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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Die Daker



Robert Guisgard
04.10.06, 19:36
Muß ich ein Vorwort schreiben?
Ich hab jedenfalls auch mal Lust, bunte Bildchen ins Forum zu klatschen und ein bißchen Text dazu. Oder anders rum. Viel Text und weniger Bild liegt mir wohl eher im Blut. Mal sehen. Hab zwar schon mehr als genug Screens gemacht, aber weil ich die Partie so spannend und dramatisch finde, bietet sie sich geradezu an, sie in eine richtige Geschichte umzuwandeln. Künstlerische Freiheiten inklusive (, aber in Maßen). Wir werden sehen, wie die Sache beim Publikum ankommt.
Auf jeden Fall hab ich mir schon mal vorgenommen, den AAR zu Ende zu bringen, bin im Moment auch sehr optimistisch, dies zu schaffen. (Auf die kurze und prägnante Art wäre es schon fast erledigt.) Allerdings behalte ich mir das Recht vor, nicht schneller und häufiger zu posten als andere Herren, deren Namen nicht genannt werden möchten. ;)
Fangen wir also mit dem üblichen an. Gespielt wird:

BareBones 7.1 (die Mod)
BareBones_UnifiedRome (die Provinzkampagne)
schwer/schwer
-Stadtausbau nur mit Gouverneuren
-nur Feldherren dürfen offensiv tätig werden; Hauptmänner beschränken sich auf Stadtverteidigung (wenn es denn sein muß)

http://img439.imageshack.us/img439/3817/dakeraar1jv7.jpg (http://imageshack.us)

Vezina I. - König der Daker


"Haaaalt!"
Der linke der drei Reiter hebt den Arm, um seine langgedehnte Aufforderung zu unterstreichen. Dann stemmt er sich mit beiden Händen am Sattelknauf in die Höhe und hält angestrengt Ausschau. Ob er durch die fünfzehn Zentimeter Höhenunterschied wirklich weiter sehen kann, ist zumindest fraglich.
Sie haben gerade eine leichte Anhöhe erklommen, um sich von hier einen besseren Überblick zu verschaffen. In den Niederungen ist der frühmorgendliche Herbstnebel so dicht, daß man kaum fünfzig Schritte weit sieht. Und da sie sich weitab jeder Straße bewegen, fällt ihnen die Orientierung nicht leichter.
"Wie weit noch?" will der mittlere der Männer wissen, nachdem es eine Minute still geblieben ist. Unruhig rutscht er auf dem Sattel hin und her. Er fühlt sich sichtlich unbehaglich. Kein Wunder... ist er doch als einziger nahezu unbewaffnet! Ein lächerliches Kurzschwert ist links am Sattel festgemacht. Unter seinem Mantel aus Schafsfell trägt er keine Rüstung. Seine Begleiter hingegen sind klar als Soldaten zu erkennen: mit Nieten verstärkte Lederpanzer, Helm, Schwert, Schild und Lanze. Leichte dakische Reiter. Es würde ihnen bestimmt keine Mühe bereiten, ihn zu überwältigen. Und niemand würde es bemerken. Bis man ihn fand, hier draußen in der Wildnis, wäre er vielleicht schon skellettiert.
"Kann nicht mehr weit sein."
Eine Antwort, die soviel bedeutet wie: keine Ahnung.
"Sind wir überhaupt noch auf eigenem Gebiet?"
"Ja."
Der dritte Mann, der sich nun zu Wort meldet, sagt es mit Bestimmtheit. "Dort drüben, wo der Nebel am dichtesten ist," die Lanzenspitze zieht eine kaum erkennbare Linie in der weißen Suppe nach, "dort ist der Fluß. Ein gutes Stück voraus. Vier Stunden, mindestens." Die Spitze schwenkt weiter nach rechts. "Von dort hinten sind wir gekommen."
Da ist nichts zu sehen. Himmel und Erde sind eins. Ein paar großflächige graue Schatten, zum Horizont hin immer schwächer werdend, deuten dichte Wälder an. Wenn sich der Nebel lichten würde, könnten sie vielleicht noch Campus Lazyges erkennen. Die Stadt, aus der sie aufgebrochen sind. Fast eine Woche ist das schon her.
Auch zu Füßen des Hügels, auf dem sie nun stehen und Ausschau halten, breitet sich dichter Wald aus. Die vorderen Bäume wirken wie eine schwarze, gezackte Mauer.
"Gefällt mir nicht..." gibt der Unbewaffnete zu und zieht den Mantel fester um die Schultern.
"Was?"
"Zu gefährlich so weit draußen! Überall könnten sich Feinde verstecken. Rebellen. Räuberbanden. Germanen."
"Gefährlich ist es überall. Meinem zweitältesten Onkel ist ein Ziegel auf den Kopf gefallen, als er vor seinem Haus auf einer Bank saß und Bogensehnen drehte. Er war sofort tot."
Zwei skeptische Blicke wandern umher, dann fährt der mittlere Mann mit seinen Bedenken fort. "Es heißt, die Germanen seien gar keine Menschen, sondern wilde Dämonen. Sie tragen die Seelen der Bäume in sich. Deshalb kann man sie im Wald nicht sehen. Sie können im Erdboden versinken und mit den Baumstämmen verschmelzen. Manche sollen sich sogar in Tiere verwandeln können. Jedes Reh, jedes Eichhörnchen sieht mit den Augen des Feindes."
"Ammenmärchen." tut der linke Mann die Bemerkung ab, "So etwas hat man früher- zugegeben: noch zu meiner Zeit- den Kindern erzählt. Aber die Zeiten ändern sich. Heute kenne ich ganz andere Geschichten über Germanen. Bei den Göttern, ganz andere!" Er fängt an zu lachen, als ihn irgendeine Erinnerung heimsucht. Und er tut es lauter als nötig gewesen wäre, denkt der Unbewaffnete. Er brummt mißmutig, nicht nur, weil er sich persönlich beleidigt fühlt- er nimmt seine Geschichte tatsächlich recht ernst-, sondern auch, weil man das Lachen so weit hören kann. Es hallt als schwaches Echo von den Bäumen zurück. Ein paar Vögel steigen zeternd auf.
"Still!" herrscht nun auch der dritte seinen Kameraden an.
Das Lachen endet abrupt.
"Hört ihr?"
Hören? Was?
Mit erhobenem Zeigefinger und leicht geneigtem Kopf fordert der dritte Mann Aufmerksamkeit von seinen Begleitern. Da sie ihn nur fragend anschauen, schließt er selbst die Augen. Nach einem Moment tut es ihm der Unbewaffnete gleich, senkt den Kopf und lauscht, während der dritte, der eben noch gelacht hat, sich zum zweiten Mal im Sattel hochstemmt und zum Wald hinabstiert, als hätte er die Gabe, Geräusche mit den Sehorganen zu empfangen.
Der Vogelschwarm hat sich irgendwo niedergelassen und dabei einen Eichelhäher aufgescheucht, der den Krawall auch ganz allein fortzusetzen vermag. Irgendwo knackt leise ein Ast. Und dann noch einer. Ein dumpfes, kaum zu vernehmendes Trampeln.
Dem Mann im Schafsfell fährt der Schrecken buchstäblich durch alle Glieder. Sein Schenkeldruck verstärkt sich so sehr, daß sich sein Pferd aufgefordert sieht, einen Satz nach vorne zu machen. Geistesgegenwärtig reißt er es am Zügel zurück. Das Pferd schüttelt widerwillig den Kopf und schnaubt verärgert, bevor es rückwärts gehend seine alte Position wieder einnimmt.
"Nur flüchtendes Wild." beruhigt der andere Lauscher, ohne aufzusehen. "Das meinte ich nicht. Weiter hinten, ganz leise. Tief aus dem Wald." Er flüstert die Worte nur, als habe er die Befürchtung, die eigene Ortung zu verlieren, wenn er zu laut spricht.
Es dauert noch eine Weile, bis auch die beiden anderen das Geräusch ausmachen können. Dem Krieger fällt es leicher, ihm eine Bedeutung zuzuordnen. Dem Schreckhaften klopft das eigene Herz viel zu laut. Er muß sich zur Ruhe zwingen und sogar den Atem anhalten, damit es das andere Pochen nicht übertönt. Das Pochen aus dem Wald. Ganz leise. Immer wiederkehrend. Auch wie ein Herzschlag, aber in einem anderen Rhythmus.
"Ein Holzfäller." meint der Krieger, der sich im Sattel aufgerichtet hat und sich nun zurücksinken läßt.
"Ja," bestätigt der andere nickend, "unser Ziel. Also weiter."

http://img127.imageshack.us/img127/5586/dakeraarwaldgr3.jpg (http://imageshack.us)

