Herlind zurück, den rechten Schuh zu holen und den Helden nochmals zu laden. Jetzt geht er hin mit zwei Rittern, setzt sich der Jungfrau zu Füßen und zieht ihr die Goldschuhe an. Dabei fragt er sie, welcher von ihren vielen Freiern ihr am besten gefalle. Sie will immer Jungfrau bleiben, wenn ihr nicht Rother werde. Da spricht er: "Deine Füße stehen in Rothers Schoß." Erschrocken zieht sie den Fuß zurück, den sie in eines Königs Schoß gesetzt. Gleichwohl zweifelt sie noch. Sie zu überzeugen, beruft er sich auf die gefangenen Boten.

Darauf erbittet sie von ihrem Vater, als zum Heil ihrer Seele, die Gefangenen baden und kleiden zu dürfen. Des Lichtes ungewohnt, zerschunden und verschwollen, entsteigen sie dem Kerker. Der graue Berchter sieht, wie seine schönen Kinder zugerichtet sind; doch wagt er nicht zu weinen.

Da spricht einer der Gefangenen zum anderen. "Sahst du den Greis da stehen, mit dem schönen Barte, der mich so wunderbar aufmerksam anschaute. Er wandte sich um und rang seine Hände, er wagte nicht zu weinen und zeigte doch die schmerzlichste Gebärde. Wie, wenn der gnädige Gott ein großes Zeichen tun will, daß wir von hinnen kommen? Fürwahr, Bruder, es mag wohl unser Vater sein." Da lachen sie beide voll Freude und voll Leid. Als sie darauf an sicherem Orte, wohlgekleidet, am Tische sitzen, ihres Leides ein Teil vergessend, schleicht Rother mit der Harfe hinter den Vorhang. Ein Leich erklingt. Welcher trinken wollte, der gießt es auf den Tisch; welcher Brot schnitt, dem entfällt das Messer. Vor Freuden sinnlos, sitzen sie und horchen, woher das Spiel komme. Laut erklingt der andere Leich; da springen ihrer zwei über den Tisch, grüßen und küssen den mächtigen Harfner. Die Jungfrau sieht, daß es König Rother ist.

Fortan werden die Gefangenen besser gepflegt; sie werden ledig gelassen, als der falsche Dietrich sie verlangt, um Ymelot von Babylon zu bekämpfen, der mit großem Heere gegen Konstantinopel heranzieht. Nach gewonnener Schlacht wird Dietrich mit den Seinigen zur Stadt vorangesandt, um den Frauen den Sieg zu verkünden. Er meldet aber, Konstantin sei geschlagen und Ymelot komme, die Stadt zu zerstören. Die Frauen bitten ihn, sie zu retten, und er führt sie zu seinen Schiffen. Als die Königstochter das Schiff bestiegen, stößt er ab; Rother entdeckt sie und fährt, begleitet von dem Segen der Königin, die ihren Lieblingswunsch erfüllt sieht, nun ihre Tochter des gewaltigsten Königs Frau geworden, in die Heimat.

Nun wird Rothers junge Gattin durch einen listigen Spielmann wieder zu ihrem Vater heimgebracht und Rother fährt mit seinen Mannen wiederum nach Konstantinopel und verbirgt sie in einem nahen Walde, während er selbst als Pilger verkleidet in die Stadt zieht. Dort kommt er gerade noch zur rechten Zeit, um Zeuge zu sein, wie seine Gattin gezwungen wird, dem Sohne jedes heidnischen Königs, den er besiegt hatte, die Hand zu reichen. Beim Hochzeitsmahle steckt er ihr einen Ring zu, an dem sie ihn erkennt; aber auch den anderen Anwesenden bleibt er nicht verborgen. Zum Tode verurteilt, wählt er sich selbst die Richtstätte vor jenem Walde, wo die Seinen versteckt liegen. Im entscheidenden Augenblick brechen die Getreuen hervor und richten ein furchtbares Blutbad unter den Heiden an. Konstantin demütigt sich vor Rother, und dieser kehrt mit der Gattin und seinen Mannen abermals heim.

Vollständig ist der König Rother nur in einer Handschrift erhalten, die aus dem Gebiet des Mittelrheins stammt. Kleine Bruchstücke einer anderen älteren Handschrift weisen nach Bayern. Die Darstellung in dieser ist weniger breit, durch formelhafte Wendungen und Reime nicht so aufgeschwellt und frischer und derber, persönlicher und ursprünglicher. Deshalb glaubt die Forschung mit Recht, daß das Gedicht von Rother von Bayern nach dem Rhein wanderte. Für die bayerische Heimat spricht auch, daß der Dichter bayerische Fürsten etwas aufdringlich rühmt und daß Erinnerungen an den Kreuzzug des Bayernherzogs Welf (1101) in den Teilen des Gedichtes nachklingen, die das Auftreten Rothers am Hof des Konstantin schildern.

Im Rother ist der letzte Teil, die Entführung der jungen Gattin durch einen Spielmann und ihre abermalige Gewinnung durch Rother offenbar der Zusatz eines Spielmanns, der nach Art der Erzähler für das Volk den Stoff wiederholte, an dem die Hörer schon einmal ihre Freude gehabt. Wir kennen auch die Quelle, aus der dieser erweiternde Spielmann schöpfte, es ist die Sage von Salman und Morolf, die eigentliche und bezeichnendste Spielmannsdichtung des Mittelalters. Sie kann sich in der Wiederholung und Variierung von Entführungsgeschichten nicht genug tun und preist dabei natürlich die Listen, Kühnheiten und Genialitäten der Spielleute gebührend. Die Salomonsage kam aus dem Orient ins Abendland und hat durch Vermittlung der Spielleute manche mittelalterliche Dichtung umgestaltet, von den alten Heldendichtungen außer dem König Rother die von Hetel und Hilde.

Die Thidreksaga, die uns die Sage von Rother ebenfalls erzählt, nur daß der Held bei ihr den Namen Osantrix führt, hat nun wirklich die angehängte Entführung des deutschen Gedichtes nicht und steht der urprünglichsten Form der Rothersage also näher. Der Thidreksaga fehlen außerdem Berchter von Meran und seine Söhne. Auch diese gehören nicht in die Geschichte von Rother, sondern in die des Dietrich von Bern. Berchter stammt aus Meran (d.h. aus Dalmatien und Istrien, das ist in der Sage das Stammland der Goten) und ist dem Hildebrand verwandt, ein im Kampf ergrauter Recke, der dem vertriebenen und geliebten König die Treue hält und ihm gern alles opfert, was er besitzt, auch seinen besten Schatz: seine Söhne. Da Rother sich als vertriebener König ausgibt, und sich nach dem vertriebenen König der germanischen Heldendichtung, nach Dietrich nennt, lag es nahe, die Gestalt Berchters von Meran und seiner Söhne mit ihm zu verbinden; besonders empfahl sich das für einen Spielmann. Denn durch diese o Einfügung und die mit ihr verbundene, in der damaligen Kunst sehr geliebte Wiedererkennungsszene gewann er die ihm erwünschte Sentimentalität und Rührung für seine Geschichte. Zugleich konnte er durch die Ausmalung von Rothers musikalischen Künsten wirksame Reklame für die eigene Kunst machen. Noch ein anderer König der Germanen, den die Seinen von seinem Erbe vertrieben hatten, hieß Dietrich, es war der fränkische Wolfdietrich. An ihn hat sich, wie wir bald erfahren werden, vor allem die Person Berchters und seiner Söhne gehängt.

In der Thidreksaga verläuft nun die Geschichte von Rother so: Osantrix wirbt um Oda, die Tochter des Königs Milias von Hunnenland. Er schickt zuerst sechs Ritter, die wirft Milias ins Gefängnis; dann schickt er seine Neffen; denen widerfährt das gleiche. Nun kommt er selbst mit seinen Mannen und vier Riesenbrüdern. Er bittet den König Milias um Schutz vor Osantrix, und als dieser ihn dem zu gewähren zaudert, tritt Aspilian, einer der Riesen, vor Wut bis an die Knöchel in die Erde. Einen anderen Riesen Wiedolt hatte man wie im deutschen Rother schon vorher an die Kette legen müssen. Milias erzürnt sich; da schlägt ihn Aspilian mit der Hand nieder, und Osantrix und seine Mannen erschlagen alle, die sie in der Stadt finden, befreien die Gefangenen und lassen sich Oda bringen. Nun folgt die Geschichte mit dem goldenen und silbernen Schuh. Osantrix gibt sich zu erkennen, versöhnt sich mit Milias und führt die Braut heim. Der Bericht, an den die Thidreksaga sich hielt, erzählte anscheinend mit besonderer Genugtuung die Kraftstücke und die Wildheit der riesischen Begleiter. Nachdem wir bei Waltharius ähnliches kennengelernt, dürfen wir vermuten, daß diese Kraftstücke und die Riesen selbst eine Zutat des zehnten Jahrhunderts sind.

Die Heimat der alten Rothersage ist, wie wir schon andeuteten, wahrscheinlich die Lombardei; es gibt nämlich einen longobardi-schen König Rother, und die longobardische Sage von Authari steht der von Rother, wenn wir uns diese ohne Riesen, ohne Berchter und ohne das letzte Anhängsel vorstellen, recht nah. Es ist eine Werbungssage, in welcher der königliche Werber, nachdem er von der Schönheit seiner Braut gehört, selbst vor ihr erscheint, den anderen verheimlicht er, daß er selbst kam, der Jungfrau, die er begehrt, gibt er sich in jugendlicher Tollkühnheit zu erkennen. Das Motiv von dem goldenen und silbernen Schuh ist novellistisch und von den Spielleuten wohl ausgestaltet. Die Szene selbst, in der Rother sich vor der Königstochter enthüllt, trägt sogar noch im deutschen Spielmannsgedicht die Kennzeichen germanischer Kunst und ihres dramatischen Lebens. Da Authari um eine bayerische Königstochter wirbt, so wäre, gibt man die lombardische Heimat des Rother zu, leicht zu verstehen, warum die Sage von den Longobarden zu den Bayern wanderte. In der Lombardei selbst kann sie auch die ersten grotesken Zutaten zu sich genommen haben, denn dies Land war, nachdem seine heimische Kunst verfiel, den Nachfahren der römischen Mimi, den Spielleuten, besonders ausgesetzt; und schon den Peredo führte die lombardische Sage nach Konstantinopel und rühmte ihm wie dem Asprian die Bezwingung eines Löwen nach. Die Geschichte vom Riesen Adelgis ist ja auch longobardisch.
Die Entwicklung des Rother hat sich uns nun so dargestellt: Eine longobardische "Werbungssage aus dem siebenten oder achten Jahrhundert, wohl in Form eines Liedes, war der Anfang. Sie feierte die Kühnheit des königlichen Jünglings und schilderte die Scham und den Stolz der Spielleute, die dann eine Reihe von Riesen in das Gefolge des Königs aufnahmen, die Szene, in der sich der Werber zu erkennen gibt, novellistisch und anmutig ausgestalteten und auch die Vorgeschichte der Werbung aufputzten und bereicherten. Dann wanderte das Gedicht nach Bayern und weiter nach Deutschland nordwärts herauf, dabei änderten sich seine Namen. In dieser Gestalt etwa bringt es uns die Thidreksaga. In Bayern aber erweiterte es sich, wiederum die Spielleute dehnten es, sie fügen den Bercher hinzu und verdoppeln mit Hilfe der Salomonsage die Entführung der Frau. So vollendete sich das deutsche Spielmannsgedicht von König Rother. Viel Germanisches ist auch dieser Dichtung nicht geblieben; sie ist ganz und gar Eigentum der Spielleute geworden. Aber sie ist in ihrer Art wiederum ein Beispiel, wieviel Erzählungsstoff auch in den alten germanischen Heldenliedern schlummerte, und wie dieser, wenn nur die Leute ihn erkannten, die das Erzählen um des Erzählens willen betreiben, aufleben und sich vertreiben kann. In Werbungs- und Entführungssagen haben dann ja gerade die Spielleute geschwelgt und sie allzugern wiederholt und vervielfältigt. Wieviel fremde, antike und orientalische Zutaten sie aber auch ausschmückend hinzufügten, den Anfang und den Grund dieser Werbungsgeschichten zeigt doch die germanische Heldendichtung.

Quelle: Heldensagen, Genf 1996

General wallenstein
28.01.04, 18:45
Wolfdietrich

Die Sage von Wolfdietrich und seinem Geschlecht ist fränkischer Herkunft. Der Vater des Wolfdietrich heißt in der Sage Hugdietrich. Hugo Theodoricus, d.i. Hugdietrich, ist aber als Name von Chlodwigs Sohn überliefert. Es ist der gleiche Dietrich, den wir als Überwinder Irminfrieds aus der germanischen Heldendichtung kennen. Wir hörten damals auch, welcher Vorwurf ihn zum Haß und Kampf gegen Irminfried antrieb: der Vorwurf unehelicher Geburt. Seine Brüder, erzählen uns die Geschichtsschreiber, mißgönnten ihm, dem Bastard, die Ansprüche auf sein Reich, und er hatte manchen Kampf zu bestehen, bis er sich durchsetzte. Diese Streitigkeiten der Geschichte klingen in den Kämpfen nach, die der Wolfdietrich der Sage führt. Die Sage verschmolz aber, wie so oft, die Schicksale des Vaters, des Hugo Theodoricus, und die seines Sohnes, des Theodebert. Dieser mußte in der Wirklichkeit Ähnliches erleben wie der Vater, und darum begreift es sich leicht, daß sie in der Erinnerung späterer Geschlechter zusammenfielen. Nicht nur dem Bruder, auch dem Sohne des Bruders machten nämlich Chlodwigs echte Söhne das Reich streitig. Theodebert aber behauptete sich durch die Treue und Standhaftigkeit seiner Dienstmannen.

Der Hergang des alten Liedes über die Kämpfe des Wolfdietrich war demnach wohl der: Die Brüder überfallen und vertreiben den Bastard, dem sie das Reich nicht gönnen, im Elend halten ihm seine Recken die Treue, er gewinnt sich Anhänger, bekämpft mit ihnen wieder die Brüder und besiegt sie. Ein Lied dieser Art entspräche ungefähr den uns bekannten Liedern von den Schildungen und von dem Kampf um Finnsburg.

Dem treuen Ratgeber stellte das Lied den bösen gegenüber. Dieser entwickelte sich wieder aus der Geschichte und zwar aus der fränkischen Geschichte. Die allmächtige Stellung des fränkischen major domus, des königlichen Hausmeisters, gab ihm seine Besonderheit und seine Gewalt, die er dann in unserer Sage mißbraucht, um den Bastard zu verdrängen und um seine Mutter zu verleumden. Dieser böse Ratgeber hieß Sabene; schon der Widsith kennt und nennt ihn, bei ihm heißt er Seofola.

Es hatte nun die Sage vom Wolfdietrich eine große Ähnlichkeit mit der des gotischen Theoderich. Wie dieser wurde der fränkische Theoderich von seinem Erbe vertrieben, lebte nur von wenigen Getreuen begleitet in der Verbannung und eroberte sich schließlich sein Reich zurück. Sogar die Namen beider Herrscher waren die gleichen. Es ist darum kein Wunder, wenn eine Sage die andere beeinflußte, und wenn aus der Sage Dietrichs von Bern der treue Berchter von Meran in die Sage von Wolfdietrich herüberwanderte.

In den deutschen Geschichten des dreizehnten Jahrhunderts von Wolfdietrich hat Berchter sechzehn Söhne; sechs fallen im Kampf mit den Brüdern Wolfdietrichs, und Berchter sieht jedesmal, wenn
einer den Todesstreich empfängt, lachend zu seinem Herrn herüber und sucht ihn zu trösten. Als dann Wolfdietrich seinem wilden Schmerz um den Verlust der Jugendgespielen sich hingibt, fährt ihn der Alte rauh an, ihm und seinem Weib sollte er die Tränen überlassen, er müsse jetzt an die Flucht denken. Mit den lebenden Söhnen deckt Berchter dem Herrn den Rückzug und ermöglicht ihm die Flucht. Dann harren sie alle auf Wolfdietrichs Wiederkehr. Sie werden von den Brüdern Wolfdietrichs gefangen genommen und müssen in Jammer und Not ihr Leben hinbringen, je zwei zusammengeschmiedet, werden sie auf die Burgmauer als Wache gesetzt. Berchter stirbt vor Herzeleid, als Wolfdietrich nicht zurückkehrt. Als der König endlich, als Pilger verkleidet, zu den Söhnen kommt, sagen sie ihm, den Tod des Vaters wollten sie wohl verschmerzen; den Tod ihres Herrn würden sie niemals verwinden. Mit den Worten: "Lebtest du, Wolfdietrich, du ließest uns nicht in solcher Armut", sei Berchter dahingegangen. Um ihres Herrn willen bieten sie dem Pilger ihren Panzer an, als er sie um Gottes Willen um ein Stück Brot bittet. Das sei ihre einzige Habe, und von dem Erlös könne er sich Brot und Wein kaufen. Wolfdietrich gibt sich nun zu erkennen. Berchters Söhne flehen Gott an, er möge ihre Bande lösen, wenn der Pilger wahr gesprochen. Da springen ihre Fesseln, sie eilen von der Mauer, öffnen das Tor, erobern die Stadt und besiegen Wolfdietrichs Brüder. Mitternachts bemerkt Wolfdietrich einen Sarg neben dem Sarg seines Vaters; es ist der Berchters. Der König reißt die Steine vom Sarg und umarmt und küßt den Toten, dessen Leichnam noch unzerstört ist. Die Söhne entschädigt er durch reichen Lohn für alle Leiden, die sie um seinetwillen erduldet.