Der Holzfäller arbeitet allein auf einer kleinen Lichtung und ist doch nicht allein. Er wird beobachtet. Mindestens ein Dutzend Augenpaare ist auf ihn gerichtet. Die dazugehörigen Männer halten sich in den Schatten zwischen den Bäumen verborgen. Sie geben sich Mühe, sich nicht zu verraten, doch er weiß, daß sie da sind. Er kann die Blicke spüren. Aber er fürchtet sich nicht.
Er ist ein ungewöhnlich großer Mann; gute sechs Fuß mißt er von den Sohlen bis zum Scheitel. Seine langen, rotbraunen Haare fallen ihm offen über den nackten Rücken. Das Spiel seiner Muskeln setzt Sturzbäche von Schweiß in Bewegung. Jedes Mal beginnen sie als kleine Tröpfchen, die sich aus den nassen Haaren lösen, beim Auftreffen auf die Haut weiteren Schweiß heranziehen und schließlich groß und schwer geworden bis zum Hosenbund hinunterrinnen. Diese Hose und die knöchelhohen Schuhe, beides aus gegerbtem Leder gefertigt, sind alles, was er an Kleidung trägt.
Einige Schritte abseits hängt ein grobes Leinenhemd an einem Ast. Auf dem grasbedeckten Boden ist sein Fellumhang als Sitzgelegenheit ausgebreitet. Ein Wasserschlauch und eine Provianttasche liegen darauf. Gleich daneben ist ein großer Stapel nachbehauener Stämme aufgeschichtet, die vollbrachte Arbeit der letzten Tage. Abgeschlagene Äste und Zweige bilden einen zweiten Haufen. An diesem bedient er sich, wenn er an seinem Rastplatz ein kleines Feuer machen will. Nichts deutet darauf hin, daß sich der Holzfäller auf dieser Lichtung häuslich niedergelassen hätte, aber ebenso wenig läßt sich erkennen, daß er besondere Vorsicht walten ließe.
Dumpf hallen seine Schläge durch den Wald.
Im Vergleich zu den fertigen Stämmen, die kaum mehr als einen Fuß dick sind, hat er sich diesmal einen besonders großen Baum ausgesucht. Er schätzt ihn auf mindestens drei Armspannen im Umfang. Die Höhe läßt sich nur erahnen, denn die Baumkrone ist überhaupt nicht zu sehen. Auch ohne den morgendlichen Dunst würde sie von den umstehenden Bäumen verdeckt. Am Tag zuvor hat er noch nicht gewußt, daß er heute diesen Baum fällen würde, denn ursprünglich hat er keine Verwendung für ihn gehabt. Nichtsdestotrotz läßt sich im nachhinein schon eine finden. Man könnte zum Beispiel Boote daraus machen. Der Fluß ist nicht weit entfernt. Sehr stabile Boote, aus einem Stück- Einbäume. Man müßte später nur wegschlagen, was nicht zu einem Boot gehört. So wie es die Kunstschnitzer und Bildhauer auch tun. Er traut sich sogar zu, diese Arbeit selbst zu bewältigen, obwohl er es nicht wirklich gelernt hat.
Wieder und wieder hebt er die große Axt über die rechte Schulter und treibt sie in weitem Bogen in den Stamm hinein. Manchmal bleibt sie so fest stecken, daß mehrmaliger Krafteinsatz am Hebel vonnöten ist, um sie frei zu bekommen. Auf dem Boden liegen meterweit süß duftende Holzspäne verstreut. Aus der Wunde des Baumes fließt träge klebriges Harz. Sie wird allmählich größer als beabsichtigt, weil er sich kaum eine Pause gönnt und des öfteren eine andere als die anvisierte Stelle trifft.
Nach fünfzig weiteren Schlägen gräbt sich die Klinge genau in die Mitte der klaffenden Wunde, dorthin, wo sie am tiefsten ist. Augenblicklich schießt eine dunkle Fontäne aus dem Stamm, besudelt Hände, Werkzeug und Hose des Holzfällers, fällt dann in sich zusammen, tropft noch ein wenig nach und vermischt sich schließlich mit dem austretenden Lebenssaft des Baumes. Was bisher bernsteinfarben wirkte, sieht nun aus wie geronnenes Blut.
Der Holzfäller steht wie erstarrt und versucht zu begreifen, was geschehen ist. Verdattert dreht er die beschmutzten Hände dicht vor den Augen, riecht an ihnen, schaut an sich herab, zur Axt hinüber und zu den Baumwipfeln hinauf. Er braucht nicht lange, um sich wieder zu sammeln. Vielleicht wäre er weggelaufen, wenn er noch jung und einfältig wäre. Tatsächlich befindet er sich jedoch schon im fortgeschrittenen Alter und hat genug Weisheit gesammelt, um zu verstehen, daß es hier nichts zu verstehen gibt. Manche Dinge passieren einfach. Und wenn man sie nicht erklären kann, dann sind sie ein Zeichen der Götter und es bleibt nur, sie zu deuten.
Ein Omen also.
Ja.
Doch kann es ein gutes Omen sein, wenn er von oben bis unten blutbesudelt dasteht und aussieht wie ein Stück geschlachtetes Vieh?
"Ich stehe, also bin ich!" murmelt er vor sich hin. Ein ausgesprochener Gedanke, der beinahe trotzig klingt. Und wütend. Denn tief in seinem Inneren ist plötzlich alles in Aufruhr; der Teil von ihm, den nur selten jemand zu Gesicht bekommt, ist der Überzeugung, daß die Götter genau das Gegenteil gemeint haben. Eine schon lange gehegte Vorahnung fühlt sich durch das Geschehene bestärkt, will ihn zu Fall bringen, will, daß er die Nerven verliert.
Der Holzfäller beißt die Zähne zusammen, stemmt einen Fuß gegen den Baumstamm, packt die Axt mit beiden Händen und zieht sie mit einem einzigen, heftigen Ruck heraus. Daß er es diesmal ohne langwieriges Herumhebeln geschafft hat, beruhigt ihn ein wenig. Für ihn ist es der Beweis, daß seine Deutung mehr Gewicht hat als die seines Unterbewußtseins.
"Es ist das Blut der Besiegten, das an mir klebt."
Ja, das ist es, pflichtet die innere Stimme bei. Um im Anschluß ein vor langem gehörtes und wieder vergessenes Zitat zutage zu fördern:
Der Besiegte weint, der Sieger geht zugrunde.

Als die drei Reiter die Lichtung erreichen, hat sich der Holzfäller sein Hemd übergezogen, Hände und Axt an feuchten Blättern gesäubert und sich im Schneidersitz auf seinem Umhang niedergelassen. Es ist ihm lieber, wenn niemand unnötige Fragen zu seinem Aussehen oder Wohlbefinden stellt. Die Hose weist zwar noch dunkle Flecken auf, doch hat sie das Leder so stark aufgesogen, daß keine Farbe erkennbar ist und sie als normal verschmutzte Arbeitskleidung durchgehen kann.
Es kommt nicht oft vor, daß sich jemand in diesen Wald verirrt. Die nächste Siedlung ist einen guten Tagesmarsch entfernt. Deren Einwohner dürften kaum einen Grund haben, hierher zu kommen. Er hat gesehen, daß sie hauptsächlich Viehzüchter sind und ein paar Äcker bewirtschaften. Sie haben alles, was sie brauchen, und falls sie doch einmal ein paar Waldfrüchte auf ihrem Speiseplan haben wollen, werden sie eher in der entgegengesetzten Richtung suchen. Ein großer Streifen Land beiderseits des Flusses ist unbewohnt. Niemand lebt freiwillig direkt im Grenzgebiet. Man kann sich dort seiner Habe und seines Lebens nicht sicher sein.
Daß sich jemand nähert, ist schon früh zu vermuten und einige Zeit darauf zu hören. Sind zunächst nur Tiere aufgescheucht worden, kommen später auch gut zu vernehmende Stimmen hinzu, wenn auch ihr Wortlaut unverständlich bleibt. Es gibt gar keinen Zweifel, daß jemand zielstrebig auf die Lichtung zuhält, und da sie sich nicht die Mühe des Anschleichens machen, können ihre Absichten nur friedliche sein. Und selbst wenn dem nicht so wäre, würde er sich vor einer handvoll Leute nicht fürchten. Der Holzfäller hat schon mehr Menschen erschlagen als Bäume gefällt. Auch die anderen Männer, welche die Lichtung umstellt haben und es vorziehen, unsichtbar zu bleiben, wissen das.
Beim Eintreffen der Reiter funkelt die Sonne durch das Blätterdach und der Nebel beginnt sich langsam zu lichten. Ein paar Motten flattern schwerfällig durch die tanzenden Lichtstrahlen. Keine Bienen. Keine Schmetterlinge. Nicht mal ein Käfer ist zu sehen. Die Natur bereitet sich auf den Winter vor.
Die Reiter haben ihn sofort erspäht und halten langsam auf ihn zu. Zwei Bewaffnete flankieren einen Mann, der kaum gerüstet, dafür aber auffallend dick vermummt scheint. Es ist recht frisch, das muß auch der Holzfäller zugeben. Nach dem Einstellen der Arbeit hat auch ihm der abkühlende Schweiß eine Gänsehaut beschert. Doch nach dem Trocknen der Körperflüssigkeit ist auch die Haut wieder die alte. Das Hemd reicht ihm zum Warmhalten; der Reiter hingegen hält sogar seinen Schafsmantel mit einer Hand zusammengeklammert. Ganz offensichtlich ein Fremder, der aus wärmeren Gefilden stammt.
Einige Pferdelängen entfernt halten die drei an, und der Fremde redet kurz auf seine Begleiter ein. Danach steigt er ab und kommt die restlichen Schritte allein auf ihn zu. Die Wachen bleiben schulterzuckend zurück.
"Wir kommen in Frieden." erklärt er schon in einigem Abstand sein Verhalten. Sein Dakisch ist nahezu perfekt, aber Gesicht und Körperbau sind eindeutig die eines Fremdländers. Er wirkt etwas schmächtig. Wenn er durch Arbeit überleben müßte, würde er eher Reusen in ein Gewässer stellen als Bären zu jagen oder Felder umzupflügen. Kriegshandwerk ist ihm ebenso fremd. Er trägt keine Waffe. Sein Kurzschwert hat er am Pferdesattel zurückgelassen. Nur aus Höflichkeit? Oder aus dem Unvermögen es zu führen, wenn es darauf ankommt? Nicht der Hauch eines Bartes ziert sein Gesicht. Glatt wie ein Babypopo. Ein Mann aus dem Süden, darauf würde der Holzfäller eine Wette abschließen. Schade, daß er dafür niemanden zur Seite hat.
Als der Fremde vor ihm steht, verneigt er sich leicht und sagt: "Die Götter mit dir, Mann des Waldes."
Der Holzfäller wandelt das vergnügte Schmunzeln, welches sich auf sein Gesicht stehlen will, in ein freundliches Lächeln um und erhebt sich. "Friede auch auf Deinen Wegen, Fremder. Was führt dich hierher?"
"Wir folgten dem Klang Deiner Axt in der Hoffnung, auf ein befestigtes Lager zu treffen." Er macht eine Pause und bedenkt die ganze Lichtung mit einem demonstrativ langsamen Blick. Der Holzfäller amüsiert sich innerlich über die blumige Ausdrucksweise. "Wir sind wohl noch immer nicht am Ziel. Vielleicht kannst Du uns die Richtung weisen?"
"Ein befestigtes Lager, hier im Wald? Davon müßte ich wohl wissen, wenn es das gäbe."
"Soll das heißen...?" fängt der Fremde an, bricht jedoch gleich wieder ab und wirft dieses Mal seinen Begleitern einen prüfenden Blick zu. Danach schüttelt er kaum merklich den Kopf und beginnt von neuem: "Du kannst uns also nicht helfen? Nun, das ist schade, aber nicht zu ändern. Man hat mir gesagt, daß nur wenige davon wissen. Es muß jedoch wirklich gut versteckt sein, wenn selbst Du es nicht kennst. Wir werden es schon finden. Hab Dank für Deine Zeit, wenn wir sie auch nicht so lange in Anspruch genommen haben wie erhofft."
Damit verbeugt er sich wieder kurz, wendet sich um und geht zu den Pferden zurück.
Der Holzfäller runzelt verwirrt die Stirn. Langsam streicht er sich mit der rechten über den buschigen Oberlippenbart, dessen Enden fast bis zum Kinn hinabreichen, wartet, bis der Fremde neben seinem Pferd steht und nach dem Sattel greift und meint dann: "Ich habe nicht gesagt, daß ich es nicht kenne."
Diesmal ist es am anderen, Verwirrung zu zeigen. Er scheint kurz zu überlegen und kommt dann noch einmal zurück. Der Holzfäller versucht, eine Spur von Verärgerung auf seinem Gesicht zu erkennen, jedoch ohne Erfolg. Zumindest darin ist der Fremde geübt. Vielleicht sieht er sogar ein, daß er selbst voreilige Schlüsse gezogen hat. Ohne etwas zu sagen, stellt er sich noch einmal vor ihn hin und lauert freundlich lächelnd auf die Mitteilung eventuell doch vorhandenen Wissens. Ist es ein aufgesetztes Lächeln oder ein echtes? Der Holzfäller hat große Freude daran, seine Mitmenschen genau zu studieren. Eine Weile, die gerade lang genug wäre, um aufgesetzte Freundlichkeit erkalten zu lassen, läßt er den Fremden noch zappeln. Dann beantwortet er die alte Frage etwas weiter ausholend noch einmal.
"Verzeih' mir, Fremder. Es war nicht meine Absicht, dich zum Narren zu halten. Doch versetzt Du mich in Erstaunen. Ich weiß nicht, was ich von dir halten soll. Man sieht dir an, daß Du nicht hierher gehörst. Dennoch kommst Du zu mir, um gut gehütetetes Wissen in Erfahrung zu bringen. Deine Begleiter sind von meinem Volk, und Du sprichst meine Sprache tadellos, doch das allein macht dich selbst noch lange nicht vertrauenswürdig. Entschuldige, wenn ich zu ehrlich bin, aber..." Er hebt entwaffnend beide Hände und neigt dabei leicht den Kopf, was geradezu schalkhaft aussieht. "... aber ich habe den Eindruck, Du kannst Ehrlichkeit vertragen." Abschließend zwinkert er seinem Gegenüber sogar zu.
Dem Fremden treibt es die Röte ins Gesicht. Es ist schwer zu erkennen, weil er gleichmäßig gebräunt ist, doch seine Ohren werden eine sichtbare Nuance dunkler. Er ärgert sich aber immer noch nicht, er zeigt damit- und mit seinem breiten Grinsen- seinen Sinn für Humor. "Du beschämst mich, Mann des Waldes. Weil Du recht hast. Wir sollten uns näher bekannt machen. Ich bin Themastokles aus Alexandria..."
Der Holzfäller legt urplötzlich einen Finger vor seine Lippen, was die begonnene Rede abrupt beendet. "Laß mich dir sagen, was ich schon von dir weiß."
Er formuliert es als Frage, woraufhin der Fremde in stummer Erwartung die Brauen hebt.
"Deine Herkunft ist südländisch, was Du bestätigt hast. Einen weiten Weg hast Du hinter dir. Du hast ihn überstanden, obwohl Du kein Krieger bist. Du bist weder Fischer, Bauer noch Handwerker. Du bist gebildet, aber auch kein Priester. Würdest Du Deine Götter vertreten, müßte ich Zeichen ihrer Würde an dir sehen. Bist Du ein Händler, so frage ich mich, wo Deine Karawane geblieben ist. Viel bleibt nicht mehr übrig. Ich würde sagen, Du bist ein Repräsentant irdischer Herrscher. Ist das richtig?"
Der Fremde ist sichtlich beeindruckt. Von einem Holzfäller hat er so etwas nicht erwartet. "Du erstaunst mich," gesteht er ein, "Was Du gesagt hast, hat Hand und Fuß. Es ist wohl so richtig wie es nur sein kann, wenn sich zwei Fremde zum ersten Mal gegenüber stehen. Genaueres könnte nur ein Orakel zum besten geben- oder ein guter Spion. Es stimmt, daß ich einmal als Unterhändler tätig war. Doch mein Schicksal hat mich auf wirre Wege geführt, und es würde nun zu weit führen, dir alles bis ins Detail zu berichten. Ein andermal vielleicht. Gerade jetzt bin ich als Bote unterwegs und muß eine dringende Nachricht überbringen. Es fehlt die Zeit für eine längere Unterhaltung. Du verstehst?"
"Natürlich." Der Holzfäller nickt verständnisvoll. "An wen ist Deine Botschaft gerichtet?"
"An den König Deines Volkes höchstselbst."
"Und Du glaubst, ihn hier im Wald anzutreffen?"
"Das hat man mir versichert."
"Hm hm. Wer hätte gedacht, daß er hier jagen geht? So weit entfernt von der Sicherheit seines Palastes. Und das in diesen unruhigen Zeiten...."
"Was er hier tut, weiß ich nicht und ist für mich auch nicht von Belang. Ich muß ihn nur finden, so schnell es geht. Kannst Du mir dabei helfen?"
"Bist Du unserem König je begegnet, Themastokles?"
"Nein."
"Wie ist sein Name?"
"Eine törichte Frage."
"Beantworte sie mir." fordert der Holzfäller, dem die langsam aber stetig wachsende Ungeduld des Gegenübers nicht verborgen bleibt.
"Sein Name ist Vezina, Sohn des Zyraxes und der Serapia."
"Woran erkennst Du ihn, wenn Du ihn siehst?"
"Ich vermag ihn nicht wirklich zu erkennen. Ich verlasse mich mehr darauf, daß man mich zu ihm führt... als auf die Beschreibung der Person, die man mir gab."
Eine Pause entsteht.
Der Holzfäller taxiert den Boten mit zusammengekniffenen Augen. Dem wird fast unbehaglich dabei, denn die bisherige Freundlichkeit ist aus dem Antlitz des Gegenübers gewichen. Sie hat etwas anderem Platz gemacht, einer schwer zu bestimmenden Ernsthaftigkeit, die neutrales Interesse vorgibt, doch zugleich fordernd und drängend ist. Am liebsten würde er kehrtmachen und den seltsamen Kauz einfach stehen lassen. Er hat genug von diesem Frage-und-Antwort-Spiel. Sie würden das Lager schon finden, früher oder später.
"Wenn ich dich auffordern würde, diese Haltung zu begründen, dann könntest Du es nicht, nicht wahr?"
Der Holzfäller wartet gar keine Antwort ab, und Themastokles hätte auch gar keine geben können. Ihm wird schmerzlich bewußt, daß er zum zweiten Mal getäuscht wurde. Innerlich ringt er um Fassung, nicht wissend, ob er wütend oder beschämt sein soll. Eigentlich müßte er ersteres sein, denn letzteres hat er doch schon hinter sich.
"Du müßtest 'nein' sagen. 'Ich kann es nicht begründen.' Oder dir eingestehen, daß Du dich lieber auf andere als auf dich selbst verläßt. Denn das ist der Kern Deiner Aussage. Kein Mann würde sich dessen rühmen."
Der Bote bringt noch immer kein Wort heraus. In ihm dämmert eine neue Erkenntnis. Eine, die ihm sagt, daß Wut über diese Zurechtweisung seine Lage nur verschlechtern würde. Aus einem Traum aufwachen, sich einfach in Luft auflösen oder im Erdboden zu versinken wie ein Germane, das wäre jetzt am besten. Da er dies nicht kann, muß er sich einsichtig und demütig zeigen. Doch das kostet Überwindung. Trotz allem braucht er noch eine Sicherheit, eine letzte Bestätigung. Ein kurzer Blick über die Schulter reicht ihm dafür. Ob seine Begleiter alles gehört haben? Es scheint jedenfalls so, denn anders läßt sich ihr schadenfrohes Grinsen wohl kaum erklären.
Er senkt den Kopf und fällt vor dem Holzfäller auf die Knie. "Vergib mir, großer König." murmelt er.
Vezina nickt bedächtig.
"Steh auf, Themastokles aus Alexandria. Und sag mir, ob Du etwas aus unserer Unterhaltung gelernt hast, dann sei dir vergeben."
Der Bote erhebt sich langsam und steht noch eine Weile mit gesenktem Kopf da. Den König anzuschauen, wagt er erst, nachdem er eine Antwort gefunden hat.
"Ich habe gelernt, daß selbst das Unwahrscheinlichste wirklich sein kann. Und daß der Verstand leichter zu täuschen ist als die Sinne."
"Vor allem im Krieg kann dieses Wissen von Bedeutung sein." ergänzt Vezina.
Wiederum schweigen sie einen Moment, um der Wichtigkeit dieser Worte gerecht zu werden. Dann packt Vezina den Boten kameradschaftlich an der Schulter und sagt: "Nun komm! Wir reiten gemeinsam ins Lager. Dort kann ich dich besser bewirten. Wenn Deine Botschaft solange warten kann, gut. Wenn nicht, berichte mir unterwegs. Ich bin gespannt, wofür Du die weite Reise auf dich genommen hast."
Damit setzt sich der König auch schon in Bewegung. Themastokles folgt ihm. Die zwei Reiter schließen sich in gebührendem Abstand an, das dritte Pferd am Zügel mit sich führend.
"Nun," setzt Themastokles nach wenigen Schritten an, "... die Botschaft bringe ich dir als Daker. Dein Sohn ist es, der mich zu dir schickt."
Vezina bleibt wie vom Donner gerührt stehen. Sein Magen krampft sich unangenehm zusammen. Ist es ein Zufall, daß er gerade jetzt inmitten der Späne verharrt, die seine Axt geschlagen hat? Daß ihm ihr süßer Geruch gerade jetzt in die Nase steigt? Statt Harz riecht er Verwesung. Nein, das kann kein Zufall sein! Es ist eine Fügung. Er will plötzlich nichts mehr hören und doch muß er alles wissen.
"Welcher Sohn?" fragt er tonlos, doch er weiß die Antwort schon.
"Cotiso."
Nun kann Vezina nicht mehr an sich halten. Nackte Angst erfaßt ihn, er läßt jede Maske fallen. Er wirbelt herum, packt den Boten mit beiden Händen bei den Schultern und schüttelt ihn wie wild, während er unbeherrscht losbrüllt. "COTISO SCHICKT DICH!? COTISO!? WO IST ER!? WARUM HABEN WIR SO LANGE NICHTS VON IHM GEHÖRT!? SPRICH SCHON, SPRICH!"
Themastokles ist zunächst erschrocken, faßt sich aber schnell wieder. Auf eine gewisse Art entspannt er sich sogar. Er macht nicht einmal den Versuch, sich aus der Umklammerung zu befreien. Mit einer heftigen Reaktion wie dieser hat er gerechnet, wenn auch erst nach dem Überbringen der Botschaft. Nun kann er sicher sein, daß sie die richtigen Ohren erreicht. Sollte er daran immer noch Zweifel gehabt haben, so sind sie nun beseitigt. Nach der Demütigung der letzten halben Stunde empfindet er fast so etwas wie Befriedigung.
"Sprich!" wiederholt der König...
... und Themastokles berichtet.