Die Treue des Gefolgsmannes gegen den Herrn ist die gemanische Grundlage dieser Erzählung. Aber wie weichlich und sentimental, wie unnatürlich und romanhaft überspannt, wie unwahr erscheint uns diese versechzehnfachte Treue und dieser Jammer, wenn man sie etwa mit der vergleicht, die der Hildebrand des alten Liedes für seinen Dietrich hatte, und mit dem Weheruf, der seinem gequälten Vaterherzen entringt, als er den Sohn verlieren soll. Den stumpfen Hörern, auf die der Dichter des Wolfdietrich wirken wollte, mußte er wohl solche Übertreibungen vorsetzen, damit sie die Treue des Lehensmannes überhaupt fühlen und annehmen und darüber die gebührenden Tränen vergießen sollten. Spielleute und Christentum haben hier zu gleichen Teilen die alte Heldendichtung verweichlicht und ihre hohe und große Hingebung, ihre Überwindung des Todes herabgezogen. Nichts war dem Wesen des germanischen Helden entgegengesetzter als unerwartete und wunderbare Erlösungen, als weinerliche Rührung und als Lächeln in Tränen. Und gerade damit hat der Spielmann die Geschichte von Berchter und seinen Söhnen angefüllt.

Wenn nun die Dichtungen von Wolfdietrich vom dreizehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert immer von neuem gelesen und umgedichtet wurden und sich einer besonderen Beliebtheit erfreuten, so kann, wie uns die Geschichte von Berchter zeigt, der Grund dieser Beliebtheit nicht der Geist und die Kunst der alten großen Lieder gewesen sein. Die Heldensage, aus der der Wolfdietrich hervorging, war in den späteren deutschen Gedichten auch nur der Rahmen, und nicht nur den Berchter und das Ende der alten Dichtung haben die Spielleute des dreizehnten Jahrhunderts auf ihre Art umgebildet. Die Gestalt des bösen Ratgebers hat sich zum Beispiel in ihren Händen auch verwandelt, in den bösen Ratgeber, den wir aus Märchen und Legende kennen. Nachdem er die Königin verleumdet hat und in die Verbannung geschickt ist, weiß er nach dem Tode des Hugdietrich die Huld seiner Witwe wiederzugewinnen, verdrängt den treuen Berchter und reizt die beiden älteren Brüder gegen den Jungen auf, ja er bringt sie dazu, daß sie die Mutter, seine Wohltäterin, vertreiben.

Der eigentliche Inhalt und das Anziehende für die wundersüchtigen und unterhaltungslüsternen Zeitgenossen waren in den Dichtungen des späten Mittelalters die Abenteuer, die Wolfdietrich während seiner Verbannung erlebte, die sich fortwährend vermehrten, veränderten und durcheinanderschoben und derentwegen auch sein Vater und seine Geburt mit sonderbaren Erfindungen umgeben wurden.

Wie Wolfdietrich selbst, ist sein Vater Hugdietrich aus einer Vermischung von Vater und Sohn hervorgegangen. Den Namen hat er von Chlodwigs Sohn, die Werbungsgeschichte, die auf ihn die Dichtung des dreizehnten Jahrhunderts überträgt, hat sich aus der alten Sage von Chlodwigs Werbung gestaltet.

Das Heroische dieser alten Sage: Crothilds Rache hat unser Dichter abgestreift. Manches in ihr klang aber auch nach Novelle und Abenteuer: Von Crothilds Schönheit waren die Boten Chlodwigs erfüllt. Ihr Onkel hielt das Mädchen in strengem Gewahrsam und versagte sie dem Werber. Der Bote des Königs mußte sich verkleiden, die Christin wollte dem Heiden nicht folgen. Diese Bestandteile hat der Dichter des dreizehnten Jahrhunderts verstärkt: Walgunt von Salneck (Salonichi) hat eine Tochter Hildburg, deren wunderbare Schönheit der treue Berchter dem Herrn rühmt. Doch der Vater hält sie in einen Turm eingesperrt und will sie keinem Mann geben. Hugdietrichs gelbes Haar reicht ihm bis zu den Hüften, wir erkennen darin den stolzen Schmuck der fränkischen Könige. Dem Spielmann aber war das lange Haar das Zeichen des Weibes, so gab er dem Jüngling ein rosenfarbenes Antlitz zu den goldenen Locken und berichtete, er habe sich als Mädchen verkleidet und sich mit großem Gefolge nach Salneck begeben. Der Griechenkönig, sein Bruder, sagte er dort, habe ihn vertrieben. Hildburg fand solches Gefallen an der lieblichen Jungfrau, daß sie bat, man möge sie ihr zur Gespielin geben. Wirklich wurde sie mit ihr in den Turm eingeschlossen und beschämte die Königstochter und ihre Gespielinnen durch ihre Kunstfertigkeit in weiblichen Handarbeiten. Nach länger als einem halben Jahr erschien der alte Berchter, wie es vorher verabredet war, und brachte die Meldung, nun sei der Zorn des Bruders verraucht. Hugdietrich kehrte also zurück. Nach kurzer Zeit genas Hildburg eines Sohnes, und als Hugdietrich das hörte, kam er noch einmal, aber als Mann, zur Geliebten, küßte sein Kind, versprach ihm Konstantinopel als Erbe, nahm Hildburg zur Frau und führte sie heim.

Die Erfindung, daß sich der Werber als vertrieben ausgibt, brachte uns schon der Rother, und die Geschichte von Hetel und Hilde wird sie uns noch einmal bringen. Sie gehörte, wenn man so sagen darf, zum Inventar der Werbungsgeschichten, die uns die Spielleute erzählen, auch die Idee, daß der Mann, als Frau verkleidet, zur Geliebten dringt, ist uns nicht fremd, die Sage von Hagbard und Signe kannte sie. Dort aber, im dänischen Heldenlied, erschraken die Dienerinnen der Königstochter über die männliche Rauheit des Wesens, das sich als Mädchen ausgab, und sie nannte sich stolz und trotzig eine Walküre. In der deutschen Spielmannsdichtung ist Hugdietrich weiblicher noch als ein Weib, und die Geschichte seiner Werbung wird nicht ohne versteckte Lüsternheit vorgetragen. Mit der alten Heldenart hat sie wieder nichts gemein, und es ist sehr möglich, daß unser Spielmann die ganze Erfindung nicht aus der germanischen Überlieferung, sondern aus einer der spätgriechischen Geschichten holte, die das Mittelalter seiner Zeit kannte und liebte.

Von Wolfdietrichs Geburt erzählt die Geschichte von Hugdietrich noch weiter, daß Hildburg das Kind vor ihren Eltern verbarg. Einmal trat ihre Mutter unerwartet in den Turm, da ließ sie das Kind in das Gebüsch am Fuß des Turmes herab. Dort fand es ein Wolf und trug es als Speise zu seinen Jungen in die Höhle, doch die waren noch blind und taten dem Kleinen kein Leid. Am nächsten Tag, während Hildburg verzweifelt und umsonst nach ihrem Knäblein suchte, fand es ihr Vater bei den Wölfen, entzückte sich über seine Schönheit, trug es zu seiner Frau und ließ es taufen. Nun begibt sich eine Familienszene. Als die Mutter ihrer Tochter das Wunder erzählte, da offenbarte sich ihr Hildburg und erhielt ihre Verzeihung. Die Mutter aber brachte des Nachts im ehelichen Bette das Geheimnis ihrem Manne bei. Der war zuerst sehr ungebärdig und stellte dann nach Art der Männer durch eine genaue Untersuchung den Hergang der Dinge noch einmal fest. Als ihm dabei klar wurde, daß er eine gewisse Schuld daran habe, ließ er den Vater seines Enkelchens holen, der denn auch gern den Sohn anerkannte.

Viel hübscher und kindlicher erzählt eine andere Fassung des Wölfdietrich die Geburt unseres Helden. Wir geben sie mit Ludwig Uhlands Worten wieder:

Zu Konstantinopel herrschte ein gewaltiger König namens Hugdietrich; zwei Söhne hat ihm seine Gemahlin geboren, beide hießen Dietrich. Einst mußte er zum Kriege ausziehen. Reich und Gemahlin empfahl er dem Schütze des Herzogs Sabene. Dieser aber suchte die Königin zu unerlaubter Liebe zu verleiten; als sie ihn zürnend abwies, verredete er seine schmähliche Zumutung, es sei nur eine List gewesen, um ihre Treue zu erproben. Die Königin glaubte ihm und versprach, darüber zu schweigen. Noch in Abwesenheit des Königs genas sie eines dritten Sohnes, den sie bei seiner Abreise im Schöße getragen. Der König freut sich bei seiner Heimkehr des neugeborenen Kindes. Sabene aber verleumdet die Königin, sie habe dem König die Treue gebrochen, und der junge Sohn sei eines teuflischen Unholds Kind.

Der König hat einen treuen Mann, Herzog Berchter von Meran; diesem befiehlt er, das Kind zu töten. Lange weigert sich der Treue, erst die schrecklichsten Drohungen bringen ihn zum Nachgeben. Er empfängt das Kind und reitet mit ihm in den Wald; aber wie das unschuldige Kind mit seinen Panzerringen lachend spielt, bringt er den Mord nicht übers Herz, und doch schämt er sich wieder, um eines Kindes willen so zage zu sein, da er doch in heißer Schlacht schon gar manchen Mann gefällt. So kommt er, schwankenden Sinnes weiterreitend, zu einem Gewässer, in dem Seerosen blühen. Hier legt er das Kind an den Rand und überläßt es seinem Geschick; er meint, es werde nach Kinderart nach den Wasserrosen haschen, und so werde sich des Königs Wille erfüllen, ohne daß ihn Blutschuld belaste. Aber das Kind spielt auf der Wiese bis in die Nacht hinein. Da kommen Wölfe aus dem Wald und schnobern es an; das Kind greift nach ihren Augen, die in der Dunkelheit wie Lichter glänzen, aber keines der Tiere tut ihm etwas zuleide. Darüber staunt Berchter und beschließt, den Knaben zu retten; einem Wildhüter gibt er es zur Erziehung und nennt es Wolfdietrich.

Die Königin, der das Kind, während sie schlief, weggenommen worden war, bricht beim Erwachen in lautes Wehklagen über den Raub aus, der König schiebt, nach des bösen Sabene Rat, alle Schuld auf Berchter. Berchter wird gefangen genommen und vor Gericht gestellt; niemand wagt für ihn einzutreten, da der König auf den Rat des tückischen Sabene allen seinen Mannen es verboten. Schon soll das Urteil gesprochen werden, da tritt Berchters Schwager, Baltram, in den Ring und verlangt ein Gottesurteil; wer Berchter des Mordes bezichtige, der solle mit dem Angeklagten kämpfen. Sabene weigert sich, und als ein Schriftstück eröffnet wird, worin Berchter den ihm gewordenen Auftrag und die Schicksale Wolfdietrichs berichtet, ist seine Schuld offenbar. Sabene soll gehängt werden, aber eingedenk der früheren Freundschaft schenkt ihm auf seine flehentlichen Bitten Berchter das Leben. Doch muß er als Verbannter das Land verlassen. Wolfdietrich aber wird aus dem Walde geholt und von Berchter in Gemeinschaft mit den eigenen Söhnen erzogen.

In dieser Erzählung lebt die Unschuld und Einfalt unserer Legenden und Märchen, und wir entzücken uns daran wie an den Geschichten, nach deren Vorbild sie wohl geschaffen wurde, wie an der von der armen Genovefa und dem bösen Golo oder an dem Märchen von der verleumdeten unschuldigen Königin oder an dem von dem armen Kind, das eine grausame Stiefmutter töten lassen wollte, und das zu töten der Diener doch nicht über das Herz brachte.

Dem ganzen Bericht von Wolfdietrichs Geburt hat das Märchen und die Legende einer alten Sage eine Lieblichkeit und Anmut geschenkt, die vorher ihrem Wesen fremd war und an der wir uns dankbar erquicken, wenn sie auch nicht heroisch ist.

Die alte Sage, der die beiden Berichte von Wolfdietrichs Geburt entsprangen, ist, wie wir vermuteten, eine Sage, wie sie gerade die alten Franken liebten: Daß ein Held darum so kräftig und unbändig war, weil er von Wölfen abstammt. Von Krafttaten und Unbändigkeiten des Knaben Wolfdietrich wissen auch die Spielleute manches zu melden, sie gleichen denen des starken Hans im Märchen und denen des jungen Siegfried in späterer Überlieferung.

Von den Heldentaten des vertriebenen Wolfdietrich wurde sehr gefeiert die, daß er einen Drachen und seine Brut besiegte, der einem mächtigen König Ortnit das Leben genommen. Es war ein schwerer Kampf, das eigene Schwert sprang dem Helden in Stücke, und er siegte erst, als er in der Höhle, in die ihn der Drache geschleppt, Ortnits Schwert fand. Nach Art des Märchens erwies er sich als der Sieger, indem er als Wahrzeichen einem lügnerischen Nebenbuhler, der die Köpfe brachte, die Zungen des Untiers entgegenhielt. Der Königin gab er sich dann durch einen Ring zu erkennen. Dann wurde Wolfdietrich der trotzigen Vasallen der Königin Herr, und sie reichte ihm ihre Hand und die Krone. Nun erst konnte er ausziehen, um Berchter und seine Söhne zu befreien.
Den Inhalt des Gedichtes von Ortnit erzählt uns Ludwig Uhland so:

Ortnit, der junge König in Lamparten (Lombardei) auf der Burg zu Garden (Garda), findet keine kronwürdige Braut, weil alle Könige diesseits des Meeres ihm dienen. Darum will er nach der Tochter des Heidenkönigs Machorel zu Muntabur fahren, obgleich schon viele Häupter der Werber um sie auf den Zinnen der Burg stecken. Zuvor reitet er in die Wildnis am Gartensee (Gardasee), von dem wunderkräftigen Stein eines Ringes geleitet, den ihm die Mutter gegeben. Vor einer Felswand, aus der ein Quell fließt, sieht er auf blumigem Anger eine Linde stehen, die fünfhundert Rittern Schatten gäbe. Unter der Linde liegt ein schönes Kind im Grase, köstlich gekleidet, mit Gold und Gesteinen reich geschmückt. Es ist der Zwergkönig Alberich, dem Berge und Tale dienen. Lange neckt und prüft der starke Zwerg den Jüngling: Zuletzt entdeckt er sich als dessen Vater. Dann geht er in den Berg und holt für Ortnit eine leuchtende Rüstung samt dem herrlichen Schwert Rose. Zum Abschied verspricht er, dem Sohne stets gewärtig zu sein, solange dieser den Ring habe.

Die Zeit der Meerfahrt ist herangekommen. Zu Messina eingeschifft, fahren sie erst nach Suders, der Heiden Hauptstadt, wo vor allem Iljas, König aller Reußen, Ortnits Oheim, als Heidenvertilger wütet. Von da ziehen sie vor die Königsburg Muntabur, auf des Gebirges Höhe. Alberich hat seines Wortes nicht vergessen; er saß die ganze Fahrt über auf dem Mastbaume, keinem sichtbar, als wer den Ring am Finger hatte. Überall schafft er Rat und Hilfe. Jetzt weist er die Straße nach Muntabur, dem Heere mit dem Banner vorreitend; aber nur Roß und Fahne sind sichtbar, der Träger nicht. Er neckt den Heidenkönig, wenn dieser nachts, sich zu kühlen, an die Zinne tritt, rauft ihm den Bart, wirft das Wurfgeschütz und die Särge der Heidengötter in den Graben. Er zeigt der Königstochter von der Zinne den Helden Ortnit, wie er herrlich im Streite geht, sein Harnisch leuchtend, blutig das Schwert. Da spricht sie: "Er ist eines hohen Weibes wert." Alberich führt sie heimlich zur Burg hinaus, wo Ortnit sie vor sich zu Rosse gebt und mit ihr davonrennt. Mit den verfolgenden Heiden besteht der Held siegreichen Kampf; des Heidenkönigs schont er um der Tochter willen. Auf dem Meere wird sie getauft und erhält den Namen Liebgart (Sidrat nach anderen Fassungen), nach der Heimkunst aber wird ihre Krönung zu Garten gefeiert.

Der alte Heidenkönig, Versöhnung heuchelnd, sendet reiche Geschenke. Zugleich aber bringt sein Jäger zwei junge Lindwürmer mit, die er im Gebirg oberhalb Trient in einer Felsenhöhle großzieht. Nach Jahresfrist kommen sie heraus und schweifen gierig umher. Ihr Pfleger selbst ist ihnen kaum entronnen. Niemand wagt mehr die Straße zu ziehen; die Äcker werden nicht eingesät, die Wiesen nicht gemäht. Bis vor die Burg von Garten wird das Land verwüstet. Tod droht dem Helden, der sie zu bestehen wagt.

Da beschießt Ortnit, der Not des Landes zu steuern. Umsonst fleht ihn die Unheil ahnende besorgte Gattin, von dem Unternehmen abzustehen; er reißt sich aus ihren Armen und heißt sie, wenn er fallen solle, dereinst seinem Rächer ihre Hand zu reichen. Ohne Gefolge reitet er in den wilden Wald, um den Lindwurm aufzusuchen und zu bestehen. Fahrtmüde rastet er unter einem Baume und versinkt in tiefen Schlaf. Da wälzt sich der Lindwurm heran; vergeblich sucht der treue Hund durch Bellen und Scharren seinen Herrn zu wecken, zu tief ist sein Schlaf. So findet Ortnit von dem Lindwurm, der ihn verschlingt, den Tod.

Die Spielleute haben in diesem Gedicht die Neckereien des Alberich gewiß mit besonderer Freude und mit drastischen Gebärden vorgetragen. Als alten Bekannten begrüßen wir sonst darin die Werbungssage. Mit ihr ist aber eine andere Geschichte verschmolzen. Der überirdische Helfer, der unsichtbar machende Stein, die Rüstung und das Schwert gehören nämlich in das Märchen von dem Helden, der in die Hölle fährt, oder der eine Jungfrau aus der Gewalt eines Unholdes oder Behausung eines Riesen befreit und dabei die Hilfe eines gütigen Wesens von überirdischer Kraft genießt. Auf diesem Märchen beruht wohl das französische Heldengedicht von Hüon von Bordeaux. Darin hilft Oberon dem Hüon, wie Alberich dem Ortnit, eine schöne Sultanstochter zu entführen. Den Hüon wiederum wird unser deutscher Spielmann gekannt und verwertet haben. Auch der Wolfdietrich der Spielleute glich, gerade in seinem Zusammenhang mit Ortnit, einer altfranzösischen Heldendichtung, dem Karlmeinet. Dieser berichtet, wie ein Thronerbe von seinen neidischen Verwandten vertrieben wird, sich in der Ferne die Gunst eines anderen Königs erwirbt und mit dessen Hilfe sein mächtiges Reich zurückerobert. Die Lieblingsgeschichte der französischen Epen, daß der alternde Held ins Kloster geht, wird ja auf den deutschen Wolfdietrich übertragen und dort hat er außerdem mit den Seelen derer zu kämpfen, die er im Leben erschlug.