---

Die Nachricht an sich ist kurz. Doch sie trifft den König an einem wunden Punkt. Das spürt Themastokles, so sehr sich sein Zuhörer auch bemüht, sich nichts davon anmerken zu lassen. Der Gefühlsausbruch von eben ist wie weggewischt, aber unter der Oberfläche brodelt es weiter. Nachdem er geendet hat, wird Themastokles erneut kritisch betrachtet. Von Kopf bis Fuß wandert des Königs Blick. Und wieder zurück. Zum Schluß bohrt er sich direkt in den seinen. Wird er nun einen Beweis für die Richtigkeit der übermittelten Worte verlangen?
Diese Augen... es sind dieselben wie die des Sohnes, denkt Themastokles zusammenhanglos, warum habe ich das nicht gleich bemerkt? Viel mehr denkt er nicht. Dafür ist er zu aufgeregt. Ganz warm wird ihm plötzlich. Schweiß läuft ihm den Rücken hinunter. Es fühlt sich so an, als würde sich auf der Stirn auch schon welcher bilden. Aus irgendeinem Grund wagt er jedoch nicht, sich zu rühren. Bis sich der König abwendet, scheint eine Ewigkeit zu vergehen. Tatsächlich war es nur eine halbe Minute.
Er verlangt keinen Beweis.
"Wir brechen auf!" ruft der König in den Wald hinein. "Bringt mir mein Pferd!"
Plötzlich bricht auf der kleinen Lichtung hektisches Treiben aus. Bewaffnete Männer treten zwischen den Bäumen hervor, die Themastokles zuvor gar nicht bemerkt hat. Zehn, zwölf, nein, fünfzehn zählt er. Das muß Vezinas Leibgarde sein. Kurz darauf erscheinen noch einmal fünf, die die entsprechende Menge an Pferden hinter sich herführen. Selbst von den Tieren hat sich die ganze Zeit keines bemerkbar gemacht, obwohl sie doch ganz in der Nähe gestanden haben müssen. Unglaublich! Nun spüren sie die allgemeine Aufregung und lassen sich davon anstecken. Vielleicht wiehern sie vor Freude darüber, daß sie sich endlich wieder bewegen dürfen?
"Du kommst mit!"
Keine Bitte, ein Befehl.
Themastokles muß schlucken, auch wenn er nichts anderes erwartet hat. Damit es niemand bemerkt, verneigt er sich leicht dabei. Danach steigt er wie alle anderen auf sein Pferd. Und schon geht es los.
In einer langen Reihe, mit dem König an der Spitze, preschen sie in einem Tempo zwischen den dichten Bäumen hindurch, bei dem ihm Angst und Bange wird. Er selbst ist automatisch in die Mitte der Reihe geraten. Tief nach vorne gebeugt, starrt er mit zusammengekniffenen Augen auf den Rücken des Vordermanns. Zur Seite schaut er kaum; er will die Äste sehen, bevor sie ihm ins Gesicht schlagen. Es gäbe ohnehin nicht viel zu entdecken. Nur Büsche und Bäume, die alle gleich aussehen. Für einen Mann aus Alexandria ist der Pfad, dem sie offensichtlich folgen, nicht vom Rest des Waldes zu unterscheiden. Zum Glück braucht er sein Pferd nicht dirigieren. Es folgt einfach den vorauseilenden, als wäre es das nicht anders gewohnt.
Wie lange reiten sie? Zehn Minuten? Fünfzehn? Er hat keine Ahnung. Auf jeden Fall taucht das Lager sehr unvermittelt vor ihnen auf. Im Prinzip noch nicht einmal das. Sie sind schon durch das Tor, bevor er überhaupt registriert hat, daß da eines ist.
"Dekala!" hallt des Königs Ruf über den zentralen Platz, auf dem sie zum Stehen kommen. Themastokles ist so perplex, daß er zunächst glaubt, eine neue Vokabel gehört zu haben. Dann wird ihm klar, daß es ein Name gewesen ist. Mit der Vorahnung, daß es keine lange Verschnaufpause geben wird, schaut er sich flüchtig um.
Das Lager ist winzig. Eigentlich kann von einem zentralen Platz keine Rede sein. Es gibt nur den einen. Ringsherum stehen Zelte aus Stoffbahnen und zeltartige Hütten aus Holz und Blattwerk. Hinter ihnen eine mannshohe Palisade, die von außerhalb des Lagers nicht zu erkennen ist. Zumindest hat er selbst nur Sträucher gesehen. Nur ein Tor, bzw. eine Öffnung im Zaun. Torflügel gibt es nicht. Innen liegen zu beiden Seiten große Haufen grüner Zweige. Damit wird das Rund wohl dicht gemacht, damit abends nicht zufällig ungebetene Gäste hereinstolpern.
Obschon der König nur den einen Namen gerufen hat, fühlt sich jeder angesprochen. Fast unmittelbar nach der Ankunft drängt sich die ganze Mannschaft des Lagers um die Reiterschar. Der Gerufene muß sich erst einen Weg bahnen. Es ist ein Jüngling, nein, eher noch ein Knabe von höchstens zehn Jahren, der sich durch die dichtstehenden Männer zwängt und dabei heftige Knuffe und Schläge austeilt. Ein Sohn, von dem er noch nichts gehört hat? Oder ein Enkel?
Themastokles macht schon den Mund auf, um einen der Nebenstehenden danach zu befragen, da erledigt sich das Vorhaben von selbst.
"Oheim?"
Der Junge ist neben dem Pferd des Königs stehengeblieben, hat mit beiden Händen dessen rechte Pranke ergriffen, einen flüchtigen Kuss darauf gehaucht und schaut nun so fragend wie ergeben zu ihm auf.
Vezina beugt sich etwas herab und fährt ihm so kräftig durch die Haare, daß ein flüchtiges, schmerzhaftes Zucken über das Gesicht des Neffen huscht.
"Dekala, wie lange braucht ein Habicht, um von hier zu unserer Hauptstadt zu gelangen?"
"Weniger als einen Tag, Onkel."
"Ich will, daß Du schneller dort bist."
"Verzeih' Onkel, aber Du müßtest mich in einen Sperber verwandeln, damit ich das schaffe."
Einstimmiges Lachen aller Männer ist die Folge. Selbst Themastokles kann nicht anders. Auf den Mund gefallen, ist der Junge nicht, denkt er.
"Wie schnell bist Du?"
"Schneller als ein Fuchs. Schneller als ein Bär. Und wenn ich auf Demeter reiten darf, holt mich so schnell nichts ein, was sich auf Beinen fortbewegt."
Noch lauteres Lachen.
"Gut," lacht auch der König, "sehr gut. Das soll uns genügen. Reite auf Demeter nach Zarmizegetusa! Der Kriegsrat soll in Campus Lazyga zusammenkommen. Es eilt. Hast Du verstanden? Es eilt!"
"Ja, Onkel. Ich habe verstanden."
"Hier," Vezina zieht einen Ring vom Finger und reicht ihn dem Knaben, "wenn Demeter schlapp macht, besorge dir ein neues Tier. Zeige einfach diesen Ring und jeder wird dir weiterhelfen."
"Demeter wird nicht schlappmachen! Aber ich weiß, was Du meinst, Onkel. Er könnte sich einen Fuß verstauchen, und das wäre schlecht. Weil es eilt."
"So ist es. Also los!"
Dekala wendet sich um und rennt ein paar Schritte. Dann schaut er noch einmal zurück und ruft: "Danke, Onkel.", bevor er zwischen den Männern verschwindet. Das Strahlen auf seinem Gesicht kündet davon, daß er zum ersten Mal eine wahrhaft wichtige Aufgabe bekommen hat. Themastokles fragt sich nur, ob der König nicht die Risiken bedenkt, denen der Junge auf seinem Botengang unweigerlich ausgesetzt ist. Aber was ist das für ein Gedanke? Will er die Entscheidung eines Königs in Frage stellen? Und was geht ihn das überhaupt an?
Nichts geht dich das an, also mach den Mund zu, bevor Fliegen reinkommen!
"Macht euch marschbereit! Wir brechen auf! Niemand bleibt zurück!"
Die Männer zerstreuen sich, verschwinden in den Behausungen. Es klirrt und scheppert leise, während sie ihre Ausrüstung zusammensuchen. Von den Reitern steigt niemand ab. Sie warten geduldig.
Themastokles' Blick wandert ziellos umher und kehrt doch immer wieder zum König zurück. Der tut so, als hätte er ihn völlig vergessen. Oder hat er das wirklich? Allzu unwahrscheinlich ist das auch wieder nicht. Dafür begegnet er umso öfter den verstohlenen Blicken anderer Männer. Sie mustern ihn neugierig, teilweise mit unverhohlenem Mißtrauen. Ob sie wohl auf einen Fluchtversuch warten? Nun, da wird er sie enttäuschen. Warum sollte er auch fliehen? Er hat ein reines Gewissen, ist sogar stolz darauf, seinen Auftrag erfolgreich ausgeführt zu haben. Wenn auch das Angestarrtwerden nicht zu seinem Wohlbefinden beiträgt, so fühlt er sich doch wenigstens sicherer als in den vergangenen Wochen. Die Garde des Königs- und somit auch seine- ist auf schätzungsweise hundert Mann angewachsen.
Dekala prescht auf seinem großen Schecken zum Tor hinaus. Der König schaut ihm wohlwollend nach. Als er sich umwenden will, streift sein Blick Themastokles. Und es ist wirklich so, als würde er sich erst jetzt erinnern, daß da noch jemand war. Er lächelt und sagt: "Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich nehme an, in Campus Lazyges wirst Du dich wohler fühlen als hier. Du sollst uns nicht verlassen, ohne später von dakischer Gastfreundschaft berichten zu können."
Der Angesprochene nickt dankbar zurück. Gleichzeitig setzt er sich aufrechter in seinen Sattel. Nun dürfte auch dem letzten klar sein, daß er kein Gefangener, sondern eben ein Gast ist. Viele haben wohl nur auf diese offizielle Verlautbarung gewartet und kommen nun heran, um nach seinem Namen, seiner Herkunft und dem Grund seiner Anwesenheit zu fragen. Themastokles gibt bereitwillig Auskunft, soweit er eben kann.

Eine halbe Stunde später ist der ganze Trupp unterwegs. Das Tempo ist diesmal fast gemächlich zu nennen. Die Männer aus dem Lager haben keine Reittiere und müssen auch ihre persönlichen Sachen selber tragen. Eine handvoll Lasttiere schleppen die sperrigsten und schwersten Dinge. Das Lager an sich ist stehengeblieben. Nur der Eingang wurde mit Gestrüpp versehen. Man muß schon genau hinschauen, um zu erkennen, daß ein kleiner Teil der großen Hecke keine Wurzeln hat.
Es würde auch keinen Sinn machen, überdurchschnittlich schnell zu marschieren. Zarmizegetusa ist viel weiter entfernt als Campus Lazyges, sicher doppelt so weit. Dekala wird seine Zeit brauchen, um dorthin zu gelangen. Und vielleicht befinden sich die Mitglieder des Rates nicht alle in der Stadt, und es müssen noch einmal Boten in andere Gegenden aufbrechen. Wie lange wird es dauern, bis die Versammlung stattfinden kann? Zwei Wochen? Eine durchaus realistische Zeit. Vielleicht sogar noch zu optimistisch. Und wie lange dauert es, bis Cotiso vom Beschluß des Rates profitieren kann? Monate? Ganz davon ausgehend, daß überhaupt ein Ergebnis zustande kommt, ahnt selbst Themastokles, daß man diese Zeit nicht hat. Er weiß es sogar am besten. Und auf dem Marsch, der letztlich zehn Tage dauern wird, sieht er immer wieder, daß Vezina sich mit ähnlichen Gedanken befaßt. Er ist meist abwesend, spricht mit kaum jemandem, reitet oft allein im abseits und schaut zu den Wolken hinauf, als könne er an ihnen etwas ablesen.
Ein Vater, der Angst um den Sohn hat, denkt Themastokles. Nur zu verständlich.
Er hütet sich, ihn bei seinen Grübeleien zu stören, geschweige denn, Trost spenden zu wollen. Wie sollte er auch? Er ist kein Vater. Er könnte höchstens zu vermitteln versuchen, wie wichtig ihm selbst Cotisos Schicksal ist. Er hat ihm viel zu verdanken. Doch wer weiß...; damit erzählt er Vezina sicherlich nichts neues. Der König hat doch längst unter Beweis gestellt, wie leicht er ihn durchschauen kann. Er hebt sich seine Geschichte vielleicht bewußt für später auf, damit er sie nicht zweimal hören muß.
Wie sich wenig später zeigen wird, liegt Themastokles mit dieser Vermutung goldrichtig.

IhP
04.10.06, 20:53
Normalerweise lese ich ungern viel Text am PC, allerdings wurde ich nicht enttäuscht, hier mal eine Ausnahme zu machen. :)

Schöner Einstieg. Werde diesen AAR gespannt weiter verfolgen. Auf das euch die Lust am Schreiben nicht doch frühzeitig vergeht. ;)

TMl
05.10.06, 10:15
Also echt he, Ihr solltet wirklich mal ein Buch schreiben, wenn ihr es nicht schon getan habt, denn auch wenn ihr es geschafft habt, bei all der länge dieses Textes, nicht eine einzige Aussage zu treffen, die mit RTW etwas zu tun hat - außer die Mod und Dakier -, so ist es doch sehr sehr gut geschrieben und ich muß neidvoll zugeben, daß Ihr das sehr viel besser beherrscht, als ich es in meinem Leben je beherrschen werde :) ...

*Was für ein langer verschachtelter Satz* :D ...

Schade das ihr nicht mit dem gestern erschienenden 8.0 angefangen habt :rolleyes:


Aber etwas gutes hat es dann schon, ich habe endlich einen triftigen Grund, meinen AAR auszusetzen, da es wohl kaum noch interessant sein würde, sobald eurer erst einmal in Bewegung geraten sei :smoke:


TMl der alles gelesen hat und eine Fortsetzung erwartet :cool:

TheArchduke
05.10.06, 12:10
Wollte nur sagen, dass ich auch mitlese. Weiter so!:)

thrawn
05.10.06, 12:38
Also echt he, Ihr solltet wirklich mal ein Buch schreiben, wenn ihr es nicht schon getan habt, denn auch wenn ihr es geschafft habt, bei all der länge dieses Textes, nicht eine einzige Aussage zu treffen, die mit RTW etwas zu tun hat - außer die Mod und Dakier -, so ist es doch sehr sehr gut geschrieben

Da hat der werte TMl recht, sehr, sehr gut geschrieben. :top:


Aber etwas gutes hat es dann schon, ich habe endlich einen triftigen Grund, meinen AAR auszusetzen, da es wohl kaum noch interessant sein würde, sobald eurer erst einmal in Bewegung geraten sei :smoke:


Ihr vergesst wohl eure Fans die auf eine fortsetzung hoffen



TMl der alles gelesen hat und eine Fortsetzung erwartet :cool:

thrawn der ebenfalls alles gelesen hat und gleichfalls eine Fortsetzng erwartet. :ja:

auch von TMl :D

Robert Guisgard
05.10.06, 20:08
..., denn auch wenn ihr es geschafft habt, bei all der länge dieses Textes, nicht eine einzige Aussage zu treffen, die mit RTW etwas zu tun hat - außer die Mod und Dakier -, so ist es doch sehr sehr gut geschrieben... und ich muß neidvoll zugeben, daß Ihr das sehr viel besser beherrscht, als ich es in meinem Leben je beherrschen werde :) ...

Na sowas.... Da entschließt man sich, selbst mal etwas zum Story-Forum beizutragen statt immer nur darin zu lesen, und dann wird einem unterstellt, es ginge völlig am Thema vorbei. :D Aber irgendwie ist da wohl was dran. Ich könnte mich noch stundenlang über Eure Aussage amüsieren.


Aber etwas gutes hat es dann schon, ich habe endlich einen triftigen Grund, meinen AAR auszusetzen....

Das war zu erwarten, aber Ihr wurdet ja schon zu recht ausgebuht. :nono:


Was eine Fortsetzung angeht, so hat die Erfahrung als AAR-Leser gezeigt, daß die meisten Veröffentlichungstermine nicht eingehalten wurden. Es gab schon zu viele Stromausfälle, Urlaubsreisen ohne Wiederkehr und Festplattencrashs- meine Festplatten scheinen richtiggehende Markenware zu sein-, also werde ich keinen Termin ansetzen. Wochentags braucht jedoch niemand warten. Der Startschuß fiel nur wegen des Feiertags an einem Mittwoch. ;)
Man freut sich jedoch über die postive Resonanz und ist bestrebt, die nahende Freizeitphase sinnvoll zu nutzen. :engel:

repman
06.10.06, 09:46
@robert
du kannst ja immer noch 8.0 über dein 7.1 drüberbügeln
am besten wäre aber neustart
irgendetwas stimmt hier nicht, warum sehe ich nicht meinen hintergrund im kampagnenbild sondern den klassisch roten ??
Lese den langen text heute abend :)

repman

Robert Guisgard
06.10.06, 20:20
@repman:
Neustart kommt natürlich gar nicht in Frage! :eek:
Außerdem sind die Unterschiede doch nicht so gravierend, oder? Laut readme ist die Schlachtfeld-KI noch einen Tick mieser drauf, im Sinne von: ich würde noch mehr auf die Fresse kriegen als ohnehin schon. Und sonst? Zusätzlichen Unterhalt zahle ich ja schon. Wie der Himmel aussieht, ist nicht so wichtig. Und ein "Anti-Vernichtungs-Skript"... naja...; man könnte meinen, daß es das auch bei 7.1 schon gibt. ;)

@Rest

Habe nochmal den ersten Teil ergänzt. Sozusagen ein Gratis-Addon, das noch nicht als offizielle Fortsetzung gewertet werden muß. Inhaltlich wird ja auch kaum was fortgesetzt, ich gebe es lieber gleich zu, hihi. :tongue:

*nochmal edit am Sonntag Abend*

Muß mich mal selbst zitieren. ;)

Man freut sich jedoch über die postive Resonanz und ist bestrebt, die nahende Freizeitphase sinnvoll zu nutzen.

Damit das nicht ganz so dahergesagt erscheint, poste ich mal eine weitere unbefriedigende Fortsetzung. Ist eher unwahrscheinlich, daß der Rest des Kapitels im Laufe der nächsten Stündchen noch fertig wird. Wer also auf Themastokles Botschaft hofft und eine weitere Verzögerung nicht durchzustehen glaubt, möge mit Lesen bis zur endgültigen Fertigstellung dieses Teils warten. :ditsch:

Robert Guisgard
08.10.06, 20:35
Themastokles vor der Ratsversammlung

Zehn Tage brauchen sie bis in die Stadt. Weitere fünf vergehen ereignislos.
Themastokles wohnt während dieser Zeit im Statthalterpalast. Er bekommt zwei Sklaven zur Seite gestellt, die dafür zu sorgen haben, daß es ihm an nichts mangelt. Anscheinend sind die beiden Bruder und Schwester. Sie sehen sich auf jeden Fall sehr ähnlich. Vielleicht liegt das auch nur daran, daß er Menschen wie sie noch nie zuvor gesehen hat. Sie sind einen ganzen Kopf kleiner als er, tragen recht kurzes Haar, und über ihrer auffälligen Stupsnase stehen zwei Augen, die kaum mehr als schmale Schlitze sind. Verständigen kann er sich nur schwer mit ihnen, was ihrer Dienstbeflissenheit keinen Abbruch tut. Sie scheinen seine Gedanken lesen zu können, was sie- zusätzlich zum seltsamen Erscheinungsbild- fast ein bißchen unheimlich macht.
Tagsüber erkundet Themastokles die Stadt. Auch dabei weichen ihm die zwei nicht von der Seite. Wie treue Hunde folgen sie ihm überall hin. Er kann sich gut vorstellen, daß ihre Anwesenheit auch zu seiner Sicherheit beiträgt. Vezina selbst hat ihm gleich nach der Ankunft eine schwere Silberkette überreicht, die er in der Öffentlichkeit tragen soll. Ein faustgroßes Medaillon baumelt an ihr, auf dem neben kunstvoll gravierten Tiergestalten unbekannte Symbole zu sehen sind. Ein Schmuckstück, daß einem König würdig ist und von jedem Bewohner der Stadt auch als solches erkannt wird.
Campus Lazyges ist größer, als er erwartet hat. Mit Sicherheit leben hier mehr als fünftausend Menschen. Die Häuser bestehen fast ausnahmslos aus Holz, auch die Schindeln auf den spitz zulaufenden Dächern. Nur der Statthalterpalast kann ein Fundament aus Stein vorweisen. Darauf liegen waagerecht wuchtige Baumstämme übereinander. An den Ecken des riesigen Gebäudes überschneiden sie sich. Dort sind die Stämme jeweils gegensätzlich ausgespart, so daß sie ineinandergreifen können und sich so auf einfache Weise Halt geben. Die vorspringenden Enden hat man teilweise als bunt bemalte Scheiben belassen, an denen man die Jahresringe zählen könnte, aus anderen sind eindrucksvolle Fabelwesen geschnitzt worden. Die offenen Fenster sind rechteckig und werden zum Dach hin immer kleiner. Sie haben jedoch alle ihre Einfassung in kunstvoll verschnörkelte Rahmen gemein. Senkrechte Holzsäulen lockern in regelmäßigen Abständen die gewaltige Fassade auf. Sie sind mit Ornamenten, Schriftzeichen und Reliefsszenen verziert und wecken deutliche Erinnerungen an altägyptische Stelen.
Der Prunk im Inneren des Palastes steht dem anderer Herrscherhäuser in nichts nach. Es ist jedoch eine völlig andere Zurschaustellung von Reichtum als sie Themastokles bisher kannte. Ganz offensichtlich protzen die Daker lieber durch ihre Handwerkskunst als durch Gold und andere glänzende Metalle. Holzschnitzereien, wohin man sieht. Kein Möbelstück gleicht dem anderen. Selbst die Fratzen an den Stuhlbeinen sind immer andere.
Vezina hat mit seiner letzten Äußerung recht behalten. Obschon die Umgebung genauso ungewohnt ist wie die der vergangenen Tage, so fühlt sich Themastokles doch sehr wohl. Bis jetzt kannte er nur nackten Stein und kalten Marmor, aber er ist schon auf dem besten Weg, sich ganz an Holz zu gewöhnen. Sogar der Geruch in einem solchen Gebäude verstärkt all seine positiven Eindrücke noch. Er umnebelt seine Sinne regelrecht. Jede Holzsorte riecht anders, und zusammen ergeben sie einen unglaublichen Duft... wie ein Parfum. Wonach riecht Stein? Nach gar nichts. Es ist, als würde er das heute zum ersten Mal begreifen.

http://img525.imageshack.us/img525/5840/dakeraarcampuszeichnungsn0.jpg (http://imageshack.us)


Campus Lazyges in späterer Zeit (eine kolorierte Skizze aus Themastokles' Aufzeichnungen)