Germanisch an dem Gedicht von Ortnit ist der Name Alberich. Auch das mag, wie wir schon andeuteten, eine germanische Vorstellung sein, daß Alberich sich als den Vater des Helden enthüllt. Ursprünglich war er wohl die Seele des verstorbenen Vaters oder eines anderen Vorfahren und lieh ihm, unsichtbar wie die Seelen der Verstorbenen wirken, seine mächtige Hilfe. Die Schönheit des Alberich und sein Aussehen, daß er einem Kinde gleicht, wird in der deutschen Sage gerade den Seelengeistern, z.B. den mit den Eiben verwandten Kobolden, beigelegt.

Sehr verwunderlich scheint uns der Schluß des Gedichtes: Daß der heidnische König dem Ortnit gleich zwei Lindwürmer ins Land schickt, daß der Held vor dem Kampf einschläft, daß ihm Alberich nicht hilft und daß der treue Hund sich vergeblich müht, ihn zu wecken. Germanisch klingt diese Erfindung nicht - welcher germanische Held wäre wohl vor einem Kampfe eingeschlafen? -, doch gleicht sie persischen Erzählungen. Da der Ortnit in seinen Namen (Machorel und Muntabur) und auch sonst sehr deutliche Erinnerungen an Kreuzzüge (die von 1212, 1217 und 1218) zeigt, ist es wahrscheinlich, daß mit diesen Erinnerungen auch der Schluß des Gedichtes aus dem Orient in das deutsche Gedicht wanderte.

Wolfdietrich selbst zeigt ebenfalls manche Einflüsse von der Fabulierfreude des Orients, von Geschichten, die als Erinnerungen von den Kreuzzügen nach dem Abendlande zogen. Die Kämpfe zwischen Löwen, Drachen und Elefanten oder die zwischen den Löwen und einem Serpant, die sich darin begeben, sind wohl orientalischer Herkunft, und ebenso scheint das Messerwerfen eine orientalische Kunst, Wolfdietrich übertrifft darin einen Heiden, der sich auf seine Götter verläßt. Die Tochter des Heiden liebt unseren Helden. Doch weil sie nicht getauft ist, widersteht er ihr, trotzdem ihre Reize und ihre Zärtlichkeiten ihn verwirren. Wolfdietrich zeigt hier die gleiche übernatürliche Keuschheit, durch die manche Heilige der Legende sich hervortun. Der Erzähler übertreibt sie absichtlich und sogar in das Komische hinein, denn seine Hörer hätten sonst kaum aufgemerkt, sie verlangen grobe Reize. Deshalb malte der Spielmann auch die Schönheit und die Verführungsversuche der Heidin recht derb und lüstern aus. Zornig, daß er sie verschmähte, bringt die Schöne am nächsten Morgen den Helden in Not, indem sie, als er fortreiten will, vor ihn einen See und einen Wald zaubert, doch dieser und anderer Spuk verschwindet, als Wolfdietrich Gott anruft.

Die anderen Abenteuer der Gedichte führen uns zu den Zwergen, Riesen, wilden Leuten, Wassergeistern und ihresgleichen. In einer Fassung gelangt Wolfdietrich nach mühseliger Wanderung an das Meer, schön und anschaulich schildert der Dichter den Weg, den der Held zwischen Geröll und umgestürzten Bäumen hinabgeht, und die See, deren Wogen sich tosend an hohen Felswänden brechen. Als er, zu Tode erschöpft, eingeschlafen, entstiegt ein Meerweib den Fluten, weckt den Helden, wirft ihre Hülle ab und steht in leuchtender Schönheit als Herrin aller Wassergeister vor ihm. Wolfdietrich weist ihre Werbung zurück, trotzdem erquickt sie ihn und sein Pferd mit einer Zauberwurzel und weist ihm den Weg.

In einer anderen Fassung sind die Erlebnisse des Wolfdietrich noch bunter und vielfältiger. Als er nachts im Walde Wache hält, naht sich ihm, liebebegehrend, auf allen Vieren kriechend, ungeschlacht wie ein Bär, ein Waldweib, die rauhe Elfe; er weist sie entsetzt zurück, da schlägt sie ihn mit Sinnenverwirrung, so daß er noch in der Nacht zwölf Meilen hin und her läuft und schließlich unter einem Baum das liebegierige Ungestüm wiederfindet. Als er sich ihr voller Widerwillen nochmals versagt, wirft sie einen noch stärkeren Zauber auf ihn, er sinkt betäubt nieder, und sie schneidet ihm zwei Haarlocken vom Kopf und die Nägelspitzen von den Fingern. Nun ist ihm alle Kraft genommen, und der Arme läuft, verzaubert wie ein Tor, im Wald umher und nährt sich von den Krautern der Erde; endlich erbarmt sich Gott seiner und befiehlt durch einen Engel dem Weib, den Zauber aufzuheben. Nun will Wolfdietrich sich mit der rauhen Elfe vermählen, wenn sie sich taufen lasse. Da führt sie ihn zu Schiff in das Land Troja, wo sie Königin ist, läßt sich dort in einem Jungbrunnen taufen, steigt daraus als Schönste der Frauen hervor, heißt Sigeminne, und Wolfdietrich vermählt sich nur zu gern mit ihr.

Später - das ist wieder eines der Anhängsel und eine Stoffvermehrung, wie die Spielleute sie lieben - verliert Wolfdietrich die Frau, als er zur Jagd ausreitet. Als Pilger verkleidet eilt er ihr nach, und nach langer Wanderung findet er sie endlich wieder. Ein wilder Mann hatte sie verschleppt, er wollte die Widerstrebende zum Weib. Wolfdietrich besiegte ihn und die Scharen der ihm gehorchenden Zwerge. Dann entraffte ihm doch der Tod die kaum wiedergewonnene Frau. Der Held war nun wieder frei und konnte den Kampf mit dem Drachen bestehen, dem Ortnit erlag.

Das Abenteuer mit der Meerfrau und das mit der rauhen Elfe sind im Geschmack der höfischen Epen, die von Artus und seinen Rittern erzählen, von Iwein und von Erec, von Wigalois,. von Lanzelot und den anderen. Diese Helden treffen auf ihren Fahrten wunderbare überirdische Frauen, sie werden verzaubert und mit Sinnenverwirrung geschlagen, oder sie erlösen durch ihren Mut ein Wesen, das zuerst als häßliches Ungetüm sie erschreckt und sich dann, als der Ritter seine Tapferkeit behält und das Erlösungswerk auf sich nimmt, in die schönste Frau verwandelt. Unser Erzähler fügt in seinem Bericht den Herrn und einen Engel hinzu und macht ihn dadurch gottgefälliger. Durch die wilden Leute und Zwerge erhöht er andererseits seine Volkstümlichkeit. Uns wäre die Geschichte der rauhen Elfe in der einfachen Gestalt lieber, die sie vielleicht in einer früheren Form unsres Gedichtes besaß; daß die Frau den Wolfdietrich verzaubert, sich seiner erbarmt, nachdem sie ihn genug gestraft und ihm dann, als Ersatz für seine Leiden, ihre ganze liebliche Schönheit enthüllt und schenkt.

Die wirre Abenteuermasse der Wolfdietrichdichtungen ist noch reicher. Wir wollen sie hier nicht ganz ausbreiten und wollen noch weniger, da auch die Forschung noch nicht zur Klarheit gelangte, uns in Vermutungen ergehen, von wem die einzelnen Geschichten stammen und in welcher Folge und in welcher Art sie sich an und in die Gedichte von Wolfdietrich setzten. Daß verschiedene Dichter sich an diesen Epen versuchten, ging auch aus unseren Angaben hervor, wir fanden neben der Einfalt und Anmut der Legende freche Spielmannserfindungen, neben frischer, lebendiger und humorvoller Erzählung endlose Breiten und Stoffanhäufung.

Nacheinander sind bei dieser Betrachtung des einen Epos von Wolfdietrich alle Gattungen an uns vorübergezogen, die für die deutsche erzählende Dichtung im Mittelalter Bedeutung gewannen: Legenden und Märchen, Novellen und Fabeleien aus dem Orient, französische Heldendichtung und das höfische Epos. Unserem Gedicht haben diese Zusätze einen ganz ungewöhnlichen Stoffreichtum gegeben, aber sie machten es auch immer zusammenhangloser und wirrer. Statt der Heldendichtung steht in Wolfdietrich schließlich ein nicht enden wollender abenteuerreicher und formloser Roman vor uns, recht von der Art, wie sie das Volk immer will; seine Grundlage, das Heldenlied, ist von dem Erzähler unter der Fülle der späteren Erfindungen ganz verdeckt worden. Gegen den Reichtum der Ereignisse im Wolfdietrich war die späte Form der Wielandsage fast arm. Wir genießen es aber bei dem deutschen mittelalterlichen Gedicht dankbar, daß, wenn auch dunkle oder aufgebauschte, so doch Erinnerungen an die Treue und die Wildheit der alten Heldensagen in diesem Gewirre der Abenteuer erklingen, und daß unter den vielen Geschichten so liebliche und anmutige, so zarte und so kindliche auftauchen.

Quelle: Heldensagen, Genf 1996

General wallenstein
28.01.04, 18:46
Dietrich von Bern

Die Entwicklung der Sage von Theoderich ist uns bekannt. Im Gegensatz zur Geschichte galt er als verbannter König. Odoaker hatte ihn vertrieben, und nachdem er lange die Gastfreundschaft Attilas genossen, eroberte er sich endlich die Heimat zurück. So erzählte uns im achten Jahrhundert das Hildebrandslied. Außer dem Theoderich galten nun noch einem anderen gotischen König oft erzählte Sagen, dem Ermanarich. Dieser Ermanarich drängte sich dann in die Sage von Dietrich von Bern ein, davon wissen zuerst Zeugnisse des elften und zwölften Jahrhunderts. Er wurde darin der Oheim des Dietrich, und auf Anstiften des Odoaker, der auch sein Neffe war, vertrieb Ermanarich den Dietrich. Dann verschwand Odoaker, dem keine besondere Sage galt, ganz aus der Überlieferung. An seine Stelle trat der böse Ratgeber Sibiche, dessen Aufstachelung bewog den Ermanarich zur Grausamkeit und Heimtücke gegen den Neffen, bis dieser vor seiner Übermacht fliehen mußte und bei Etzel Schutz und Hilfe fand. Die deutschen Gedichte des dreizehnten Jahrhunderts ziehen die Geschichte von Dietrichs Verbannung in die Länge. Dem Dietrich gelingt die Eroberung Italiens erst beim zweiten Versuch, beim ersten wird er zurückgetrieben. Bevor er in sein Elend ziehen mußte, lassen sie den Dietrich den Ermanarich einmal besiegen, und dazu erfanden die Dichter noch allerhand andere Kämpfe und Siege; in ihren Epen verwandelt sich die Sage in ein wirres, zielloses und endloses Hin und Her.

Den Inhalt der beiden großen Gedichte, die uns von der Verbannung und Heimkehr Dietrichs derart breit und weitschweifig erzählen - es sind das Gedicht von Dietrichs Flucht (besser das Buch von Bern) und das von der Rabenschlacht -, faßt Ludwig Uhland so zusammen.

Sibiche reizt den Ermenrich, seinen Neffen, den Dietrich von Bern zu verraten und sein Erbe an sich zu ziehen. Randolf von Ancona wird, unter Verheißung reichen Lohnes, als Bote nach Bern abgefertigt; der König wolle über Meer fahren, der Harlungen Tod zu büßen. Dietrich möge kommen und so lange des Reiches Pfleger sein. Als Randolf die Straße reitet, trocknen ihm die Augen nicht, wenn er des Mordes denkt, den er werben soll. Zu Bern richtet er die Botschaft aus, wie er geheißen ist, warnt aber den jungen Fürsten, er solle die Reise lassen und seine Festen besetzen. Dann reitet er zurück und meldet, daß Dietrich nicht komme. Fürder will Randolf nicht mehr zu dem Könige stehen, sondern alles für Dietrich wagen. Ermenrich rüstet nun große Heerfahrt und wütet mit Mord und Brand, bis Dietrich in nächtlichem Überfall das feindliche Heer vertilgt. Ehrlos entflieht Ermenrich und läßt seinen Sohn mit achtzehnhundert Helden in Dietrichs Hände fallen.

Dietrich hätte nun gerne den Recken gelohnt, die ihm Land und Ehre gerettet. Aber leer sind die Kammern, die sein Vater Dietmar voll Schatzes hatte. Hildebrand trat ihm sein und der Seinigen Gut an, und Bertram von Pola bietet so viel, als fünfhundert Säumer tragen können. Sieben Recken werden mit Bertram nach dem Golde gen Pola gesendet: Hildebrand, Sigeband, Wolfhart, Helmschart, Amelolt, Eindolt und Dietleib von Steier. Da legt Ermenrich an die Straße fünfhundert Mann unter Witege; sie überfallen Dietrichs Recken auf der Heimkehr und führen sie samt dem Schatze gefangen nach Mantua. Dietleib allein entrinnt und sagt die Märe zu Bern. Dietrich, nur um seine Recken, nicht um das Gold klagend, erbietet sich, für die Lösung der Sieben den Sohn Ermenrichs und die Achtzehnhundert, die mit ihm gefangen wurden, freizulassen. Ermenrich aber droht, die Recken Dietrichs aufzuhängen, wenn dieser nicht all seine Städte und Lande für sie hingebe. Man rät dem Berner, um die Sieben nicht alles zu verlieren, aber er ließe lieber alle Reiche der Welt als eine getreuen Mannen; so willigt er in Ermenrichs Begehren.

Ermenrich zieht nun mit Heereskraft vor Bern. Dietrich aber reitet aus der Stadt zu des Königs Zelt, steigt ab und beugt mit nassen Augen das Haupt ihm zu Füßen. "Gedenke", spricht er, "daß ich bin deines Bruders Kind, daß meine Einsicht noch schwach ist! Nimmer will ich deine Huld verwirken; laß ab von deinem Zorne!" Lange schweigt Ermenrich, dann heißt er drohend den Jüngling aus seinen Augen gehen. Um die eine Stadt Bern fleht Dietrich, nur bis er zum Manne gewachsen. Umsonst; Ermenrich droht nur grimmiger. Da bittet Dietrich nur noch um seine sieben Mannen und will mit ihnen von hinnen reiten. Auch diese Ehre wird ihm nicht gelassen, zu Fuß soll er seines Weges ziehen. Mehr denn tausend Frauen kommen aus dem Tore, für ihren Herrn bitten. Zuvorderst geht Frau Ute mit vierzig Jungfrauen; sie fallen vor Ermenrich nieder und mahnen ihn bei aller Frauen Ehre, an seinem Neffen königlich zu handeln. Er stößt sie von sich und gestattet auch ihnen nicht, in der Stadt zu bleiben. Da scheiden Männer und Frauen zu Fuß von Hab und Gut, Hildebrand hat Frau Ute an der Hand, der anderen Recken jeder die seinige. Jammervoll ob all der Schmach geht Dietrich von seinem Erbe, nimmer soll man ihn lachen sehen bis zum Tage, da er sein Leid rächen könne. Die Frauen werden nach Garda geführt, das der treue Amelolt besetzt hält. Ein Stein hätte weinen mögen, wie jetzt Frau und Mann, Mutter und Kind sich zum Abschied küssen. Fünfzig Getreue gehen mit Dietrich ins Elend, durch Isterreich in das Land der Hunnen. Dietrich wird von Etzel gütig aufgenommen und weilt an seinem Hofe. Er wird dort hochgehalten, aber er kann den Schmerz um sein verlorenes Erbe und seine gefallenen Helden nicht verwinden. Die milde Königin Helche bemerkt seine beständige Trauer; ihn zu trösten, vermählt sie ihm die schöne Herrad, ihre Nichte, und Etzel verspricht, zum Frühjahr ein Heer auszurüsten, mit dem Dietrich Italien wieder erobern soll. Das Frühjahr kommt, zu Etzelnburg sammelt sich ein Heer, zahlreich wie keines zuvor. König Etzel hat zwei herrliche junge Söhne, Scharpf und Ort. Diese wünschen sehnlichst, mit Dietrich zu reiten und seine gute Stadt Bern zu sehen. Sie wenden sich erst an die Mutter. Frau Helche sieht ihre Kinder traurig an, ihr hat geträumt, ein Drache sei durch ihrer Kammer Dach geflogen, habe vor ihren Augen die beiden Söhne hinweggeführt und sie auf weiter Heide zerrissen. Als aber die Jünglinge nicht ablassen, legt die Mutter selbst Fürbitte bei Etzel ein. Ungerne gewährt er. Dietrich verheißt, sie treulich zu behüten und nicht über Bern hinaus reiten zu lassen. Mit viel Tränen werden sie entlassen. Das Heer zieht durch Isterreich gegen Bern (Berona). Hier sollen Etzels Söhne zugleich zurückbleiben. Dietrich befiehlt sie auf Leben und Ehre dem alten Helden Elsan. Niemals sollen sie auch nur vor das Tor kommen; er droht, den Pfleger mit eigener Hand zu töten, wenn ihnen irgend Leides geschehe. Er bricht nun mit dem Heere gen Raben auf, wo Ermenrichs Kriegsmacht liegt. Den Jünglingen aber ist herzlich leid, daß man sie nicht mitgenommen. Sie knien vor ihrem Meister Elsan nieder und küssen ihm die Hände, daß er sie nur vor die Stadt reiten lasse, all den herrlichen Bau zu sehen. Er widersteht ihren Bitten nicht, und ehe er noch sich gerichtet, sie zu begleiten, sind sie schon zur Stadt hinaus. Es naht schon dem Herbste, wo die Nebel stark sind; so kommen die drei Jünglinge auf einen unrechten Weg, der sie über die weite Heide gegen Raben (Ravenna) führt. Elfan reitet ihnen nach und findet sie nirgends um die Stadt; laut ruft und jammert er, niemand antwortet ihm. Vor dichtem Nebel kann er sie auch auf der Heide nicht erschauen. Den ganzen Tag streichen sie hin und übernachten im Freien. Am Morgen reiten sie weiter, nach dem Meere zu. Diether fängt an, diese Irrfahrten zu bereuen. Als aber der Nebel weicht und die Sonne heiter scheint, da bewundern Etzels Söhne die Herrlichkeit des Landes, darin der Berner immer mit Freuden wohnen sollte.