Am Abend des fünften Tages klopft es an der Zimmertür.
Themastokles sitzt gerade an einem Tisch in seinem Gästegemach, vor sich ein Fenster, durch das frische Nachtluft strömt. Es bringt die Kerzen zum Flackern, in deren Licht er gerade arbeitet. Er ist damit beschäftigt, seine Eindrücke von der Stadt und ihren Bewohnern auf hauchdünnem Leder festzuhalten.
Nun schaut er auf und über die Schulter zur Tür. Die Sklaven, die hinter einem gewebten Vorhang ihre eigene Rückzugsmöglichkeit haben, sind schon hervorgeeilt, kaum daß das unerwartete Geräusch verhallt ist. Die Frau steht neben seinem Tisch, der Mann hat sich zur Tür begeben. Er wartet auf den entscheidenden Wink, der ihm sagt, daß er öffnen soll.
Themastokles nickt ihm zu.
Im Raum ist es dunkler als auf dem Gang draußen. Gegen den Widerschein unzähliger Fackeln hebt sich der Besucher als schwarzer Scherenschnitt ab. Das läßt ihn größer erscheinen als er ist. Sein zuckender Schatten reicht fast bis zu Themastokles Füßen. Eine bedrohliche, geradezu theatralische Szenerie! Die Worte, die der Besucher spricht, tun ihr übriges: "Es ist soweit."
Es ist also soweit. Soso. Jetzt werde ich zu meiner Hinrichtung geführt.
"Gut." antwortet er, nachdem er sich selbst einen Narren gescholten hat. Wieso ist er schon wieder so nervös?
Wieso? Weil nun die berühmte Stunde der Wahrheit naht, deshalb! Weil nun seiner Mission der endgültige Erfolg oder Mißerfolg beschieden wird!
"Ich komme."
Er rafft seine Dokumente zusammen und reicht sie der Sklavin, die sie wie einen kostbaren Schatz behutsam beiseite schafft. Er hört, wie sie im Halbdunkel den Deckel einer schweren Truhe schließt und erhebt sich dann von seinem Stuhl. Beinahe schwerfällig.
"Zieh' etwas über! Wir müssen ein Stück gehen."
Themastokles ist überrascht. "Die Versammlung findet nicht im Palast statt?"
"Nein."
Er wartet insgeheim auf mehr Informationen, aber mehr kommt nicht. Wenn er genauer darüber nachdenkt, so fällt ihm auch auf, daß er in der Stadt kaum ein längeres Gespräch geführt hat. Als hätten des Königs Untertanen Anweisung bekommen, ihre eigene Neugierde im Zaum zu halten und ihm aus dem Weg zu gehen, wann immer er durch die Straßen schlendert. Nur Lächeln und Zunicken war erlaubt. Das wurde ihm vorher nicht bewußt, weil ihm die Zurückhaltung ganz gelegen kam. So konnte er besser seinen Gedanken nachhängen und überlegen, was er am Abend wie aufschreibt.
Ohne, daß er etwas sagen muß, bringt der Sklave einen knielangen schweren Mantel aus Bärenfell und hilft Themastokles dabei, hineinzuschlüpfen. Während er ihn vorne zusammenrafft, bindet ihm die Sklavin noch einen breiten Gürtel um die Hüften. Anschließend läßt er die Schultern kreisen, damit alles etwas lockerer sitzt, und begibt sich dann zur Tür. Der Krieger tritt beiseite, läßt ihn passieren und zieht sie hinter ihm zu. Die Sklaven legen von innen den Riegel vor. Sie bleiben also zur Abwechslung mal hier. Auch gut.
Vor dem Palast schließt sich ein Fackelträger an. Zu dritt marschieren sie durch die leeren Straßen. Keiner spricht ein Wort.
Themastokles schaut ab und zu über die Schulter zurück und mustert aufmerksam die umgebenden Häuser. Er versucht sich zu erinnern, ob er schon einmal durch diese Gassen gegangen ist. Dann kann er vielleicht auch erraten, wohin sie ihr Weg führen wird. Er hat nicht viel Erfolg damit.
Wenigstens nimmt die bedrückende Stille bald ein Ende. Wie ein murmelnder Bach, der allmählich zum Fluß anschwillt, dringen unzählige Stimmen durch die Dunkelheit. Als sie um eine letzte Ecke biegen, sieht er ihren Ursprungsort vor sich. Ein langgestrecktes, relativ niedriges Gebäude. Die Fenster sind mit Fellen verhangen, doch durch kleine Ritzen scheint Licht nach draußen. Wie groß ist bloß dieser Rat? Er hat mit einem Dutzend Männern gerechnet, aber dem unverständlichen Geplapper zufolge müssen sich hunderte Leute in dem Gebäude aufhalten!
Nachdem einer seiner Begleiter den großen Türflügel aufgezogen hat, bricht das Stimmengewirr wie eine Sturmflut über ihn herein. Und genauso schnell wie eine Sturmflut verebbt es auch wieder. Nur eine große Welle und dann nichts mehr. Gut, hier und da ein wenig Geplätscher, aber im großen und ganzen Grabesstille.
Ein Kopf nach dem anderen hat sich zu den Neuankömmlingen hingedreht.
Themastokles wird fast schwindlig, von so viel Aufmerksamkeit.
Die Versammlungshalle ist gute dreißig Meter lang und wenigstens fünfzehn breit. Trotzdem wirkt alles sehr beengt. Wie in einem Amphittheater fällt der Boden zur Mitte hin stufenförmig ab. Auf jeder Terrasse stehen u-förmig angeordnete Bänke. Freilich mehr zu erahnen, als zu erkennen, so dicht drängen sich die Männer! Die offene Seite des Us zeigt zum Eingang. Es gibt drei dieser Terrassen. Der eigentliche Boden der Halle liegt zwei Meter tiefer als Erdbodenniveau. Ein paar Stufen führen dort hinunter. An diesem kleinsten Ring von Sitzbänken hocken die Ranghöchsten. Der König an der Stirnseite hebt sich durch seinen Thron hervor. Vor diesen Privilegierten ist noch Platz für eine Festtafel, ebenso u-förmig wie der Rest. Silberne Humpen und Karaffen sind gleichmäßig darauf verteilt sowie einige Platten mit Gebratenem. Der verbliebene Rest des Fußbodens- kaum mehr als drei mal eineinhalb Meter- läßt erkennen, wie zweckmäßig die ganze Halle gehalten ist. Er sieht von weitem zwar aus wie Stein, besteht aber nur aus im Laufe der Zeit festgestampfter Erde. Wieviele Füße waren nötig, um so eine glatte Fläche zu schaffen? Von den sonst üblichen Verzierungen ist in der Halle nichts zu sehen. Eine Fackel, ein Fenster und wieder eine Fackel. Die Balken unmittelbar um die Lichtquellen herum sind ganz schwarz. An den hervortretenden Stützpfeilern zwischen den Fenstern hängen wenig dekorative Schilde. Sie sehen eher wie zerschundene Relikte aus vergangenen Schlachten aus. Und was ist das da oben im Halbdunkel des Dachstuhls? Es wirkt fast wie ein Sternenmeer aus unzähligen fluroszierenden Punkten. Das merkwürdige ist, daß sie immer paarweise beisammen stehen. Es dauert einen Moment, bis sich auch die schemenhaften Konturen von Tieren hervortun. Viele Vögel. Marder. Füchse. Sogar Köpfe von Hirschen mit eindrucksvollen Geweihen sind dabei. Sie scheinen da oben zu schweben.
"Mich friert schon durch den starken Sog dieser Blicke. Spürt ihr ihn auch? Seht nur, wie sogar die Fackeln zum Eingang hin zucken!"
Der König hat den Bann des Schweigens gebrochen. Ein verhaltenes Lachen geht von einem zum anderen, und anschließend setzt das Gemurmel des Baches wieder ein. Die Versammelten tauschen sich durch gegenseitiges Zuraunen über den Neuankömmling aus.
Themastokles' Betrachtungen sind damit natürlich auch beendet. Die Tür schließt sich hinter ihm. Sofort beruhigen sich die Flammen und züngeln wieder nach oben. Seine Begleiter finden noch einen Platz in den hintersten Reihen. Er selbst wartet auf den Wink des Königs, um weiter vorzutreten. Er muß nicht lange warten.
"Komm näher, damit dich auch der letzte gut sehen kann!"
Ist da ein Anflug von Spott in Vezinas Stimme?
Themastokles bemüht sich um eine würdevolle Haltung und setzt sich in Bewegung. Gerade schnell genug, um nicht zögernd oder gar ängstlich zu wirken, steigt er die Stufen hinab. Der Rest des Weges ist lang genug, um den Kopf einmal nach links und einmal nach rechts zu drehen. Ganz langsam, ohne Hast. Wie das schauspielerische Gehabe hier ankommt, kann er nur schwer beurteilen. Eigentlich kann er es gar nicht. Er weiß nur, daß diese Art des Auftretens in anderen Weltgegenden völlig normal ist. Das hat er oft genug hinter sich. Und da er damit angefangen hat, muß er es auch durchhalten.
Viele Gesichter. Ausschließlich Männer. Alle tragen Bärte. Bärte in den unterschiedlichsten Formen und Variationen: vom sorgfältig beschnittenen Teppichflaum, über dick verfilzt und buschig, bis hin zu dreifach verzwirbelten, spitzen Enden. Ja, er erhascht sogar einen Blick auf einen, der hat seinen Bart irgendwo hinter dem Kopf zusammengeknotet! Themastokles kann sehr froh sein, daß er etwas beherrscht, womit viele der Männer hier Probleme haben. Er kann innerlich Tränen lachen, ohne daß nach außen etwas davon zu sehen ist. Vor allem in den hinteren Reihen schwanken die Gesichter zwischen grenzenlosem Staunen und ebensolcher Heiterkeit. Es zuckt verräterisch um ihre Augenwinkel herum. Muß wohl am Bärenpelz liegen, daß sie sich nicht für eines entscheiden können! Da stolziert einer vor ihnen herum, der offensichtlich fehl am Platze ist und die heimischen Sitten nicht kennt. Aber die Kleidung sagt, daß er doch irgendwie dazugehört. Wie also sollen sie reagieren? Staunen oder Lachen sind die einen, die harmlosesten Möglichkeiten. Finster und mißtrauisch dreinzublicken die anderen, weniger schönen. Oftmals ist das nur die Vorstufe von Mord und Totschlag. Zivilisatorischer Fortschritt mag unter anderem daran zu erkennen sein, daß man sich nicht gleich an die Kehle springt. Demnach muß man den Dakern zugestehen, daß sie doch deutlich weiter sind, als viele ihnen nachsagen.
Themastokles bleibt vier Schritte vor des Königs Tafel stehen.
"Überrascht?" fragt Vezina, mit einer flüchtigen Handbewegung den ganzen Saal umfassend.
"Ja, mein König. In der Tat."
Ein zufriedenes Lächeln huscht über Vezinas Gesicht. Gleichzeitig sieht Themastokles aus den Augenwinkel heraus, wie die Köpfe der am nächsten Sitzenden ruckartige Bewegungen vollführen. Sie werfen sich Blicke zu, um stumme Zwiesprache zu halten. Wieso? Hat er schon mit dem ersten Satz etwas falsches gesagt? Oder überhaupt irgendetwas auffälliges?
"Wir sind eben eine große Familie."
Darauf weiß er nichts zu antworten. Er schürzt nur leicht die Lippen und nickt zustimmend. Scheint fast so, heißt das.
"Zur Sache!" fährt Vezina fort, diesmal mit deutlich erhobener Stimme und einem fordernden Blick in die Runde. Das Gemurmel im Raum endet augenblicklich.
"Themastokles aus Alexandria; vor nunmehr zwei Wochen kamst Du zu mir, um eine Botschaft von Cotiso zu überbringen, meinem zweitältesten Sohn. Ich will, daß Du diese Botschaft jetzt wiederholst, hier, vor dem versammelten Rat der Daker!"
Damit hat Vezina schon alles gesagt, was ihm wichtig ist. Er will, daß eine eigentlich persönliche Nachricht vor allen bekanntgemacht wird. Er will ihnen zeigen, daß ihm ihre Meinung dazu wichtig ist, obwohl er schon alles in die Wege hätte leiten können- sogar hätte leiten müssen, um noch effizient zu handeln! Er stellt das Wohl seines Volkes über das eigene, trotz der Pein, die es ihm in der Seele bereiten muß. Kann es einen größeren Beweis für Verantwortungsbewußtsein geben? Kann da noch jemand glauben- so es überhaupt jemals diese Meinung gegeben hat-, daß sich ein anderer Mann auf dem Thron vielleicht besser eignen würde? Gleichzeitig hat er bereits versucht, Einfluß auf die Entscheidungsfindung des Rates zu nehmen. Er hat ihn mit seinem Namen und der Herkunft vorgestellt, was vor allem für die finster Dreinschauenden von Bedeutung sein dürfte. Themastokles! Alexandria! Ein Grieche kommt, um Dakern Botschaft anderer Daker zu bringen! Vezina erkennt das Grund zum Zweifeln an, doch so wie er gesprochen hat, ist schon allen klar, daß er selbst keine Zweifel hegt. Er ist überzeugt, daß die Botschaft authentisch ist, und er will, daß die Versammelten möglichst schnell zum selben Ergebnis kommen.
All das hat Vezina gesagt und dann die Last von seiner Seele genommen, um sie ihm, Themastokles, auf die Schultern zu legen. Er ist erschüttert über das Gewicht, das eine einzelne Seele zu tragen vermag. Alles hängt nun an ihm. Er ist jetzt das Zentrum des Wirbelsturms, den man Schicksal nennt- fähig, eine Schneise der Verwüstung im Land der Daker zu hinterlassen. Oder einfach vorbeizuziehen.
Themastokles öffnet den Mund, doch es kommt kein Ton heraus. Seine Lippen bewegen sich wie die eines Fisches. Er weiß die Worte, die er sagen muß, doch er kann sie nicht aussprechen, solange ihn Vezina auf die jetzige Weise anschaut. Wenn Du versagst, könnte ich vergessen, daß Du mein Gast bist. Das kann er in den Augen lesen. Gleichzeitig halten ihn diese Augen auf unwiderstehliche Art gefangen. Ein Teufelskreis.
Dem König den Rücken zuzudrehen, bevor man entlassen wurde, ist wohl an Unverfrorenheit kaum zu überbieten. Doch Themastokles tut es. Es ist die einzige Möglichkeit, den Bann zu brechen. Zum wiederholten Male läßt er den Blick über die Versammelten schweifen. Die hohen Herren im Vordergrund, denen er die Verwandtschaft mit dem König teilweise ansieht, lassen keine Regung erkennen. Die finster Blickenden in den anderen Reihen sehen noch grimmiger aus als zuvor. Und jenen, die vorhin noch in Richtung Lachen tendierten, stehen die Münder offen. Viele schwarze Löcher in wilden Bärten.
Es ist so unnatürlich still, daß sein Räuspern wie Donner durch den Saal hallt.
Aber er kann immer noch nicht sprechen. Zum zweiten Mal schließt er den Mund, ohne daß ein Wort herauskam. Lange kann das nicht mehr gutgehen. Gleich werden sie unter ihre Bänke langen- oder wo auch immer sie ihre Äxte versteckt haben- und ihn in Stücke hauen, wo er gerade steht. Aber es ist eben nicht so einfach! Die Aufgaben eines Herakles waren ein Witz im Vergleich zu dem, was man von ihm verlangt! Den Vater zu überzeugen, war eine Sache. Dem genügte die Botschaft an sich. Er konnte an den bloßen Worten oder am Bau der Sätze erkennen, daß sie echt waren. Bei diesen Männern hier wird das nicht reichen. Natürlich kennen auch sie Cotiso, aber bei weitem nicht so gut. Hier muß er weiter ausholen. Wie weit?
Sein Blick verläßt die Gesichter, als sie gerade erste Anzeichen von Ungeduld erkennen lassen. An der Tischplatte zu seiner rechten bleibt er wieder hängen. Die Bratenstücke müssen längst kalt sein! Ob wohl noch Wein in den Karaffen ist? Er spürt die starke Versuchung, einfach nach einem Gefäß zu greifen und sich den Inhalt hinunterzustürzen. Ganz ungeniert. Vielleicht würde das seine Zunge lösen. Und wenn nicht, dann stirbt er wenigstens mit einem wohligen Kribbeln im Bauch.
"Solche Krüge..." sagt Themastokles laut, bevor er überhaupt weiß, daß er das sagen will. Er ist ganz erschrocken vom Klang seiner eigenen Stimme. Jeder hat es gehört. Er wagt nicht, den Kopf zu heben, starrt einfach die Silberkrüge an. Und er hört, wie sich in den hintersten Reihen Männer erheben, um genau dasselbe zu tun. Sie wollen wissen, was an den Krügen so besonderes ist.
Verflucht noch mal! Krüge! Was für ein dämlicher Anfang!
Themastokles' Herz rast. Das Blut rauscht ihm in den Ohren. Er weiß, es gibt nun kein zurück mehr. Alle starren die Krüge auf den Tischen an. Und ihn.
Alle warten.
Sie lauern. Kurz davor, in wütendes Gebrüll auszubrechen.
Doch auch wenn Krüge ein denkbar schlechter Anfang sind, sind sie doch besser als gar keiner! Wenn man mit Worten umgehen kann, läßt sich auch aus so etwas simplem wie einem Trinkgefäß noch etwas machen. Und das hat Themastokles schließlich gelernt: mit Worten umzugehen.

TMl
09.10.06, 12:35
... Und das hat Themastokles schließlich gelernt: mit Worten umzugehen.

Ihr aber auch, oder seit Ihr es gar selbst, der sich da Themastolkes nennt ;)

Ob wir noch erfahren was das denn nun für eine Nachricht ist, die er von Cotiso erbringen soll, wir werden sehen :D ...


TMl sagt einfach nur :top:

thrawn
09.10.06, 23:12
Eine schöne Geschiochte. Ich hebe einen Krug auf sie. Und auf Euch.

Robert Guisgard
15.10.06, 20:37
Kapitel 2 zieht sich wie Kaugummi. :uhoh:
Ist immer noch nicht fertig, aber wenigstens vorangeschritten. Und weil Sonntag ist, wird's eben gepostet. (Bzw. Text 2 wird editiert, in der Hoffnung, daß es kein Zeichenlimit in diesem Forum gibt.)

Ob wir noch erfahren was das denn nun für eine Nachricht ist, die er von Cotiso erbringen soll, wir werden sehen ... :D
Frag ich mich langsam auch. ;)


Eine schöne Geschiochte. Ich hebe einen Krug auf sie. Und auf Euch.
Vielen Dank und wohl bekomm's...

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Übrigens wurde ein gedankliches Zeitsystem festgelegt, auch wenn bis dato noch keine einzige Jahreszahl genannt wurde. Bezugspunkt ist statt Christus- der ja noch lange nicht existiert- der Tod Alexander des Großen. Das Jahr 323 v.Chr. wäre demzufolge das Jahr 0 dieser Geschichte. Zur Not lassen sich die Zahlen ja an Screenies ablesen. Und wichtig sind sie wohl auch nicht. ;)

In Sachen Währung gibt es griechische Drachmen statt römischer Denare, denn Rom wird wohl auch keine Rolle spielen, und wir sind hier im weit entfernten Norden Griechenlands, wenn man so will. (Zumindest doch auf der Halbinsel.)
Aus Stimmungsgründen gilt dieses System: (aus Wikipedia)

1 Talent = 60 Minen = 6000 Drachmen = 3000 Stater = 36.000 Obolen

Ein Sklave kostete ca. 3 Minen, 1.000 Bogenschützen 50 Talente, ihre Ausrüstung 8 Talente. Der Lohn eines Bogenschützen lag bei 2 bis 3 Obolen pro Tag.

Ist gar nicht mal soooo verkehrt in dem Spiel. 1000 Schützen = 5000 Denare/Drachmen, also 100 Schützen 500 Talerchen. Ich zahle, glaube ich, so um die 200. Eine akzeptable Abweichung; außerdem sind die Zeiten unbeständig, nicht wahr? ;)

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*edit*
Und schon haben wir den Salat. 40.000 Zeichen sind erlaubt. Falls es jemand noch nicht wußte. Also geht's doch hier unten weiter.

Robert Guisgard
15.10.06, 20:53
Themastokles vor der Ratsversammlung - Fortsetzung