Da erblicken sie den Recken Witege, der mannlich unter seinem Schilde hält. Sie wollen diesen Verräter an Diether und seinem Bruder sogleich angreifen, obschon sie, statt Harnischen, nur Sommerkleider anhaben. Umsonst warnt Witege mehrmals. Scharpf reitet zuerst ihn an und schlägt ihm starke Wunden: Da zuckt Witege mit Grimm das Schwert Mimung, mit gespaltenem Haupte schießt der Jüngling vom Rosse. Wäre er zum Mann erwachsen, ihm hätten alle Reiche dienen müssen. Ort will den Bruder rächen und erleidet gleichen Tod, obschon Diether ihm beigestanden. Dieser kämpft noch bis zum Abend zu Fuße; seine Gewandtheit, darin ihm niemand gleich ist, fristet ihn so lange; zuletzt fällt auch er, durch das Achselbein bis auf den Gürtel gehauen. Ihn betrauert Witege, Dietrichs Zorn fürchtend; er will zu Rosse steigen, aber die Kraft versagt ihm, und er muß sich auf der Heide niederlegen.

All das geschah um die Zeit der zwölftägigen Schlacht, worin Ermenrich bei Raben von dem Berner besiegt wurde. Er entflieht zur Stadt; den Verräter Sibiche fängt der treue Eckhart und führt ihn, quer auf das Roß gebunden, durch das Heer. Dietrich freut sich auf der Walstatt des Sieges, da kommt Elfan und meldet, daß er die jungen Könige verloren. Mit eigenen Händen, wie gedroht war, schlägt Dietrich ihm das Haupt ab. Die drei Erschlagenen werden auf der Heide gefunden. Dietrich küßt ihre Wunden, verflucht den Tag seiner Geburt und weint vor Jammer Blut. "Armes Herz", spricht er, "daß du so fest bist!" An der Größe der Wunden erkennt er, daß sie mit dem Schwert Mimung geschlagen sind.

Da sieht man Witege rasch über die Heide reiten. Grimmig springt der Berner auf und reitet so hastig nach, daß keiner der Seinigen ihm folgen kann; Feuer sprüht von den Hufschlägen. Speer, Helm und Schild hat er auf der Walstatt zurückgelassen, nur das Schwert führt er mit sich. Er ruft Witege an, mahnt, fleht ihn bei Heldenruhm und Frauenehre, zum Kampfe zu halten, verheißt Bern und Mailand, verheißt sein ganzes Reich, wenn Witege obliege. Aber Witege jagt nur stärker voran. Rienold, sein Neffe, der mit ihm reitet, schämt sich der Flucht und will auch ihn zum Kampfe bewegen: Zu zweien würden sie den Berner bezwingen. Witege will nicht hören, befiehlt den Neffen in Gottes Schutz und jagt weiter. Rienold sticht seinen Speer auf den Berner, dieser haut ihn vom Rosse, reitet Witege nach und reizt ihn, Rienolds Tod zu rächen. Je länger, je mehr eilt Witege, mahnt unablässig seinen Schemming, verspricht ihm Gras und lindes Heu in Fülle. Schemming macht weite Sprünge. Dietrich klagt, daß Schemming, einst ihm gehörig, seinen Feind von hinnen trage; er treibt sein jetziges Roß Falke, daß es von Blute trieft; vor Zorn glüht er, daß sein Harnisch weich wird. Kaum eines Roßlaufs Weite ist noch zwischen den beiden, Witege ist bis an das Meer getrieben, er gibt sich verloren. Da kommt die Meerfrau Waghild, seine Ahnmutter, und nimmt ihn samt dem Roß auf den Grund des Meeres. Der Berner reitet bis zum Sattelbogen in das Meer nach; er muß umkehren und wartet vergeblich, ob Witege wieder erscheine.

Noch erstürmt Dietrich die Stadt Raben, daraus Ermenrich, die Seinen verlassend, um Mitternacht entweicht, während die Stadt in Flammen aufgeht. Doch der Sieg führt zu keiner dauernden Behauptung Italiens, Dietrich muß zu den Hunnen zurückkehren und sendet Rüdiger voraus, daß er ihn bei Etzel und Helche entschuldige; er selbst wagt noch nicht, ihnen vor die Augen zu treten. Als der Markgraf mit seinen Helden zu Gran ankommt, laufen die herrenlosen Rosse der zwei jungen Könige mit blutigen Sätteln auf den Hof. Die Königin will eben mit ihren Frauen in einen Garten gehen, an den Blumen ihr Auge zu weiden, da sieht sie die blutigen Rosse ihrer Kinder stehen. Im ersten Schmerz verwünscht sie den Berner: Doch sie wird versöhnt, als Rüdiger meldet, daß Dietrich mit ihnen den eigenen Bruder verloren. Sie ist selbst Dietrichs Fürsprecherin bei Etzel. Der Berner kommt nach Etzelnburg, geht in den Saal, neigt sein Haupt auf Etzels Fuß und bietet sein Leben zur Sühne. Die Königin weint, und Etzel richtet mit neuer Huld ihn auf.

Der schmerzliche und tränenreiche Ton in dieser Geschichte, der breite und weitschweifige Vortrag und die mühselige und unbeholfene Diktion sind nicht in der Art und dem Geschmack der alten Heldendichtung. Freilich ermüden und verdrießen sie in den Gedichten selbst den Leser viel mehr als in Uhlands gedrängter Wiedergabe. Ebensowenig war das Auftreten Dietrichs in den alten Gedichten des siebenten Jahrhunderts so sanft und so demütig. Trotzdem wittern wir in diesen Epen sofort eine ganz andere Kunst als in den Gedichten von Wolfdietrich. Wir fühlen, daß ihnen alte heroische Lieder und Szenen zugrunde liegen oder Dichtungen, die mit ganz eigener und eindringlicher Kraft alte heroische Themen verwerten.

Der Bote Randolf, der den Dietrich verräterisch einladen soll, und der den jungen Helden doch warnt, erlebt einen Konflikt, wie ihn germanische Helden erleben. Wir erinnern an den Regin der nordischen Sage, der die Söhne Halfdans warnte, obwohl er dem Frodi Treue geschworen. Eine ähnliche verzweifelte Lage wie dem Randolf war auch einem sächsischen Sänger beschieden. Er sollte im Auftrag des Königs Magnus den Herzog Canut einladen. Magnus aber wollte Canut hinterrücks ermorden. Der Sänger wußte das, hatte jedoch vorher dem Magnus geschworen, daß er es nicht verraten werde. Doch die Ahnungslosigkeit des Canut, der nicht einmal ein Schwert nahm, rührte ihn, und da sang er ihm das berühmte Lied der Treulosgkeit der Kriemhild gegen ihre Brüder. Canut aber überhörte die Warnung und ritt in sein Verderben.

Die Dichtung vom Tode der Etzelsöhne reicht wohl auch in die Zeit der Völkerwanderung zurück. Um die Mitte des fünften Jahrhunderts besiegten die germansichen Stämme das Heer der Söhne Attilas und Ellak, der bedeutendste von ihnen, fand dabei den Tod. Die Erinnerung an diesen Sieg wird in der Sage nachgeklungen sein und das Lied von dem Sohn des mächtigen Königs geschaffen haben, der einen grausamen Tod starb.Vielleicht ist der Bericht im Nibelungenlied, in dem ja Hagen den Sohn von Etzel und Kriemhild tötet, auch ein Nachklang eines Liedes dieser Art.

In unserem mittelalterlichen Gedicht von der Rabenschlacht überraschen uns zwei Szenen, weil sie der alten germanischen Kunst entsprechen. Die erste ist die Gegenüberstellung von Etzels Söhnen und ihrem jugendlichen ungestümen Tatendurst und Heldensinn gegen den harten, unbeweglichen Witege. Die andere ist die Verfolgung des Witege durch Dietrich. Sie erscheint uns wie eine Umkehrung des alten Liedes von Chlothars Sieg über die Sachsen. Dort war der Verfolgte der Beredte und Heimtückische, der Verfolger still. Hier scheint der Verfolgte immer noch stiller und verstockter zu werden, und der Verfolger ergeht sich in den leidenschaftlichsten Beschwörungen, Bitten und Klagen. Diese beiden Szenen mögen dem germanischen Lied gehört haben, indem er sie in das Traumhafte und Visionäre steigerte und die gleiche düstere Stimmung des Traumes über das ganze Gedicht breitete, schuf dann ein deutscher Dichter aus der alten germanischen eine mittelalterliche Dichtung von seltsamer rührender und phantastischer Kraft. Wäre sie uns doch selbst erhalten, wie sie der Dichter des Meier Helmbrecht noch kannte, und müßten wir sie doch nicht aus der allzubreiten Umschreibung des Epos von der Rabenschlacht herausholen!

Der bange Traum der Helche leitet das Gedicht ahnungsschwer ein. Nebel verwirrt die Helden und raubt die Jünglinge das erste Mal ihrem alten Erzieher Elsan. Wie ein Traumgesicht von wunderbarer und beseeligender Schönheit taucht Ravenna vor ihnen auf. Unwirklich, wie eine finstere Erscheinung, steht dann plötzlich Witege vor den jungen Helden und tötet einen nach dem anderen. Grausam und ganz gegen die eigene Natur erschlägt Dietrich den Elsan. Die Stummheit und die rasende Flucht des verfolgten Witege wächst immer mehr in das Unheimliche und Traumhafte, so daß wir uns kaum noch wundern, als seine Ahnmutter den Fluten entsteigt und den Sohn rettend zu sich zieht. Die herrenlosen Rosse, die mit blutigen Sätteln auf den Hof der Königsburg laufen, sehen wir wieder vor uns wie die jammervollen Bilder, die ein quälender Traum uns zeigt, und sie sind doch der schmerzliche und milde Nachklang des Gedichtes und geben ihm zugleich durch die Klage der Mutter die rührendste und menschlichste Trauer.

Das alte Gedicht von der Rabenschlacht mag um die Wende des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts entstanden sein. Die Umschreibung, in der wir es besitzen, gehört dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts. Wie stark der Eindruck des alten Gedichtes war, erkennt man auch daraus, daß es einem anderen zum Vorbild diente, dem Gedicht von Alpharts Tod. Dies ist seinerseits wohl durch manche Zusätze entstellt, aber auch wenn man es sich davon gereinigt denkt, so steht nur ein Werk der Epigonenkunst vor uns. Besonders in seinem ersten Teil ist es eindrucksvoll und lebendig vorgetragen, und man erkennt darin gute künstlerische Muster und Meister, freilich hält es sich von Übertreibungen, Breiten und Weinerlichkeiten nicht frei. Aus der alten heroischen Überlieferung hat es nirgends geschöpft.

Das Lied schildert, wie der junge Alphart, Hildebrands Neffe, allein auf der Warte gegen Ermenrich reiten will und seinen Willen durchsetzt, obwohl alle Helden der Jugend Alpharts wegen es widerraten. Frau Ute waffnet ihn selbst und läßt ihn dann weinend ziehen, seine junge Frau bittet ihn kniefällig, er möge doch nicht allein ausreiten, aber er küßt sie nur und jagt sie dann davon. Hildebrand will die Kraft des Jünglings prüfen und reitet ihm nach, mißt sich mit ihm, ohne daß er sich zu erkennen gibt, und bereut es bitter; denn der junge Held richtet den Oheim übel zu. Dann begegnet Alphart der Vorhut des Feindes, achtzig Rittern, die er besiegt und tötet, nur acht entfliehen blutend und verbreiten Schrecken in Ermenrichs Lager. Ermenrich verspricht den höchsten Lohn dem Helden, der gegen Alphart kämpfen wolle. Keiner wagt es. Endlich ruft er den Witege und Heime auf. Als Witege kommt, verweist ihm Alphart den Verrat an Dietrich, schleudert ihn aus dem Sattel und streckt ihn auch im Schwertkampf nieder. Wie tot liegt er unter dem Schild. Heime bietet dem Alphart an, er solle zurückkehren, sie wollten sagen, daß sie ihn nicht angetroffen, doch der junge Held verschmäht den Vorschlag, er will Witege zum Pfand. Der hat sich wieder erhoben, erinnert nun den Heime an die Treue, die er ihm geschworen, und beide dringen auf Alphart ein. Als der auch den Heime schwer trifft, brechen die beiden Angreifer das Versprechen, das sie vorher dem Gegner gegeben, Witege fällt ihn von hinten an, Heime von vorne, der junge Held, nach tapferster Gegenwehr, muß sein Leben lassen und verwünscht sterbend die ehrlosen Mörder.

Witege und Heime gehören schon in die germanische Heldensage, denn der altenglische Widsith nennt ihre Namen. Der Held der Geschichte, aus dem der Witege der Dichtung entsprossen, ist einmal der König der Ostgoten Witgis. Wenn man sich erinnert, wie Prokop diesen König schildert, seine Treue, sein tapferes Ausharren in allen Wechselfällen des Kampfes, sein mannhaftes Heldentum und sein Unglück - er mußte sich in Ravenna ergeben -, so versteht man wohl, daß die germanische Heldendichtung diesen König gern besang. Außerdem meint man, daß der tapfere Gotenheld Widigoia, der durch die Hinterlist der Hunnen fiel und nach dem Zeugnis des Jorclanes im Liede gefeiert wurde, in Witege fortlebe. Doch kennen deutsche Heldengedichte des Mittelalters einen eigenen Helden Witegouwe. Ob Heime einem Helden der Geschichte sein Dasein verdankt, wissen wir nicht.

Die beiden, Witege und Heime, waren in den alten Liedern andere als in den deutschen Epen des dreizehnten Jahrhunderts. Selbst in diesen ist die Erinnerung an ihr starres aufrechtes und vorbildliches Heldentum nicht ganz gewichen, und darin muß früher ihr eigentliches Wesen bestanden haben. Wohl durch eine Verwirrung der Sagenerzähler wurden sie aus Helden Dietrichs zu Helden Ermanarichs, und diese Verwirrung hat vielleicht die Vorstellung von ihrer Untreue geschaffen und sie endlich, wie Ludwig Uhland das ausdrückt, in finstere und kalte Mordrecken verwandelt. Das Gedicht von Dietrichs Flucht schiebt den Witege gewissermaßen zwischen Dietrich und Ermanarich hin und her. Witege geht von Ermanarich zu Dietrich über und übergibt dann wieder verräterisch an Ermanarich die Stadt Ravenna, die Dietrich in seiner Hut gelassen. Einen ähnlichen Verrat beging in der Geschichte Odoakers Feldherr Tufa, und es ist nicht ganz ausgeschlossen, daß auch eine Erinnerung daran das Wesen von Witege befleckt hat.

Am ehesten vergleicht sich Witege in seiner Entwicklung wohl dem nordischen Starkad. Beide Helden werden aus Vorbildern der Treue und des Heldentums zu Verrätern. Die wilde Kampflust des Starkad zeigt der Witege der Thidreksaga, und wie Starkad zu einem Wasserriesen, wird Witege zum Sohn einer Meerfrau; auch er steigert sich also in das Mythische.

Die seltene Beliebtheit, die Dietrich von Bern während des ganzen Mittelalters genoß, verdankt er zu einem Teil der heroischen Überlieferung, mit der er verwachsen war und außerdem seiner Persönlichkeit, in der Volk und Helden ihr eigenes Wesen wiederfanden. Denn dem Dietrich blieb seine Langmut und seine Geduld erhalten, ja sie verklärte sich im Lauf der Jahrhunderte und dazu trug wohl das Christentum das Seine bei. Aber auch die Kraft des Dietrich blieb die alte, und wenn er sich zum Kampfe entschloß, war sein Angriff stärker und unwiderstehlicher als der irgendeines anderen Helden, es hieß sogar, daß er mit seinem Feueratem den Gegner versengte.

Das Volk liebte den Dietrich und sang von ihm auch noch aus anderen Ursachen. Es gab ihm nämlich die Freude am Kampf und die Siege, die vorher der alte Gott Donar besaß und die im altenglischen Epos der Beowulf besitzt. Dietrich zeigte sie wie jene im unablässigen, übermächtigen Wirken gegen die Mächte, die die Arbeit des Bauern bedrohen, gegen die Riesen von Wind und Wetter und die anderen Unholde alle. Von diesen Kämpfen erzählen uns eine Fülle von Gedichten aus dem dreizehnten Jahrhundert, von denen einige das Mittelalter überlebten. Leider ist das Volkstümliche und das im germanischen Sinn Mythische aus diesen Liedern fast ganz verdrängt; nur der Riese Fasolt und die böse, Steine und Lawinen schleudernde Riesin Runze entstammen dem alten Volksglauben. Sonst sind die alten Sagen durch Erfindungen und Erzählungen im höfischen Geschmack und nach den höfischen Vorbildern der Artusdichtung ersetzt oder überwuchert.

Die Kunst der Spielleute drang natürlich auch in sie hinein. Dabei wurde auch die alte schwere Bedeutung der Kämpfe vergessen; so wie die Dichter des dreizehnten Jahrhunderts sie erzählen, sollen sie nur unterhalten, wie eben die höfischen Romane unterhielten. Da besiegt der Riese Sigenot den Berner, und Hildebrand befreit ihn nach schwerem Kampf, oder Dietrich hilft der Bergkönigin Virginal vor den Riesen, die sie bedrängen, oder es dringen Dietrich und seine Helden in das Reich des Laurin, das mit einem Seidenfaden umgeben ist und das kein Irdischer betreten darf; sie wollen aber den Zwerg strafen, weil er die Künhilt, die Schwester eines ihrer Helden, entführt. Laurin wird erst besiegt, als sie ihm seinen Gürtel abreißen, der ihm die Stärke von zwölf Männern verlieh. In dem Reich des Zwergkönigs werden die Helden herrlich bewirtet und weiden sich an dem funkelnden Glanz und der Pracht, die sie überall umgibt. Dann aber bezaubert und fesselt der tückische Zwerg die Helden und nur durch die Hilfe der entführten Künhilt werden sie wieder sehend und überwinden noch einmal ihren hinterlistigen Wirt.

Den Inhalt des hübschesten und beliebtesten dieser Gedichte, den Inhalt des Eckenliedes, teilen wir wieder mit Ludwig Uhlands Worten mit:

Auf Jochgrimm sitzen drei königliche Jungfrauen. Sie haben Dietrichs Lob vernommen und wünschen sehnlich, ihn zu sehen. Drei riesenhafte Brüder, Ecke, Fasolt und Ebenrot, werben um die Jungfrauen. Ecke, kaum achtzehn Jahre alt, hat schon manchen niedergeworfen; sein größter Kummer ist, daß er nichts zu fechten hat. Ihn verdrießt, daß der Berner vor allen Helden gerühmt wird, und er gelobt, ihn gutlich oder mit Gewalt, lebend oder tot herzubringen. Zum Lohne wird ihm die Minne einer der Königinnen zugesagt. Seeburg, die schönste, schenkt ihm eine herrliche Rüstung, womit sie selbst ihn wappnet. Auch ein treffliches Roß läßt sie ihm vorziehen, aber ihn trägt kein Pferd, und er braucht auch keines, vierzehn Tage und Nächte kann er gehen ohne Müdigkeit und Hunger. Zu Fuß eilt er von dannen über das Gefild, in weiten Sprüngen, wie ein Leopard; fern aus dem Walde noch, wie eine Glocke, klingt sein Helm, wenn ihn die Äst rühren. Durch Gebirg und Wälder rennend, schreckt er das Wild auf; es flieht vor ihm oder sieht ihm staunend nach, und die Vögel verstummen. So läuft er bis nach Bern und, als er dort vernimmt, daß Dietrich ins Gebirg geritten, wieder an der Etsch hinauf in einem Tage bis Trient.

Den Tag darauf findet er im Walde den Ritter Helfrich mit Wunden, die man mit Händen messen kann: Kein Schwert, ein Donnerstrahl scheint sie geschlagen zu haben. Drei Genossen Helfrichs liegen tot. Der Wunde rät Ecken, den Berner zu scheuen, der all den Schaden getan. Ecke läßt nicht ab, Dietrichs Spuren zu verfolgen. Kaum sieht er ihn im Walde reiten, als er ihn zum Kampfe fordert. Dietrich zeigt keine Lust, mit dem zu streiten, der über die Bäume ragt. Ecke rühmt seine köstlichen Waffen, von den besten Meistern geschmiedet, Stück für Stück, um durch Hoffnung dieser Beute den Helden zu reizen. Aber Dietrich meint, er wäre töricht, sich an solchen Waffen zu versuchen. So ziehen sie lange hin, der Berner ruhig zu Roß, Ecke nebenher schreitend und inständig um Kampf flehend. Er droht, Dietrichs Zagheit überall zu verkünden, er mahnt ihn bei aller Frauen Ehre, er gibt dem Gegner alle Himmelsmächte vor.

Endlich willigt der Berner ein, am Morgen zu steilen. Doch Ecke will nicht warten, er wird nur dringender. Schon ist die Sonne zu Rast, als Dietrich vom Rosse steigt. Sie kämpfen noch in der Nacht; das Feuer, das sie aus den Helmen schlagen, leuchtet ihnen. Das Gras wird vertilgt von ihren Tritten, der Wald versengt von ihren Schlägen. Sie schlagen sich tiefe Wunden, sie ringen und reißen sich die Wunden auf. Zuletzt unterliegt Ecke. Vergeblich bietet Dietrich Schonung und Genossenschaft, wenn jener das Schwert abgebe. Ecke trotzt und zeigt selbst die Fuge, wo sein Harnisch zu durchbohren ist. Dietrich beklagt den Tod des Jünglings, nimmt dessen Rüstung und Schwert Eckesachs, das er seitdem führt, und bedeckt den Toten mit grünem Laube. Dann reitet er hinweg, blutend und voll Sorge, man möchte glauben, er habe Ecke im Schlaf erstochen. Schwere Kämpfe besteht er noch mit Eckes Bruder Fasolt, der mit wilden Hunden eine Jungfrau durch den Wald hetzt, und mit dem übrigen riesenhaften Geschlechte, namentlich der wilden Runze, die lawinengleich eine Berglehne herabsaust und mit einer Hand eine ganze Burg wegfegt. Das Haupt Eckes führt er am Sattelbogen mit sich und bringt es den drei Königinnen, die den Jüngling in den Tod gesandt.

Die Dichtungen von Wolfdietrich und Dietrich von Bern sind sich auch darin verwandt, daß sie Abenteuer und Fabeleien nach Art der höfischen und Spielmannsdichtung auf einen alten Helden und auf seine heroischen Kämpfe übertragen. Die Gedichte über Dietrich von Berns wunderbare Kämpfe und Erlebnisse stehen aber frei und locker nebeneinander, sie verschlingen sich nicht wie bei Wolfdietrich zu einer Einheit, die dann doch keine Einheit ist. Darum wird das Wesen des Dietrich von Bern auch von diesen Abenteuern nicht erdrückt, es hat sich auch hier alles in allem in großer Reinheit erhalten.

Die Frömmigkeit und Einfalt der Legende fehlt den mythischen Gedichten von Dietrich von Bern, und vom Märchen lebt mehr das Phantastische, wunderbar Verwirrende als das Kindliche in ihnen. Am meisten aber entzückt in ihrer Kunst die Schilderung der Natur. Im Ortnit und im Wolfdietrich fanden wir auch Szenen von einer Freude an der Natur und von einer Gabe, ihre Lieblichkeit und Größe wiederzugeben, die wir vorher in der Heldendichtung noch nicht endeckten, wir erinnern uns etwa an die Szene, in der Ortnit unter der Linde auf blühendem Anger den Albrich entdeckt, oder an die Geschichte vom Knäblein Wolfdietrich, das an dem von Seerosen bewachsenen Teich sitzt und den Wölfen in ihre glühenden Augen faßt, oder an den Weg Wolfdietrichs, den Abhang o herunter zum Meer. Anschaulicher und großartiger noch ist die Natur in den Gedichten von den Abenteuern Dietrichs erfaßt, und wir können die Art dieser Schilderungen wieder nicht besser erzählen als mit den Worten Ludwig Uhlands.

"Im Eckenliede rauscht noch immer der unbändige Sturmgeist, zum Schrecken der Vöglein und alles Getieres, durch die krachenden Bergwälder. Selbst in dem späten Dichtwerke Virginal waltete noch immer, mitten unter dem geziertesten Hofwesen, ein reger Sinn für die großartige Gebirgswelt, deren gewaltsamtste Erscheinungen als Riesenvolk und Drachenbrut dargestellt sind. Die Abenteuer bewegen sich im wilden Lande Tirol, im finsteren Walde, darin man den hellen Tag nicht spürt, wo nur enge Pfade durch tiefe Tobel, Täler und Klingen führen, zu hochragenden Burgfesten, deren Grundfels in den Lüften zu hängen scheint; wo der Verirrende ein verlorener Mann ist, der einsam Reitende sich selbst den Tod gibt. Dort, wo ein Bach vom hohen Fels her bricht, da springt der grimmige Drache, Schaum vor dem Rachen, fort und fort auf den Gegner los und sucht ihn zu verschlingen; wieder ,bei eines Brunnen Flusse' vor dem Gebirg, das sich hoch in die Lüfte zieht, schießen große Würmer her und hin und trachten, die Helden zu verbrennen; bei der Herankunft eines solchen, der Roß und Mann zu verschlingen droht, wird ein Schall gehört, recht wie ein Donnerschlag, davon das ganze Gebirg ertost. Leicht erkennbar sind diese Ungestüme gleichbedeutend mit den siedenden donnernden Wasserstürzen selbst. Dazwischen ertönt, ebenso donnerartig, das gräßliche Schreien der Riesen; als Dietrich mit tödlichem Steinwurf einen jungen Riesen getroffen htte, stößt dieser einen so grimmen Schrei aus, als bräche der Himmel entzwei, und seine Genossen erheben eine Wehklage, die man vier Meilen weit über Berg und Tann vernimmt, die stärksten Tiere fliehen aus der Wildnis, es ist, als wären die Lüfte erzürnt, der Grimm Gottes im Kommen, der Teufel herausgelassen, die Welt verloren, der jüngste Tag angebrochen; ein starker Riese ,Felsenstoß' läßt seine Stimme gleich einer Orgel erdröhnen, man hört sie über Berg und Tal, überall erschrecken die Leute, und selbst der sonst unersättliche Kämpe Wolfhart meint, die Berge seien entzwei, die Hölle aufgeweckt, alle Recken sollen flüchtig werden; auch die Riesen hausen am betäubenden Lärm eines Bergwassers, bei einer Mühle und zunächst einer tiefen Höhle."

Der weiteren reichen, bald abenteuerlichen und spielerischen, bald breiten und aufzählenden Entwicklung von Kämpfen Dietrichs von Bern und seiner Recken können wir nicht mehr folgen, wir haben auf unseren Wanderungen nun gar zu oft die eigentliche Heldensage aus den Augen verloren.

Die Kirche war dem Dietrich von Bern von jeher abhold; sie hat ihn zuerst gehaßt, weil er ein Ketzer war, und dann, weil das Volk so leidenschaftlich an ihm hing. Es gab von dem König eine Sage, daß er nicht gestorben, sondern in einen Berg entführt sei, wo er nun schlafe. Diese verwandelte die Kirche: Den Dietrich habe ein schwarzes Roß, und das war niemand anderes als der Teufel selbst, entführt und ihn in den Ätna getragen, in dessen Feuergluten er seine Sünden noch immer büßen müsse. Aber wie oft diese alte Erzählung auch wiederholt und dem Volke vorgehalten wurde, aus seinem Herzen hat sie diesen König nie reißen können. Und so vermehrt gerade sie unser Staunen und unsere Rührung darüber, daß Jahrhunderte diesem treuesten König die Treue hielten und ihn als das verklärte Abbild des eigenen Wesens liebten. Zum Schluß führen alle Sagen von Dietrich von Bern doch wieder zu ihm selbst und zu der Seele unseres Volkes zurück.

Quelle: Heldensagen, Genf 1996

General wallenstein
28.01.04, 18:49
Hilde und Gudrun

Das Gedicht von Gudrun ist uns in einer einzigen, in der berühmten Ambraser Handschrift überliefert, die im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts der Schreiber Hand Ried in Bozen für den Kaiser Maximilian schrieb. Die Vorlage des Hans Ried war eine Handschrift des dreizehnten Jahrhunderts, und aus dem dreizehnten Jahrhundert, wohl aus seinem zweiten Jahrzehnt, stammt die Gudrun.

Ihr erster Teil ist dem Hagen, dem König von Irland, gewidmet. Wie er ein Knabe war, raubte ihn bei einem großen Fest seiner Eltern ein Greif und schleppte ihn auf ein ödes Eiland. Das Kind sollte den Jungen des Vogels zum Fraß dienen. Aber es kroch aus dem Nest, erschlug die Greifen und fand auf der Insel drei Königstöchter, die von den Vögeln ebenfalls dorthin verschleppt waren und die sich durch Flucht gerettet. Diesen fristete Hagen durch seine Jagdbeute sein Leben, und er nahm an Stärke und Wildheit unmäßig zu, nachdem er vom Blut eines rätselhaften Tieres, eines Gabilunes, getrunken, das er vorher erlegt. Dann fuhr an der Insel ein Schiff vorbei, seine Mannen hörten die Rufe Hagens und nahmen ihn und seine Gespielinnen auf. Sie brachten sie in die Heimat zurück, nicht ohne daß Hagen vorher die Schiffleute durch seine Kraft in Schrecken gesetzt und sich ihrer Hinterlist erwehrt hätte. Sigebant, der Vater, überließ nun dem Hagen die Krone, und der nahm sich die schönste der Jungfrauen, Hilde, zum Weib.



Ambraser Heldenbuch
Mittelhochdeutsche Handschrift, als 1517 vollendetes Auftragswerk Kaiser Maximilians I. vermutlich im Gewölbe der Innsbrucker Burg verwahrt. Von dort um 1574 von Erzherzog Ferdinand II. in das Schloß Ambras transferiert.
Das 'Heldenbuch' wurde von dem Kanzleischreiber Hans Ried in den Jahren 1504 bis 1515/16 geschrieben.
Der bereits im Inhaltsverzeichnis als 'Heldenpuoch' bezeichnete Codex enthält zu Beginn sieben Werke der höfischen Epik, in seinem Hauptteil acht Werke der Heldenepik, acht Werke der Kleinepik österreichischer Herkunft und einen Anhang von zwei Fragmenten mit Wolfram von Eschenbachs 'Titurel' und dem 'Priester Johannes'. Das 'Heldenbuch' überliefert unter den 25 Titeln 15 Werke als Unika, die im 12. und 13. Jahrhundert entstanden sind, und greift auf verschiedene Vorlagen zurück, die für den dritten Teil der Kleinepik in Tiroler Adelsbibliotheken aufgespürt wurden. Das Mittelteil selbst mit den Heldenepen geht möglicherweise auf ein 'Heldenbuch' zurück, das der Schreiber des Staberlmeisters Wilhelm von Oy im Jahre 1502 an der Etsch kopierte. Vermutlich nach dieser rezenten Vorlage, die nicht mehr erhalten ist, überliefert das 'Ambraser Heldenbuch' die folgenden Epen: 'Dietrichs Flucht', 'Rabenschlacht', 'Nibelungenlied', 'Die Klage', 'Kudrun', 'Biterolf', 'Ortnit' und 'Wolfdietrich A'.
Die 'Kudrun' gilt als berühmteste unikale Textüberlieferung des 'Heldenbuches', wo sie den rubrizierten Titel 'Ditz puech ist von Chautrun' hat. Die Entstehung des Werkes wird allgemein um die Mitte des 13. Jahrhunderts auf bairisch-österreichischem Boden angenommen. In 1705 Strophen sind 32 'Aventurien' dargestellt, die sich in den 'Hagenteil', 'Hildeteil' und den umfangreichen 'Kudrunteil' gliedern. Neben der Verarbeitung altenglischer und skandinavischer Quellen und nordseegermanischer Sagentraditionen gehört das Epos auch in den größeren Zusammenhang der europäisch-vorderasiatischen Brautwerbungsdichtungen.
Quelle: zitiert aus: Natur und Kunst, Handschriften und Alben aus der Ambraser Sammlung Erzherzog Ferdinands II. (1529 - 1595), Alfred Auer, Eva Irblich, Ausstellung des Kunsthistorischen Museums, Schloß Ambras, Innsbruck, 1995, S. 122 f.

Als König war Hagen durch seine Wildheit, seine Stärke und seine Strenge gefürchtet. Seine Tochter, die wieder Hilde hieß, versagte er jedem Freier, die Boten ließ er hängen. Die Schönheit des Mädchens wurde weithin gerühmt, von ihr hörte auch der mächtige König Hetel von Dänemark, dessen Herrschaft weit über die Nordsee und Ostsee reichte. Seine Helden bereiteten sich, ihm die Braut zu gewinnen. Es waren Wate von Stürmen, Horand und Frute von Dänemark, Morung von Rifland und Irold von Ortland. Die Helden rüsteten ein Schiff aus mit prächtigem Schmuck, Kostbarkeiten und Gewanden und verkleideten sich als Kaufleute, in den Schiffsraum aber legten sie gewaffnete Krieger. In Irland gaben sie vor, der gewaltige König Hetel habe sie vertrieben, sie erbaten den Schutz Hagens, und er wurde ihnen gern gewährt. Frute breitete in den Häusern, die man den Recken eingeräumt, seine Schätze aus und verkaufte sie wohlfeiler, als sie je ein Kaufmann verkauft hatte, ja, er gab auch allen denen gern, die ohne Kauf etwas begehrten. Die seltene Freigebigketi der Fremden eregte überall staunende Verwunderung, auch die junge Königstochter hörte von ihnen und wollte sie natürlich sehen. So lud man denn die Kaufleute an den Hof, dort schufen ihnen ihre reiche und prächtige Kleidung und ihr ritterliches Auftreten neue Freunde und Verehrer.

Wate maß sich mit Hagen in der Kunst des Fechtens, dabei zeigte er sich dem starken König ebenbürtig. Horand aber sang so schön, daß Hagen und die Seinen hingerissen zuhörten; auch die Tiere im Walde ließen ihre Weide stehen und die Würmer im Grase, die Fische im Wasser lauschten. Hilde entbot den Sänger heimlich zu sich, da sang er ihr seine schönsten Weisen und trug ihr dann die Werbung seines Herrn vor. Die Jungfrau will gern dem König Hetel folgen, wenn Horand auch dort morgens und abends ihr vorsingen wolle, das verspricht ihr der Held gern, doch seien bei Hetel zwölf Sänger, die ihn an Kunstfertigkeit überträfen, am schönsten aber singe der König selbst.

Nun nahmen die Gäste Abschied vom König; Hetel habe nach ihnen gesandt und ihnen Sühne geboten. Hagen geleitete sie auf ihre Schiffe, um auch selbst die dort ausgestellten Schätze zu betrachten. Hilde ging auf das reichste Schiff, auf das Frutes. Sowie sie mit ihren Jungfrauen an Bord war, wurden die Anker gelöst und die Segel aufgezogen, die verborgenen Gewappneten sprangen hervor, und vor den Augen ihrer Eltern fuhr Hilde davon. Hagen, in heller Wut, wollte den Flüchtigen sofort nach, doch seine Schiffe waren leck und nicht fahrbereit. Aber bald hatte er eine Flotte gesammelt, und als Hilde ankam und Hetel seine Braut empfing, erschienen am Horizont auch Hagens Schiffe. Am Strand begann nun ein grimmer Kampf. Hetel wurde dabei von Hagen verwundet, aber Wate war stärker selbst als der König von Irland und brachte ihm eine Wunde bei. Da flehte Hilde bei Hetel für den Vater und der schied den wütenden Streit der Helden. Wate, der von einem wilden Weib die Heilkunst gelernt, heilte die Verwundeten. Hagen verzieh gern seiner Tochter und erfreute sich ihres tapferen Gemahls, hätte er noch mehr Töchter, sagte er, so würde er sie alle zu Hetel und den Hegelingen senden.

Hetel und Hilde gewannen zwei Kinder: einen Sohn Ortwin und eine Tochter Gudrun. Die Tochter übertraf die Mutter noch an Schönheit, und sie wurde gleich ihr allen Freiern versagt. Der erste Werber war der heidnische König Siegfried von Morland. Er drohte, als er zurückgewiesen wurde, dem Hetel sein Reich zu verbrennen. Der zweite Werber Hartmut, der Sohn Ludwigs von der Normandie, schickte Boten, die nichts ausrichteten; dann kam er selbst, unerkannt, an Hetels Hof, gewann den Zutritt zu Gudrun und gab sich ihr zu erkennen; doch sie bat ihn nur, er möge forteilen, wenn ihm sein Leben lieb sei. Der dritte Werber, Herwig von Seeland, überzog den Hetel, als er verschmäht wurde, mit Krieg. Beim Zweikampf erprobte Hetel die Männlichkeit des jungen Helden und gewann zu ihm Zuneigung. Gudrun, die dem Kampf der beiden zusah, fühlte Stolz und Sorge zugleich und fühlte, wie die Liebe zu Herwig in ihr Herz einzog. Sie schied und versöhnte beide Kämpfer und wurde dem Herwig anverlobt.

Als Siegfried das hörte, fiel er, um sich zu rächen, in Herwigs Land ein. Dieser eilte zurück und Hetel zog mit ihm, um dem Bräutigam der Tochter Beistand zu leisten. Da vernahmen wieder Ludwig und Hartmut, daß Hetels Land und Helden entblößt seien; sie kamen mit einer großen Flotte und raubten Gudrun und ihre Jungfrauen. Als Herwig und Hetel die böse Botschaft hörten, schlössen sie Frieden mit Siegfried, und der gewährte ihnen sogar seine Hilfe. Alle eilten sie den Räubern nach, und auf dem Wülpenwerk erreichten sie die Normannen, wie sie gerade Rast hielten. Hetel erkämpfte sich die Landung, wieder erhob sich eine furchtbare Schlacht, die tapferen Helden beider Heere fielen, im Kampf wurde Hetel von Ludwig erschlagen. Nachts fuhren die Normannen mit Gudrun davon, Herwig und die Seinen aber waren durch ihre Verluste so geschwächt, daß sie ihnen nicht folgen und sie nicht in der Normandie angreifen konnten. So kehrten sie heim, die Rache mußten sie verschieben, bis die Kinder der Erschlagenen heranwuchsen.

Gudrun verweigerte Hartmut ihre Hand, sie könne dem nicht als Gemahlin folgen, dessen Vater ihren Vater erschlug, und sie wollte dem Herwig die Treue halten. Gerlint, Hartmuts Mutter, bot der Gudrun ihre Krone an, aber die Jungfrau blieb fest. Wie nun der junge König auf neue Heerfahrten zog, peinigte Gerlint die Gudrun und ihre Jungfrauen. Die stolze Königstochter mußte die Dienste einer Magd verrichten, mit ihren Haaren den Staub von Tischen und Bänken fegen und den Ofen heizen. Hartmut wiederholte seine Werbung und blieb immer ritterlich, Ortrun, seine Schwester, redete der Gudrun gütig zu, doch es blieb alles vergebens. Schließlich mußte Gudrun Tag für Tag die Kleidung Gerlints und des Gesindes am Meeresstrande waschen. Die treueste ihrer Gefährtinnen, Hiltburg, teilte gern ihr Los und ihre Erniedrigungen.

So vergingen dreizehn Jahre. Da ermahnte Frau Hilde die Helden an die Rache. Ortwin, Herwig, Frute, Wate und Horand führten ein starkes Heer über die See. Sie erreichten die normannische Küste und verbargen hinter einer waldigen Insel ihre Flotte. Herwig und Ortwin machten sich sofort auf zur Kundschaft.

Der Gudrun aber erschien, als sie am Strande wusch, auf den Wellen schwimmend ein Vogel; der verkündete ihr, ein Bote Gottes mit menschlicher Stimme, daß ihr Verlobter und ihr Bruder lebten, und daß ihre Freunde nun bald kommen würden, sie zu befreien. Die beiden Mädchen, voller Freude über das Gehörte, versäumten sich im Waschen und mußten abends einen besonders grimmigen Zornausbruch der Gerlint über sich ergehen lassen. Am nächsten Morgen war Schnee gefallen, und ein eisiger Märzwind wehte. Aber Gerlint wollte den beiden keine Schuhe geben, barfuß und im Hemd mußten sie durch den Schnee an den Meeresstrand waten. Dort erblickten sie endlich das ersehnte Boot und zwei Männer darin; als die Helden ans Land springen, wollen die Jungfrauen voller Scham fliehen, doch der Ruf der beiden hält sie zurück. Sie beben vor Frost, der Wind hat ihre Haare ganz zerzaust, und ihr schneeweißer Leib schimmert durch das Hemd. Die Helden bieten ihnen Mäntel an, doch sie weisen sie zurück. Noch erkennen sie sich nicht, und Ortwin fragt nach dem Fürsten des Landes und nach der Königstochter, die vor Jahren hergeführt wurde. Die sei vor Jammer gestorben, sagt Gudrun. Da fließen die Tränen aus den Augen der Männer. Dann aber erkennen Gudrun und Herwig eins an dem andern die goldenen Ringe an der Hand, Braut und Bräutigam küssen sich, und die Helden scheiden mit dem Versprechen, sie würden am nächsten Tag mit gewaltigem Heer vor der Burg erscheinen.

Gudrun aber will nicht länger dienen, nachdem zwei Könige sie geküßt und umarmt, und sie wirft das Linnen der Gerlint in das Meer. Der alten Königin, die sie zur Rede stellt, begegnet sie mit trotziger Antwort. Die droht ihr, sie würde sie mit Ruten peitschen und sie grausamer als je züchtigen. Gudrun verheißt ihr Rache, wenn sie einst gekrönt unter mächtigen Königinnen stehen würde und erklärt sich plötzlich geneigt, dem Hartmut die Hand zu reichen. Gerlint verzeiht ihr nun gern, sie jubelt, daß die Stolze sich endlich ergab. Hartmut eilt freudig herbei und will die Braut umarmen, sie deutet auf ihre ärmliche Kleidung und weist ihn zurück, noch sei sie nur eine arme Wäscherin. Dann bittet sie für sich und für ihre Jungfrauen um die gebührende Speise und Pflege. Die wird ihr gern gewährt. Als sie dann in ihrer Kemenate mit ihren Jungfrauen zusammen sitzt, teilt sie ihnen mit, was sie erlebt und lacht jubelnd und in wildem Triumph auf - als sie das Lachen hört, fürchtet die alte Königin, aber nur sie, Unheil.

Am nächsten Morgen sieht eine Jungfrau beim ersten Tagesschein und beim ersten Glanz des Wassers das Meer voller Segel und das in Waffen leuchtende Gefilde. Der Wächter weckt Ludwig und seine Helden und der Enscheidungskampf beginnt. Die Normannen tun sich durch große Tapferkeit hervor, Ludwig bringt den jungen Herwig in schwere Bedrängnis, wird aber endlich von ihm erschlagen. Nur die Fürbitte Gudruns und Herwigs Dazwischentreten, das ihm fast das Leben kostet, vermag es, den Wate von Hartmut fortzureißen. Nun stürmt der Alte in die Burg und erschlägt dort auch die Kinder, damit sie nicht zum Schaden der Nachkommen heranwachsen. Die alte Gerlint zieht er, trotz Gudruns hochherziger Fürbitte, aus ihrem Versteck hervor und schlägt ihr das Haupt ab. Ortrun wird von der dankbaren Gudrun beschützt. Das Land aber wird zerstört und die Burgen gebrochen. Nachdem Sieg und Rache vollendet, löst eine große Versöhnung den Kampf und Streit und verwandelt ihn in Frieden und Freude. Hartmut erhält sein Land zurück und wird mit Hiltburg vermählt. Seine Schwester Ortrud erhält Ortwin zum Gemahl, Siegfried von Morland erhält Herwigs Schwester, vor allem aber vereinen sich Herwig und Gudrun für immer, und Herwig führt die Braut nach Seeland heim.
Wenn wir die Gudrun unbefangen auf uns wirken lassen und uns dabei die alten Heldenlieder und die mittelalterlichen Dichtungen vergegenwärtigen, die nun schon in langer Reihe an uns vorüberglitten, so fühlen wir wohl manchen Anklang und manches Motiv aus der heroischen Zeit, und diese verstärken sich am Ende des Gedichtes. Besonders nah scheinen uns die Beziehungen der Gudrun zur dänischen Heldendichtung. Aber die Ähnlichkeiten, die das Gedicht mit den Spielmannsgedichten des deutschen Mittelalters verbinden, sind auffallender. Es hat die gleiche Liebe für den Reichtum und die Fülle der Erzählung. Der Geschichte von der Hilde und von der Gudrun schickt es die von Hagen voran, eine abenteuerliche Erfindung, für die zuerst die Kreuzzüge mit ihren seltsamen und wunderbaren Erlebnissen und namentlich die Berichte von den merkwürdigen und sonderbaren Taten und Reisen des Herzogs Ernst den Boden geschaffen haben. Die Geschichte der Hilde verbindet wie der König Rother die Werbung mit der listigen Entführung, die zuerst der Orient ersann. Der Dichter der Gudrun verweilt dabei weniger bei dem Heldentum der Mannen Hetels als bei ihrem Reichtum, ihren Kostbarkeiten und ihrem vornehmen Auftreten. Endlich die Geschichte der Gudrun ist in gewissem Sinne eine Vermehrung und Steigerung von der Geschichte der Hilde, wie die Gudrun die Mutter ja auch an Schönheit übertrifft. Drei Werber, nicht wie bei Hilde einer, bemühen sich um Gudruns Gunst. Der Einfall Siegfrieds in Herwigs Land, der Einfall der Normannen bei Hetel, der Kampf von Hetel zuerst gegen Herwig, dann gegen Hartmut und Ludwig, verwickeln und bereichern die Handlung. Herwig führt die Braut erst heim, nachdem diese ihren Vater verloren und eine schwere Zeit der Prüfung überstanden, der Geschichte des glücklichen Werbers Herwig steht die des unglücklichen, des Hartmut gegenüber. Der Bericht über Gudruns Prüfungszeit gleitet in das Märchenhafte, die Gerlint peinigt sie wie die böse Stiefmutter des Märchens die ihr verhaßten Kinder, und die Wundererscheinung, durch die Gudrun getröstet und beseligt wird, gibt den Begebnissen dann noch einen besonderen Schimmer des Wunderbaren.

Der Dichter der Gudrun wandte sich, wie wir sehen, den Spielleuten gleich an Hörer, die unterhalten sein wollten, und er wußte mit einem Geschick, das uns weder der Rother, noch der Wolfdietrich, noch gar die Gedichte über Dietrich von Bern zeigen, die Begebnisse zu verdoppeln, zu steigern und immer reicher, verwickelter und großartiger zu gestalten. Wie die Spielleute sorgte er neben der Unterhaltung für die Rührung. Er läßt sich ebensowenig wie der Dichter des Rother und des Wolfdietrich eine Wiedererkennungsszene entgehen. Als Herwig und Ortwin und Gudrun sich nach langer Trennung begrüßen, weinen sogar die Männer. Die Wiedererkennung wird dadurch noch ergreifender, daß die Königstochter zuerst sagt, die Gudrun, sie selbst, sei vor Jammer gestorben. In ganz großem Stil aber brachte der Dichter das gute Ende, das seine Hörer verlangten. Nicht so einfach stellte er es her wie bei der Hilde, Tod und Wehklage gehen ihm voraus, dann aber finden sich nicht nur Herwig und Gudrun, auch Hartmut, Siegfried, Hildburg und Ortrun scheiden als glücklich Vermählte von uns.

Die einzelnen Ereignisse, Feste, Werbungen, Botenreisen, Beratungen, Rüstungen, Überfälle, Kämpfe, Seefahrten, putzt und schmückt der Dichter überall. Welche Fülle der Helden: Hagen, Hetel, Wate, Horand, Frute, Morung, Irold, Herwig, Ortwin, Hartmut, Ludwig, Siegfried. An den Kämpfen selbst läßt der Dichter unendliche Mengen teilnehmen und übertreibt die Zahlen in das Phantastische. Der Kampf der Könige vollzieht sich nach ritterlichem Brauch, und die Helden fechten wie die der französischen Heldengedichte auch friedlich miteinander, um ihre Kräfte zu messen. Bei dem Kampf der Waffen hören wir den dröhnenden Klang der Schwerter, fühlen die Hiebe auf den Gegner niederprasseln, sehen die Funken aus Helmen und Klingen springen, entzückt gleiten die Blicke des Dichters über die in wundervoller Ordnung anrückenden Scharen, er schildert, stolz über seine Kenntnisse, die einzelnen Heerzeichen, wie er denn auch bei Empfängen und Festen auf die Wahrung des Zeremoniellen sehr bedacht ist.

Überall erkennen wir den Reichtum, die Buntheit und die Freude an der Fülle der Ereignisse und Schilderungen, und darin begrüßen wir das Mittelalter, das die Kreuzzüge und das Rittertum geschaffen haben. Eine ritterliche Dichtung, aber nicht im exklusiven Geschmack der höfischen Epen, sondern eine ritterliche Dichtung, durch die ein Spielmann breite Massen von Hörern erfreuen wollte, das war die Gudrun.

Der Eindruck, den das Gedicht auf uns Gegenwärtige macht, ist, während wir es lesen, recht wechselnd. Neben frischen und starken Stellen stehen Weitschweifigkeiten, matte und erfindungsarme Verse, eine mühselig sich weiterschleppende Erzählung, eine Art, in endlosen Wendungen, die nur wenig voneinander abweichen, im Grund immer wieder das gleiche zu sagen. Es ist darum nicht zu verwundern, daß die Forschung sich bemühte, diese schwachen und unvollkommenen Teile zu entfernen und das Gedicht in alter Reinheit und Größe wiederherzustellen. Aber diese Versuche gingen von falschen Voraussetzungen aus, sie meinten, wenn sie die späteren Zutaten abtrennten, gewännen sie ein wuchtiges Gedicht des heroischen Stils; das wollte und konnte aber die Gudrun niemals sein. Die alten Lieder und Sagen aus der heroischen Zeit, die sie verwertet, bildet sie ja nach ihrem Geschmack um; sie waren ihr auch viel weniger durch ihren heroischen Charakter als durch ihren wechselvollen Inhalt, durch die Geschichten von Werbung und Kampf willkommen. Gerade was uns als Weitschweifigkeit erscheint, verlangte vielleicht die Zuhörerschaft des alten Dichters. Dadurch, daß er sich oft wiederholte, machte er seine Verse eindringlicher und einprägsamer, als wenn er die Dinge nur einmal ausgesprochen hätte. Wenn die Gudrun überhaupt jemals wesentlich anders war als so, wie sie nun vor uns steht, so war sie doch immer eine Spielmannsdichtung und dem König Rother und dem Herzog Ernst enger verwandt als den alten Heldenliedern. Aus dieser literarischen Stellung unseres Gedichtes dürfen wir uns auch ableiten, daß der Dichter so gern formelhafte Wendungen und Reime bringt, die seinen Hörern vertraut waren, sich in Variationen ergeht und anderen Dichtungen, von denen er wiederum annahm, daß seine Zuhörer sie kannten, allerhand Einflüsse auf sein Werk gestattete.

Aus der reinen Spielmannsdichtung ragt die Gudrun doch wieder hervor, nicht allein durch die Kunst ihres Aufbaues, auch durch ihre Kunst, Charaktere zu erfassen und zu schildern.

Wieviele haben schon an Hagen und Wate, an Hartmut und Horand, an Hilde und Gudrun sich gefreut, wie nah und wie lebendig sind uns diese Menschen! Hagen und vor allem Wate sind sicher und mit leichter Überlegenheit erfaßt, Hagen bei aller seiner Wildheit streng und gerecht, Wate ein Vorbild stürmischer und unersättlicher Tapferkeit, Haudegen und doch das Muster eines Helden, voll rasenden Zorns, wenn die Wildheit des Kampfes über ihn kommt, sonst ein Wahrer heroischer Sitte, einfach und gradaus, ja voll entzückender Kindlichkeit und voller Freude an bunten märchenhaften Geschichten. Sehr hübsch steht diesem rauhen, männlichen, ungefügen Recken der schmiegsame, verführerische und doch so ritterliche Horand gegenüber, dem die Herzen aller Frauen zufliegen. Für Herwig tut der Dichter weniger, sein Glück nach langer Leidenszeit und die Liebe, durch die Gudrun ihn auszeichnet, war ihm wohl genug. Dagegen hebt er den unglücklichen Nebenbuhler Hartmut. Niemals verliert dieser der Gudrun gegenüber seine ritterliche Zartheit und Schonung, immer schützt er sie, wo er nur kann, vor dem Zorn und der rohen Mißhandlung Gerlints und Ludwigs. Als die Geliebte sich ihm zusagt, als er sie umarmen will, sie aber sich ihm entzieht, da tritt er bescheiden zurück und gönnt ihr und ihrem Gefolge gern ihre Freude. Er beschwichtigt sogar die mißtrauische Gerlint. Es liegt gewiß eine Tragik darin, daß er gerade, als er nach jahrelangem Harren sich endlich am Ziel seiner Wünsche wähnt, überwunden und seines Glücks und Landes beraubt wird. Reizend ist Hilde. Dem Bater, an den sich sonst niemand heranwagt, streichelt sie den Bart und bettelt ihm eine Erlaubnis ab. Voller Scheu und doch glücklich, einmal etwas Verbotenes zu tun und etwas Interessantes zu erleben, empfängt sie den Horand, und sie erklärt sich nur dann bereit, dem Hetel zu folgen, wenn auch bei ihm Horand ihr jeden Morgen und Abend etwas vorsinge.

Die reichste und größte unter ihnen bleibt aber, wie wir alle wissen, Gudrun. Der Dichter läßt sie nach germanischer Art vor unseren Augen wachsen, nicht im Glück, erst in Not und Elend zeigt sie ihre ganz Größe und Treue. Durch ihre Ruhe, mit der sie gelassen und königlich alle Demütigungen erträgt, erhebt sie immer von neuem sich über die Gerlint und reizt diese dadurch zu heftigerem und doch ohnmächtigem Zorn. Als die Vergeltung naht, ist sie ganz germanische Heldin in ihrer Verschlagenheit, ihrem listigen Trug und ihrem wilden Triumph. Mitten im Kampf enthüllt sich ihre Hochherzigkeit und Milde, sie schont die Ortrun, sie will sogar ihre Peinigerin, die Gerlint, schonen, und das ist vielleicht der schönste Zug in ihrem Wesen. Dabei bleibt Gudrun als Königin und als Wäscherin immer ganz Frau, voll zarten Gefühls für Schicklichkeit und Scham. Die Feinfühligkeit der psychologischen Schilderung haben wir im Germanischen noch nicht, wohl aber in der dänischen Heldendichtung entdeckt, die Milde und Großmut hat wohl das Christentum der Gudrun gegeben.
Der Charakter der Gudrun bringt uns den heroischen Anfängen des Gedichtes nah. Wir haben schon angedeutet, wo vor allem wir diese suchen müssen: in Dänemark.

Hetel ist dänischer König, und sein Reich erstreckt sich weit über Nord- und Ostsee. Es entspricht ungefähr dem Dänemark vom Ende des neunten Jahrhunderts. Damals herrschte Dänemark in England und unternahm Beutezüge nach Irland. Hagen aber, Hildes Vater, ist irischer König. Horand und Frute sind dänische Helden, Frute ursprünglich der freigebige und milde dänische König Frodi. Wo Wates Mark Stürmen liegt, ob bei Verden oder in Holstein, ist ungewiß. Und ebenso bleibt es unsicher, ob wir Herwig in Seeland ansiedeln dürfen. Siegfried von Morland ist wieder ein Dänenfürst, der im neunten Jahrhundert in Frankreich und den Niederlanden einfiel und im Kampf gegen die Friesen seinen Tod fand. Hartmut und Ludwig sind Normannen, die Normannen hatten enge Beziehungen zu England im zehnten Jahrhundert, England aber gehörte im zehnten Jahrhundert auch zu Dänemark. Der Wülpenwerk (wulp heißt ein Brachvogel, der in der Gegend dort nistet) ist bei der Scheidenmündung im westlichen Friesland nachgewiesen. Diese Namen und Orte weisen, soweit sie sicher sind, auf die Dänen des neunten und zehnten Jahrhunderts und ihre Kämpfe mit germanischen Völkern, mit den Friesen und den Normannen und außerdem mit den Iren. Die noch unsicheren Namen widersprechen diesen Zeugnissen nicht.

In dieselbe Zeit und in dieselben Kämpfe führt auch, manchmal allerdings auf Umwegen, der Inhalt der Gudrun. Von Hetel und Hilde erzählt der Isländer Snorri:

Ein König, der Hagen genannt ist, hatte eine Tochter, die Hild hieß; sie nahm als Kriegsbeute ein König, der Hedin hieß, der Sohn des Hjarrandi. Da war der König gerade gefahren zu einer Königsversammlung. Aber als er erfuhr, daß in seinem Reiche geheert war und seine Tochter fortgenommen, da machte er sich mit seinen Mannen auf, um Hedin zu suchen, und erfuhr über ihn, daß er nach dem Norden zu gefahren sei. Als der König Hagen nach Norwegen kam, erfuhr er, daß Hedin weitergesegelt sei, nach Westen, da segelte Hagen ihm immer nach, bis zu den Orkney-Inseln, und als er dorthin kam zu der Insel, die Haen heißt, da lagen Hedin und sein Gefolge vor ihm. Nun fuhr Hild zur Begegnung mit ihrem Vater und bot ihm einen Vergleich an von Hedins Seite, aber in demselben Atem sagte sie, daß Hedin zum Schlagen bereit sei, und Hagen solle sich keine Hoffnung darauf machen, er 'werde ihn irgendwie schonen. Hagen antwortete kurz seiner Tochter; aber als sie zu Hedin zurückkehrte, sagte sie ihm, daß Hagen keinen Vergleich wollte, und bat ihn, sich zum Kampfe zu rüsten. Das tun sie nun beide, sie gehen auf die Insel, und ihre Heere folgen. Da ruft Hedin den Hagen an als seinen Verwandten und bietet ihm einen Vergleich und viel Gold als Buße. Hagen antwortet: "Zu spät botest du das, wenn du einen Vergleich willst, denn nun habe ich Dainsleif das Schwert aus der Scheide gezogen, das die Zwerge machten, das eines Mannes Mörder werden soll, jedesmal daß es entblößt wird, und niemals verfehlt es einen Hieb, und die Wunde wächst nicht zu, die es schlägt." Da antwortet Hedin: "Du rühmst dich des Schwertes, aber nicht des Sieges, mir ist jede Waffe gut, die dem Herrn gehorcht." So begannen sie den Kampf, der der Kampf der Hjadninge genannt wird, und schlagen sich den ganzen Tag, und am Abend gingen die Könige zu ihren Schiffen. Aber Hild ging in der Nacht auf die Wahlstatt und weckte sie auf durch Zauberei, alle, die tot waren, und den anderen Tag gingen die Könige zum Kampfplatz und schlugen sich ebenso alle, die am vorigen Tag gefallen "waren. So ging dieser Kampf einen Tag nach dem anderen, daß alle Männer, die fielen, und alle Waffen, die auf den Kampfplatz lagen, zu Steinen wurden. Aber als es tagte, standen alle toten Männer auf und schlugen sich, und alle Waffen wurden neu. So ist es gesagt in den Gedichten, daß die Hjadninge so die Götterdämmerung erwarten.

Die Sage von Hetel und Hilde ist uns vom neunten bis zum vierzehnten Jahrhundert in nordischen Ländern bezeugt und wurde also gern erzählt und besungen. Ihre Größe und Wildheit macht das leicht verständlich. Wir finden die Sage in der Skaldendichtung, in Anspielungen, bei Saxo Grammaticus, in der isländischen Saga
und schließlich in Balladen. Sogar eine Ballade, die 1774 ein schottischer Reisender auf den Shetlandinseln hörte, bewahrt eine Erinnerung daran, vermischt sie allerdings mit anderen Erinnerungen z.B. mit solchen aus den Liedern von den Nibelungen und von Hagbard und Signe. Genau stimmen die anderen Berichte nicht immer mit denen von Snorri überein. Aber die Abweichungen geben sich meist als Zutaten späterer Erzähler leicht zu erkennen. Zum Beispiel hat Saxo, indem ihn die Erinnerung an einen anderen Kampf verwirrte, den Kampf von Hedin und Hagen verdoppelt, und er hat seine Erzählung mit Motiven aus dänischen Liebessagen vermischt. Eine späte isländische Saga fabelt, die Göttin Frena hätte den Kampf zwischen den Hjadningen heraufbeschworen, um den Odhin zu versöhnen, dem sie die Treue gebrochen. Bei diesen beiden Gewährsmännern sind Hagen und Hedin, wie viele Helden der isländischen Saga, bevor sie sich verfeinden, Blutbrüder.

In dem Bericht von Snorri erscheint dem ersten Blick und auch vielen Forschern der ewige Kampf der Hjadninge als das Älteste und Mythische. Wer genauer zusieht, erkennt, daß in der Erzählung von diesem Kampf die unersättliche Kampflust der Wikinger sich zeigt und ihr Hang, eine alte einfache tragische Sage in das Phantastische zu erhöhen, in das Endlose zu erweitern. Im Bericht von Snorri ist außerdem manches sonderbar, er wirrt den Tod und die Versteinerung der Helden durcheinander und hat vergessen, daß ursprünglich die Seelen der Gefallenen, sie allein, in jeder Nacht, und nur nachts, weiterkämpfen. Die ganze Erzählung von dem ewigen Kampf ist eigentlich eine Erzählung für sich, hängt mit der Hildesage gar nicht zusammen und wurde erst im Nordischen, schwerlich vor dem elften Jahrhundert und wahrscheinlich in Island, mit der Hildesage verbunden. Auch die Geschichte von dem unheilbringenden Schwerte Hagens ist nicht heroisch, sondern eine der schönen und finsteren Erfindungen, die gerade die isländische Saga liebt, wir denken etwa an die Herwarasaga.

Trennen wir beides ab, so steht die Dichtung vor uns, daß Hedin die Hilde liebt, daß sie seine Liebe erwidert und ihrem Vater zum Trotz ihm folgt. Ihr Geliebter raubt sie, ihr Vater verfolgt das Paar, Vater und Geliebter kämpfen miteinander und fallen beide, sie bleibt einsam zurück. In dieser Gestalt ist die Dichtung der dänischen von Hagbard und Signe und der dänischen von Helgi und Sigrun sehr ähnlich. Sie hat wohl auch im Dänemark des neunten Jahrhunderts ihre Heimat und ist von dort nördlich nach Island, südlich nach Deutschland gewandert.

Da der Widsith die Namen von Hagen (Hagena), Hedin (Heoden) und Wate (Wada) unmittelbar nebeneinander nennt, ist es wahrscheinlich, daß die Anfänge der Hildesage aus der germanischen Zeit stammen. Widsith nennt auch die Reiche, die diese Fürsten beherrschten, doch sind deren Namen noch nicht befriedigend gedeutet. Die Ereignisse aus der Wikingerzeit hauchten der germanischen Sage neues Leben ein, und das ist das Leben, das wir kennen. In dem deutschen Gedicht ist der alte tragische Ausgang nicht wie im Nordischen in das Mythische und Endlose gesteigert, sondern, wie in dem jüngeren Hildebrandslied und in der späten Wielandsage, in das Freundliche und Versöhnliche umgewandelt, so wie es eben die Hörer des Dichters wollten. Außerdem ist die Sage bereichert und erweitert durch Frute, Horant und Wate.

Frute ist von diesen der unwesentlichste und hängt mit der Sage nicht organisch zusammen. Die Spielleute, denen ein freigebiger König immer willkommen war, haben einen der freigebigsten und reichsten - denn das war Frute - natürlich mit besonderem Wohlbehagen in ihre Dichtung eingefügt.

Der Name Horand klingt an das altenglische Heorrenda an -dieser Sänger hat den Deor aus der Gunst seines Herrn verdrängt -und an das nordische Hjarrandi. Im Nordischen ist Hjarrandi der Vater Hedins und erscheint auch einmal als ein Beiname des Gottes Odhin. Dieser Beiname scheint uns einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Sage von Horand zu liefern. Ursprünglich war der Name Hjarrandi, wie sein Klang zeigt, wohl der eines Sängers. Keiner aber war des Gesanges, seiner Zauberkraft und seiner betörenden Gewalt mächtiger als der nordische Odhin. Mit Zauber und Gesang gewann er sich widerstrebende Jungfrauen und machte sie seinem Willen gefügig, wie die Rind und wie die Gunnlöd. Dieser Art war gewiß auch einmal der nordische Inhalt der Horandsage. Bei Snorri ist dann Horand Hedins Vater, im Deutschen singt er im Auftrag seines Herrn, statt des singenden Gottes und des germanischen Sängers erscheint in der Gudrun der ritterliche Spielmann.

Wate in seiner unbändigen Kampflust, in der Vorbildlichkeit seines Heldentums, erinnert wieder an einen dänischen Helden, an den Starkad. Wie jener steht er als erprobter und ergrauter Krieger dem jungen König bei und hält auch seiner Gemahlin und seinen Kindern unverrückbar die Treue. Wie jener ist er unerbittlich in der Rache und erschlägt sogar die Kinder, damit sie nicht heranwachsen. Die Ähnlichkeiten reichen noch weiter, wie Starkad wurde Wate in späteren Sagen mit einem Wasserriesen verschmolzen, den die deutschen meeranwohnenden Stämme kannten. Dem deutschen Dichter der Gudrun erscheint dieser alte Held gar zu wild, und er hält ihn zurück und entreißt ihm seine Opfer, damit er nicht gar so vernichtend wüte. Er gibt auch seinem Wesen, wie wir gesehen haben, eine hübsche Kindlichkeit.

Ob der deutsche Dichter oder ob schon dänische Erzähler den Wate und Horand mit der Hildesage verbanden, läßt sich nicht entscheiden. Zugunsten des deutschen Dichters würde es sprechen, daß er überhaupt den Inhalt seiner Dichtung sehr geschickt erweiterte und steigerte, zugunsten des dänischen, daß die Helden alle dänische Helden sind.

Nun, da sich uns die Geschichte der Sage von Hilde und Hetel geklärt hat, wenden wir uns der von der Gudrun zu. Sie wiederholt das Hauptmotiv der Hildesage, die Entführung des Mädchens. In der Gudrun ist Hartmut der Entführer, Hetel der Verfolger, die List bei der Werbung ist abgestreift, Raub und Kampf stehen an ihrer Stelle, das Ende ist der Tod Hetels. Wir betreten hier also wieder den Boden der Heldendichtung und, wie wir bereits andeuteten, die Sage der Gudrun birgt reichere Schätze aus der alten Heldendichtung als die Sage der Hilde.

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General wallenstein
28.01.04, 18:50
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Es ist verkehrt, wenn man die Sage der Gudrun eine Doublette der Hildesage nennt. Denn einmal ist, wie wir eben zeigten, die Entführung in ihr ganz anders und viel heroischer geschildert und außerdem ist in dem Teile des Gedichtes, der Gudrun gilt, der Kern gar nicht die Entführung, sondern die lange und sorgfältig vorbereitete Rache für eine schwere Niederlage. Dieser Kern ist aber im wesentlichen, wenn auch die Folge der Ereignisse nicht ganz genau sich entspricht, auch der Kern der germanischen Sage vom Kampf um Finnsburg. Auch dort wird zuerst die Niederlage erzählt und hinterher nach langer Vorbereitung die Rache. Auch dort wird ein plötzlicher Überfall der Feinde beim ersten Aufleuchten des Morgens geschildert, auch dort verbindet sich die Geschichte der Kämpfe mit der Rückerobererung einer Frau, die der vorher siegreiche Feind entführte. Im Kampf um Finnsburg heißt die entführte Hildburg, und neben der deutschen Gudrun erscheint plötzlich als ihre Leidensgefährtin auch eine Hildburg. Am Schluß des Gedichtes reicht sie dem Hartmut, dem Fürst der Feinde, die Hand, wie die Hildburg der alten Sage eine Zeitlang dem Fürsten der Feinde als Gemahlin gehörte. Das letzte mag nur ein hübscher Zufall sein, aber er hat etwas Ermutigendes. Und vor allem: Der Kampf um Finnsburg tobte zwischen Dänen und Friesen, und in der Gudrun ist Hetel ein Däne und der Wülpenwert liegt im westlichen Friesland.

Wahrscheinlich also war der Anfang der Gudrundichtung ein germanisches Lied vom Kampf der Friesen und Dänen, und dies war dem Lied vom Kampf um Finnsburg nah verwandt.

Gudrun verhält sich zu ihren Werbern anders als ihre Mutter Hilde. Im Grunde wählt sie zwischen Hartmut und Herwig, und in der Dichtung, die unserer deutschen Gudrun als Quelle vorlag, wird sie bei der Werbung ihren Vater gar nicht gefragt, sondern selbst zwischen den Werbern entschieden haben. Eine Entscheidung dieser Art trafen aber gerade dänische Frauen: die Signe und die Sigrun. Wie Signe teilt Gudrun nun auch Leid und Glück mit ihren Jungfrauen, und sogar die Gerlint der Gudrun, über welche die gedemütigte Königstochter triumphiert, darf man mit der Mutter Signes vergleichen, in der Art, wie ihr Hagbard gegenübertritt. Sie will ja den Hagbard auf seinem letzten Weg verhöhnen, er aber fügt ihr einen noch wilderen Schmerz zu und bleibt der Sieger. An die Sigrun aber erinnert die Gudrun in ihrem Verhältnis zu Hartmut, insofern die Sigrun des zweiten Heldenliedes den Hödbrodd edelmütig tröstete, den sie zurückwies und der um ihretwillen fiel. In dem deutschen Gedicht ist das Verhältnis von Gudrun zu Herwig und Hartmut nicht ganz klar geschildert, besonders die Bemerkungen über Herwig widersprechen sich, bald erscheint er als mächtiger König, bald als ein Held niedriger Herkunft. Vielleicht war in der Dichtung, aus der unser deutscher Spielmann schöpfte, die Gudrun dem Hartmut, ihr Vater dem Herwig freundlich gesinnt.

Die im Leiden unsäglich stolze Gudrun erinnert uns an jene Riesenmädchen, die der habgierige Frodi knechtete, und ihre Verschlagenheit in der Rache ist, wie wir wissen, die Verschlagenheit der germanischen Frau. Die Gerlint hat der deutsche Dichter gar zu sehr in das Märchenhafte gezogen. Die Szene, in der Gudrun als Wäscherin von Bruder und Bräutigam getröstet wird, wiederholen die Balladen von der geraubten Schwester und ihrer Befreiung durch den Bruder; dabei bleibt aber ungewiß, ob diese Balladen der Gudrun entsprangen, oder ob umgekehrt der Dichter der Gudrun aus ihnen schöpfte.

Die Sage, die dem dänischen König Siegfried von Morland galt, kennen wir nicht genau, und ebenso ist es unsicher, aus welcher dichterischen Überlieferung Herwig stammt, ob er wirklich einmal ein nordischer Seekönig, ein Wiking war, der sich kühn und gewalttätig die Braut raubte.

Eine genauere Kenntnis und eindringendere Untersuchung der dänischen Heldendichtung würde wohl noch manches neue Licht bringen - möchte sie uns doch Axel Olrik, der Berufenste, schenken! Dann würde auch die Vorgeschichte der deutschen Gudrun sich noch in vielem aufhellen lassen, und man könnte das Material abgrenzen, das der deutsche Dichter kannte.

Doch das Wesentliche dieser Hinweise wird, wie wir hoffen, bestehen bleiben. Aus germanischen und dänischen Überlieferungen ist die Gudrun gewachsen, und im deutschen Mittelalter hat sie ein Dichter umgedichtet, der den Spielleuten nahestand; alles in allem mit großer Kunst des Aufbaues und der Charakterisierung, aber dem Geschmack seiner Hörer gegenüber gar zu nachgiebig.

Unsere Gudrun ist in Bayern niedergeschrieben worden. Ob auch ein Bayer die Gedichte von Hilde und Gudrun, die von Dänemark und Niederdeutschland her rheinaufwärts wanderten, erweitert, verbunden und verschmolzen hat? Wir wissen es nicht. Bekannt ist uns nur, daß ein rheinischer Dichter aus dem ersten Drittel es zwölften Jahrhunderts, der Pfaffe Lamprecht, der allerdings vieles durcheinanderrührt, noch den tragischen Ausgang des Kampfes um Hetel und Hilde kennt. Doch er verlegt diesen Kampf auf den Wülpenwert, der doch in dem späteren Gedicht der Schauplatz des Kampfes um die Gudrun war. Namen aus der Gudrun sind uns dann in Bayern seit dem zwölften Jahrhundert bezeugt.

Die Zeitgenossen haben die Gudrun nicht so geliebt und geschätzt wie wir. Wahrscheinlich ist sie ihnen nicht bunt und abenteuerlich genug gewesen, zu fest gefügt und gerade durch ihren alten heroischen Inhalt doch zu eintönig; sie liebten wohl nicht diese sich ewig wiederholenden und im Grunde einander so ähnlichen Entführungen und Kämpfe. Erst im neunzehnten Jahrhundert haben sich die Augen für die Kunst der Gudrun geöffnet; seine Forscher haben freilich lange Zeit hindurch ihren heroischen Gehalt überschätzt, ihre mittelalterliche Art verkannt.

Nun hat auch unsere Wanderung durch die Heldendichtung des deutschen Mittelalter, soweit sie außerhalb des Nibelungenliedes liegt, glücklich ein Ende. Es war oft ein beschwerlicher Weg, und er führte durch allzu dichte Wirrnis der Abenteuer. Wie mühsam aber wäre die Fahrt erst geworden, hätten wir unsere Leser durch alle Schlachten und durch alle ärmlichen Erfindungen der Epen von Dietrich von Bern oder durch alle Erlebnisse des Wolfdietrich geschleppt. So fanden wir in der bunten Fülle der Geschichten, in der kindlichen Einfalt und Unschuld des Märchens und der Legende und in der heiteren Freude am Fabulieren reichen Ersatz für die Verluste im Heldenhaften. Wie froh ist doch das Mittelalter über seine Mären, und wie gern und viel und hübsch hat es manchmal erzählt, dieselbe Zeit, die man immer noch die finstere nennen hört, und die so viel bunter, heiterer und kindlicher war als die strenge und unbarmherzige Zeit der Völkerwanderung. Es war natürlich, daß in diesem Mittelalter die Heldensage viel von ihrem heroischen Charakter verlor. Seltsam erscheint es uns freilich, daß in unserer Überlieferung gerade ein Geistlicher als erster den Weg geht, der von der Dichtung, die stählen und hart machen will, führt zu der anderen, die nur die Unterhaltung liebt. Unter der bunten Decke der mittelalterlichen Fabeleien zogen wir aber manchmal noch das alte Heldentum hervor und erkannten, daß es in manchen Helden und Heldinnen, wie im Dietrich von Bern und in der Gudrun, rein und groß blieb wie in den alten Tagen, ja daß es sich läuterte. Bei der Gudrun hat sich unsere Kenntnis der alten Sagen und Lieder sogar bereichert.

Quelle: Heldensagen, Genf 1996

General wallenstein
28.01.04, 18:51
DIE GRÜNDUNG DER STADT AACHEN

Kaiser Karl der Große war ein eifriger Jäger, und nichts liebte er so als das edle Waidwerk, mit dem er sich von seinen schweren Staatsgeschäften zu erholen pflegte. Nun waren aber in der Gegend, wo jetzt die Stadt Aachen liegt, vor Zeiten große Eichen- und Buchenwälder, die in ihrer Abwechselung mit dichten Tannen- und Fichtenwäldern, Sümpfen und Heidestrecken treffliche Verstecke für Wild und Raubtiere aller Art abgaben. Es darf also nicht wundernehmen, wenn der Kaiser, sobald er in diese Gegend kam, gerade hier am meisten mit seinem Gefolge jagte. Auf einer dieser Jagden hatte er sich jedoch bei Verfolgung eines Hirsches allzuweit von seinen Begleitern entfernt und kam so, im Walde herumirrend, zu einem in Trümmern liegenden alten Schlosse. Als er jedoch dasselbe näher in Augenschein nehmen wollte, versank plötzlich sein Roß mit den Vorderfüßen in einem Morast. Der Kaiser stieg von dem Pferde herab, um es herauszuziehen und sah an der Stelle, wo dasselbe die Erde durchbrochen hatte, heiße Dämpfe und gleich darauf einen Wasserstrahl aus dem Boden aufspritzen. Der fromme Kaiser sank auf die Erde und dankte Gott in seinem Gebete für diese Entdek-kung, denn er erkannte sofort, daß er eine heilbringende Quelle entdeckt habe. Er gelobte gleichzeitig, der Jungfrau Maria hier einen Tempel zu errichten und sich aus dem alten Schlosse ein Jagdschloß und eine Pfalz bauen zu lassen. Das war die erste Entstehung des Kaiserpalastes zu Aachen und der Liebfrauenkirche. Nach und nach fand man noch mehrere heiße Quellen in der Nähe seiner Burg; diese ließ der Kaiser fassen und legte selbst Badehäuser an, die er später fleißig benutzte. Dies ist das sogenannte Kaisersbad gewesen. (Aachen)

Quelle: J. G. Th. Grässe, Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen, 2 Bde., 2. A., Glogau 1871

General wallenstein
28.01.04, 19:04
DIE GRÜNDUNG HILDESHEIMS

Die Gegend, in der heute Hildesheim liegt, war früher von häßlicher Wildheit entstellt, von Sümpfen bedeckt, von Wäldern starrend und gut zur Jagd.

Kaiser Ludwig der Fromme, der Sohn Karls des Großen, hatte die Absicht, die Kirche zu Elze zum Haupt und Sitz eines Bistums zu erheben, und besuchte diesen Ort häufig. Einmal überschritt er in der Leidenschaft der Jagd die Leine und ließ an der Stelle, die jetzt die Kirche von Hildesheim einnimmt, sein Zelt aufschlagen, hörte dort auch bei den herübergebrachten Heiligtümern aus der königlichen Kapelle die Messe. Nach Gottes Vorsehung waren das aber die Heiligtümer der Gottesmutter Maria.

Als der König nach Elze zurückkehrte und dort die Messe hören wollte, erinnerte sich der Kaplan, daß er die Heiligtümer im Walde vergessen hatte. Vom Stachel der Angst getrieben, ging er zurück und fand sie da, wo er sie hingehängt hatte, nämlich am Ast eines Baumes, der eine sehr klare Quelle beschattete. Aber, o Wunder, die Heiligtümer, die er leicht mit der Hand aufgehängt hatte, vermochte er mit keiner Anstrengung wieder abzunehmen. Er lief zurück, um dem Kaiser die wunderbare Nachricht zu melden; dieser eilte schnell herbei und ließ eine Kapelle an der Stelle errichten. Den Ort, von dem dadurch erwiesen war, daß er der Gottesmutter so sehr gefallen hatte, begann König Ludwig mit allem Eifer zu fördern und machte ihn anstatt Elze zum Hauptsitz des Bistums.

Quelle: Karl Werhan, Die deutschen Sagen des Mittelalters, 2 Bde., München 1920

General wallenstein
28.01.04, 19:05
DER NAME FRANKFURT

Der Kaiser begab sich von Bamberg zunächst nach Würzburg, dann nach Frankfurt, und hier verbrachte er in Festesfreude das Geburtsfest des Herrn. Die Herkunft dieses Ortsnamens soll dir nicht länger unklar bleiben, lieber Leser; deshalb will ich dir jetzt erzählen, was ich von glaubwürdigen Männern darüber gehört habe. Unter der Regierung Kaiser Karls des Großen, des Sohnes König Pippins, kam es zwischen den Seinen und unseren Vorfahren zum Kriege; in diesem Kampfe wurden die Franken von den Unsrigen besiegt; als sie nun, unkundig einer Furt, über den Main zurück mußten, ging vor ihnen eine Hirschkuh hinüber und zeigte ihnen so durch Gottes Erbarmen gleichsam den Weg; ihr folgten sie und erreichten frohen Mutes das rettende Ufer. Danach heißt der Ort Frankfurt. Als sich der Caesar auf diesem Feldzug schon von den Feinden überwunden sah, wich er als erster zurück und erklärte: «Es ist mir lieber, daß die Leute mich schmähen und sagen, ich sei von hier geflohen, als ich sei hier gefallen. Denn solange ich lebe, darf ich hoffen, die mir angetane schwere Schmach zu rächen.»

Quelle: Thietmar von Merseburg, Chronicon VII, 75, ed. W. Trillmich, Darmstadt 1957

General wallenstein
28.01.04, 19:06
LÜBECKS NAME

Im Jahre 1066 empörten sich die Wenden gegen den deutschen Kaiser, ermordeten ihren christlichen König Gottschalk und setzten den Fürsten von Rügen, Kruto, auf den Thron .Dieser baute auf dem Werder zwischen Trave und Wa-kenitz eine feste Burg mit Mauern und Türmen, die man Buku, Bughenitz oder Bukowitz nannte, weil der Platz mit schönen hohen Buchen lustig bestanden war. Als nun König Kruto auf einem Seezuge in der Ferne war, kam Buthue, König Gottschalks Sohn, und belagerte den Ort mit Hilfe der Sachsen. In kurzer Zeit gingen den Einwohnern die Lebensmittel aus und die Stadt wäre in die Hände der Feinde gefallen, hätte sie nicht ein kluger Fischer namens Buba durch eine List gerettet. Er nahm eines Tages alles Brot, Fleisch und andere Speisen, soviel er noch auf treiben konnte, in seinen Kahn und fuhr damit ganz sorglos auf die feindlichen Schiffe zu, die die Trave gesperrt hielten. Als er angehalten und sein Kahn untersucht wurde, wunderten sich die Belagerer über die vielen Eßwaren und fragten ihn, was er damit wollte. Da sagte Buba, er hätte sich hinausbegeben, um seine Ware auf den umliegenden Märkten zu verkaufen, weil in der Stadt alles wohlfeil wäre. Wie das die Feinde hörten, verzweifelten sie an der Einnahme der Stadt und hoben die Belagerung gleich auf. Nun kehrte Buba jubelnd zurück, und da sein Anschlag so wohl gelungen war, stellte man ihm einen Wunsch frei. Er aber begehrte nichts für sich oder seine Erben, sondern erbat für seine Amtsbrüder die Gerechtigkeit, daß nur ihnen allein erlaubt werden möchte, lebendige Fische auf dem Markt feilzuhalten, was er auch bewilligt erhielt. Die Stadt aber hieß seitdem Bubastadt (später Lubastadt, Luba, Lübeck) und nahm zur Erinnerung in ihr großes Siegel einen Kahn mit Fischern auf, in ihr kleines aber ein Fischernetz; auch pflegten die Fischer in ihrer Schenke zu Drakenstein, dem Rathause gegenüber, am Tage der unschuldigen Kindlein, den Gürtel Lubas in einer Schüssel auszustellen und vorzuzeigen. Jene Gerechtigkeit ist aber bis 1680 gewahrt worden, wo denTravemündern erlaubt wurde, lebendige Dorsche in die Stadt zu bringen, weil man Seewasser nicht mehr für frisches Wasser hielt.

Quelle: E. Deecke, Lübische Geschichten und Sagen, Lübeck 5 1911, S. 8 ff., Nr. 4

General wallenstein
28.01.04, 19:07
KARLSRUHES URSPRUNG UND NAME

Markgraf Karl Wilhelm wollte sein Schloß und dessen Garten in Durlach vergrößern, die Stadt gegen Görtzingen erweitern und sie durch gerade Straßen verschönern; allein die Durlacher verweigerten sowohl die Abtretung der erforderlichen Grundstücke als auch die Umänderung ihrer krummen Gassen. Da selbst seine Drohung, wegzuziehen, sie nicht umstimmte, wurde er sehr ungehalten, und in dieser Stimmung ging er nachmittags in den Hartwald auf die Jagd. Beim Verfolgen des Wildes kam er von seinen Leuten ab und setzte sich zuletzt ermüdet auf den Stumpf einer Eiche. An die Verlegung seines Wohnsitzes denkend, fiel er in Schlaf, woraus er erst nach mehreren Stunden erwachte. Sein Gefolge, das ihn nach langem Suchen gefunden hatte, stand um ihn und wurde von ihm mit folgenden Worten angeredet: «So gut wie jetzt habe ich in meinem Leben nicht geschlafen! Zum Andenken will ich hier meinen Wohnsitz bauen, welcher Karlsruhe heißen soll, und über dem Stumpfe die Kirche errichten und einst darin begraben werden.» Sogleich mußten die Jäger, durch Bezeichnung mehrerer Bäume, den Platz kenntlich machen, und bald wurde daselbst die Stadt Karlsruhe mit geraden Straßen erbaut und ihr Schloß vom Markgrafen bezogen. Auf die Stelle des Eichstümmels kam der Altar der Kirche und darunter eine kleine Gruft, worin Karl Wilhelm seit seinem Tode beigesetzt ist. Über ihr steht jetzt, wo die Kirche abgerissen und deren Platz dem Markte beigeschlagen ist, eine steinerne Pyramide mit folgender Inschrift:

«Hier, wo Markgraf Karl einst im Schatten des Hartwaldes Ruhe suchte und die Stadt sich erbaute, die seinen Namen bewahrt; auf der Stätte, wo er die letzte Ruhe fand: weiht ihm dies Denkmal, das seine Asche verschließt, in dankbarer Erinnerung Ludwig Wilhelm August, Großherzog, 1823.» (Baden)

Quelle: Bernhard Baader, Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gebieten

General wallenstein
28.01.04, 19:08
DER URSPRUNG DES GOLDENEN DOMTURMS ZU HILDESHEIM

Herzog Magnus von Braunschweig fiel im Jahre 1367 mit einem großen Heere und mächtigen Bundesgenossen in das Stift Hildesheim und verheerte das ganze Land aufs furchtbarste. Da sammelte der Bischof Gerhard seine streitbaren Männer um sich und zog, auf sein Recht und die Heilige Jungfrau vertrauend, mutig dem bei weitem überlegenen feindlichen Heere entgegen. «O Heilige Jungfrau», rief der Bischof, als er an der Spitze seiner Mannen einherzog, «heute kommt es auf dich an, ob du unter einem Strohdache oder unter einem goldenen Dache wohnen willst; siegen die Feinde, so werden sie den Wohlstand der Stadt und der Kirche vernichten und wir werden nicht mehr die Mittel haben, deinen Tempel würdig zu schmücken, gibst du uns aber den Sieg, so fällt großes Gut in unsere Hände, und dann sollst du unter einem goldenen Dache wohnen!»

Als nun die Truppen des Bischofs in der Gegend von Dinklar den übermächtigen Feind in seiner Siegesgewißheit jubelnd heranrücken sahen, da wurden viele verzagt, aber Gerhard richtete ihren Mut wieder auf und rief, indem er seinen linken Ärmel schüttelte: «Lieben Leute, trauert nicht, hier habe ich noch tausend Mann in meinem Ärmel!» Der Bischof hatte nämlich das größte Heiligtum der Stadt, das von Ludwig dem Dome vermachte Reliquiengefäß, in seinem Ärmel. Nach diesen Worten ihres Führers waren die Krieger gewiß, daß die Hilfe der Heiligen Jungfrau mit ihnen war, gewaltig andrängend setzte das kleine Häuflein in den mächtigen Feind, und nach kurzem Kampfe bedeckten 1500 Feinde, unter ihnen viele Ritter und Edle, die Wahlstatt. Was von den Feinden noch auf den Beinen war, suchte sein Heil in der Flucht, und das ganze Lager fiel mit seinen Schätzen in die Hände der Hildesheimer. Von diesem Gute nun ließ der Bischof, seinem Gelübde getreu, das goldene Dach machen, welches noch heute den östlichen Domturm schmückt.

Quelle: J. G. Th. Grässe, Sagenbuch des Preußischen Staats, Bd. II, Glogau 1871

General wallenstein
28.01.04, 19:10
DER ULMER SPATZ

Es ist schon lange her, da hatten die Ulmer einmal einen sehr großen Balken in die Stadt zu bringen. Da sie den Balken aber der Breite nach trugen, so konnten sie mit demselben nicht durch das Tor kommen und beratschlagten nun, wie diese Schwierigkeit zu beseitigen sei. Nach vielen vergeblichen Vorschlägen stritt man zuletzt nur noch darüber, was vorzuziehen sei: entweder den Balken schmäler oder aber das Tor breiter zu machen.

Da kam endlich durch das Tor ein Spatz geflogen, der trug einen langen Strohhalm zu seinem Neste. Selbiger Spatz nun trug aber den Strohhalm der Länge und nicht der Breite nach. «Halt!» rief da ein aufmerksamer Ulmer, «mir geht ein Licht auf!» Und sofort machte er den Vorschlag, dem Beispiele des Spatzen zu folgen, was denn auch allgemeinen Anklang bei den anwesenden Bürgern gefunden haben soll, so daß sie den Balken auf gute Weise in die Stadt brachten. Seitdem müssen sich die Ulmer den Namen der [Spatz] gefallen lassen bis auf den heutigen Tag. (Schwaben)

Quelle: Ernst Meier, Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, Bd. I und II, Stuttgart 1852

Peter der Große
29.01.04, 23:46
Ich habe zwar gerade keine Sage bei der Hand, kann aber dies empfehlen:

Uther, Hans-Jörg: Sagenschatz, München 2002 (ISBN:3-426-66464-x)

Es enthält deutsche Volkssagen vom Mittelalter bis heute. Für den geneigten Leser wird es sicherlich sehr interessant sein!