Solche Krüge fanden sich zuhauf in Campus Getae. Seit Tagen, ja, seit Wochen schon trugen sie Cotisos Männer zusammen. Mitsamt der anderen Beute verschwanden sie in den unterirdischen Geschossen des ehemaligen Regierungssitzes. Eßgeschirr, Kerzenleuchter, Vasen, gerahmte Bilder- wer das Gemalte nicht zu schätzen wußte, schlug es einfach raus-, Schmuck, Münzen, edle Waffen... der Reichtum einer ganzen Stadt sammelte sich auf wenigen Quadratmetern an. Ständig kamen Männer zu Cotiso, die ihm besondere Beutestücke zeigen wollten.
"Sieh nur, dieser Krug!" rief gerade einer, "Ich erkenne ihn wieder! Hier auf dem Boden ist ein Abdruck, der zu einer Silberschmiede in Helis gehört! Ich habe dort schon einmal etwas gekauft. Ist das nicht zum Lachen?"
Cotiso nickte grinsend. Nachdem der Mann verschwunden war, hörte er sofort wieder damit auf. Ihm war nicht nach Grinsen und Freundlichkeit zumute. Überhaupt nicht.
Auf dem großen Versammlungsplatz in der Mitte der Stadt, an den Regierungsgebäude, Tempel und Badehäuser angrenzten, ließ er sein Zelt aufschlagen. Bisher widerstrebte es ihm, in eines der festen Gebäude zu ziehen. Es gehörte nicht zu seinen Plänen, sich lange in der Stadt aufzuhalten. Er wollte weiter, einfach eine handvoll Männer zurücklassen, einen von ihnen vorübergehend zum Statthalter ausrufen und dann weiter nach Süden. Zur nächsten großen Stadt. Doch so wie die Dinge standen, konnte er diese Pläne für unbestimmte Zeit vergessen.
Bei den Gedanken daran krampfte sich seine linke Hand fest um den Griff des Kurzschwertes, das er ständig an der Seite trug. Irgend etwas sagte ihm, daß er es schon bald wieder brauchen würde. Warum also ablegen? Wütend riß er den Eingang des Zeltes auf, brüllte einmal "Grieche!" über den Platz und verschwand im Innern.
Keine Minute später schlug Themastokles bedeutend vorsichtiger die Stoffbahnen zurück und betrat ebenfalls das Zelt. In der rechten Hand hielt er noch eine Schreibfeder- weil er nach dem Ruf nicht wußte, wo er sie so auf die Schnelle verstauen sollte-, in der linken ein Pergament. Er fing sofort an, seine Notizen vorzulesen: "An Gütern aus Gold haben wir etwa 5 Minen, aus Silber 15 und Kupfer 30. Das macht zusammen 50 Minen, also fünf Sechstel eines Talents. Desweiteren 50 Ballen Seide..."
Cotiso winkte unwirsch ab. "Will ich gar nicht wissen! Ich habe eine neue Aufgabe für dich!"
"Eine neue Aufgabe?"
"Finde heraus, wo die Bewohner der Stadt geblieben sind! Du kannst dich hier doch verständigen."
Weil es ein wenig wie eine Frage geklungen hatte, bestätigte Themastokles diese Vermutung. "Ja, ich denke, das kann ich. Wie ich bis jetzt mitbekommen habe, gibt es unter den Thrakern auch einige, die meine Sprache beherrschen. Sie haben vermutlich verwandtschaftliche Beziehungen nach Griechenland. Es wäre jedoch denkbar, daß sie nicht gerade bereitwillig Auskunft geben."
"Und?" höhnte Cotiso. "Selbst ein Hänfling wie Du sollte in der Lage sein, den zahnlosen Alten oder den verhutzelten Weibern ein paar Töne zu entlocken! Wenn Du das nicht schaffst, nimm dir doch einen Knaben oder ein junges Mädchen vor! Kitzle sie doch mit Deiner Schreibfeder, bis sie nicht mehr anders können als reden?!"
Da Cotiso bei seinem Vorschlag nicht eine Miene verzog, mußte er ganz schön geladen sein. Themastokles entfernte sich ohne ein weiteres Wort.
Die Nachforschungen gestalteten sich nicht als so schwierig wie er erwartet hatte. Noch am selben Abend konnte er seinen Bericht abgeben. Demnach war die Stadt schon verlassen, lange bevor die Daker sich auf den Weg hierher gemacht hatten. Tausende Männer waren zum Kriegsdienst gerufen worden und kehrten nie zurück. In der Folge verließen viele Familien die Stadt. Lieber gaben sie ihren Besitz auf als ihre Angehörigen. Von einstmals acht- bis zehntausend Menschen waren bis dato nur noch eintausend übrig geblieben.
"Unvorstellbar!" murmelte Cotiso. "Und ich hoffte, sie hielten sich irgendwo versteckt..."
Danach schwieg er.
Zwischen den beiden prasselte ein Feuer. Sie saßen im Schneidersitz vor dem Zelt, unter sich ein paar Polster aus dem Palast. Themastokles wartete eine geraume Zeit, bevor er vorsichtig nachzufragen wagte, wo das Problem sei.
"Das Problem?!" fuhr Cotiso auf, "Steig' auf das Dach dieses Tempels und schaue nach Norden, dann siehst Du es!" Er deutete auf das Gebäude, aber er erwartete wohl nicht, daß er wirklich hinschaute. In bedeutend ruhigerem Ton fuhr er fort: "Das Problem liegt auf den Feldern vor der Stadt, und die Aasfresser machen sich darüber her. Tagsüber sind es Geier und Raben, nachts streunende Hunde, Wölfe und sonstiges Getier."
"Du fürchtest dich vor ausbrechenden Krankheiten? Das ließe sich doch vermeiden, indem man ein wenig... aufräumt. Die gefallenen Feinde bestattet."
"Unsinn!" Cotiso lachte plötzlich los. "Das meine ich nicht. Aber das kommt auch noch dazu, Du hast recht. Wenn wir noch lange hierbleiben, müssen wir uns darum auch noch kümmern. Deine Vermutung beweist wohl, daß Du nicht wie ein Krieger zu denken vermagst." Er fügte hinzu: "Noch nicht." und grinste ein wenig.
"Nun, ich fürchte, das werde ich auch nie tun..."
"Vielleicht doch. Du hast an einer Schlacht teilgenommen. Du bist also auf dem besten Wege dahin."
"Ich habe keinen einzigen Schwertstreich geführt..."
"Das ist wahr. Doch Du bist einigen erfolgreich ausgewichen. Gut verteidigt, ist schon halb gewonnen."
"Du machst dich über mich lustig!"
"Kaum. Ich beneide dich nur. Du mußt in der Götter Gunst sehr hoch stehen, wenn sie dich so gut beschützen."
Auch dem wollte Themastokles widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. War da vielleicht etwas dran? Er hatte so auffallend viel Glück gehabt! Im dichtesten Schlachtgetümmel war er gewesen, und er hatte nicht einmal einen Kratzer davongetragen.
'Nimm diesen Schild und halte dich immer in der Mitte meiner Männer!' hatte Cotiso zu ihm gesagt, unmittelbar bevor es losging. Es war sein Schild, und er hatte ihn ablehnen wollen, aber Cotiso behauptete, er brauche ihn nicht so dringend. 'Ich kann mich ein Stück weit absetzen, bis alles vorbei ist.' schlug er dann vor. Dafür sei es zu spät. 'Aber ich bin unbewaffnet. Warum sollte...?' Am Sattel hing sein Kurzschwert, das seine unterbrochenen Worte Lügen strafte. 'Erzähl das einem Thraker, wenn er vor dir steht! Ich habe mir sagen lassen, sie hätten auch so eine Art Humor.' Und dann standen die Männer von Cotisos Leibgarde schon um ihn herum, und alles weitere Diskuttieren hatte keinen Sinn mehr. Diese Position behielt er bei, besser: das Pferd, das man ihm gegeben hatte, sorgte fast ohne sein Zutun dafür. Der mittige Platz in der nicht ganz dreißig Mann starken Truppe hatte zur Folge, daß kaum jemals ein Feind an ihn herankam. Ganze sechsmal holten wild brüllende Kerle nach ihm aus, überhaupt keine Relation zur Anzahl der Stunden, die das Schlachten dauerte! Die ersten drei tauchten alle einzeln und wohl mehr zufällig neben ihm auf und hätten sich wohl besser um einen freien Rücken, statt um ein vermeintlich leichtes Opfer kümmern sollen. Ihre Schädel waren schon gespalten, bevor ihre Waffen den geplanten Hieb oder Stich ausführen konnten. Bei den anderen dreien war die Situation schon brenzliger für ihn. Die kamen alle auf einmal.
Noch war der eine Haufen nicht vollständig niedergekämpft, da übertönte Cotisos Ruf den allgemeinen Kampfeslärm: "Mir nach!"
Seine schweren Reiter drängten sich mit ihren Tieren langsam durch die eigenen Reihen, mit den Kurzschwertern noch ein paar letzte Hiebe Richtung Feind austeilend, dann standen sie wieder auf freiem Feld und formierten sich neu. Der Sinn ihrer Angriffe schien nur darin zu bestehen, gefährliche Situationen für die eigene Infanterie zum guten zu wenden. Eine unerwartete Attacke von hinten und schon war das Zahlengleichgewicht wiederhergestellt oder gar zu ihren Gunsten verschoben. Aber wie konnte Cotiso in all dem Durcheinander nur den Überblick bewahren? Woher wußte er, wo er als nächstes gebraucht wurde?
"Dort drüben!" brüllte er und deutete mit der Schwertspitze auf ein Gemenge, weit am rechten Rand der Kampflinie. Themastokles sah nur hin und her wogende Körper, Speerspitzen über den Köpfen und wehende Banner. Ab und zu blitzte eine Klinge in dem Getümmel auf. Er hätte nicht sagen können, wieviele eigene Leute dort gegen den Gegner standen.
Sie holten in einem weiten Bogen aus.
"Linie bilden!" war der nächste Befehl.
Ihr rechteckiger Haufen zog sich auseinander. Statt fünf Reihen hintereinander gab es nur noch zwei. Themastokles befand sich automatisch in der Mitte der hinteren. Niemand deckte mehr seinen Rücken. Cotisos Platz blieb wie immer ganz vorn, auf der linken Seite. Nicht ungefährlich, aber da fühlte er sich anscheinend wohl.
Fanden Richtungs- und Formationswechsel nur im leichten Trab statt, so verschärfte sich jetzt nach und nach das Tempo. Erst zum leichten Gallopp, dann zum gestreckten. Zweimal flogen Pfeilhagel über sie hinweg. Waren das eigene? Er konnte nicht sehen, wo sie niedergingen; er mußte geradeaus schauen. Aber er erinnerte sich an etwas, was Cotiso vor dem eigentlichen Beginn der Schlacht angemerkt hatte, nachdem die Sache mit seinem Platz geklärt war. 'Keine Bogenschützen.' hatte er gesagt- mehr zu sich selbst als zu seinen Gefolgsleuten- und damit das gegnerische Heer gemeint, das sich vor ihnen formierte.
Verrückt! Sie preschten gerade auf den Gegner zu und hatten sozusagen nichts weiter zu tun, da beschäftigte er sich in Gedanken mit dem Beginn der Schlacht! Als gäbe es nichts anderes mehr zu denken! Wenn er doch wenigstens das Ende herbeischwören würde, aber nein...! Er wiederholte Erinnerungsfetzen vom Anfang! Wie konnte Cotiso aus fünf- bis sechshundert Meter Entfernung erkennen, daß sein Gegner keine Bogenschützen zur Verfügung hatte? Das Gelände war doch völlig eben, die flach gestaffelten Reihen des Gegners rein optisch kaum zu unterscheiden?
Noch zweihundert Meter bis zum Aufprall.
'Drei oder vier Plänklerverbände. Leichte und schwere Infanterie, je zur Hälfte. Einige Speerträger sind dabei. Keine Reiterei, mit Außnahme des Feldherren, der den Scheinangriff führt.' Die kurze und präzise Lageeinschätzung eines erfahrenen Anführers! Und eine Aufforderung an seine Adjudanten, die Beobachtung zu bestätigen oder zu korrigieren. Keine Widersprüche. Nur zustimmendes Nicken und Brummen.
Hundertfünfzig Meter.
Ja, einen Scheinangriff hatte es gegeben, wohl um dem Hauptheer den Ausbruch aus der Stadt zu ermöglichen. Cotiso hatte Campus Getae nicht attackieren wollen, um Straßenkämpfe zu vermeiden. Nach seinen Beobachtungen war das stationierte Feindheer ihnen ebenbürtig und ein Sieg durch Sturmangriff zu ungewiß. In den Straßen hätten die Thraker einen Heimvorteil gehabt....
Hundert Meter.
Stattdessen zogen sie einen halbherzigen Belagerungsring um die Stadt. Gut denkbar, daß der Feldherr der Thraker mit einigen seiner Männer herausschlüpfen konnte. Aushungern wäre sowieso nicht möglich gewesen, dafür hätte die Zeit nicht gereicht, bis Entsatztruppen nahen würden. 'Nur ein bißchen mürbe machen.' benannte Cotiso seine Absichten. 'Vielleicht lassen sie sich dann zu unvernünftigen Handlungen hinreißen.'
Fünfzig Meter.
Auf ihn als Laien wirkte alles sehr gut durchdacht. Keine Spur von Unvernunft! Nach der Schlacht würde er Cotiso fragen, wie er das sah. Wenn er bloß überlebte!
'Breite Linienformation! Erste Reihe Kriegsbande! Zweite Reihe Bogenschützen! Auf Distanz bleiben! Dritte Reihe gemischte Infanterie! Söldnerhopliten und Bastarner nach hinten an die linke Flanke! Sie sollen den Scheinangriff abwehren und uns den Rücken freihalten! Die Reiterei bleibt bei mir!' Die Meldereiter sprengten davon...
... und sie sprengten jetzt den Haufen ineinander verbissener Männer. Versuchten jedenfalls, ihn zu sprengen. Daß dabei etwas schief ging, bemerkte Themastokles schnell. Was genau ihr Fehler war, mußte er sich später erklären lassen. 'Da kämpften sechzig gegen zwölf von unseren! Sie waren von zwei Verbänden in die Zange genommen worden. Den einen konnten sie zwar stark dezimieren und in die Flucht schlagen, doch dem anderen noch länger standzuhalten, schafften sie nicht mehr. Sie verloren die Nerven und rannten davon. Wir kamen schon zu spät.'
Deshalb waren die Gegner in der Lage, sofort auf den Kavallerieangriff zu reagieren. Die hinteren Männer wurden von den Pferden überrannt und gerieten entweder unter die Hufe oder sie flogen durch die Wucht des Aufpralls noch tiefer in die Reihen hinein, wo sie weitere Leute zu Boden rissen. Nicht alle von ihnen waren dadurch gleich kampfunfähig, aber sie standen nicht mehr im Weg. Das hatte zur Folge, daß die Reiter tief in die Formation eindringen konnten. Bis irgendwann Schluß war, weil die Thraker immer enger zusammenrückten. Manche stoppten die Pferde, indem sie einfach dicht unter dem Maul nach den Zügeln griffen. Die meisten anderen machten sich diese Mühe jedoch nicht. Sie fingen einfach an, die Tiere abzuschlachten. Hälse wurden aufgerissen, Beine durchgehauen. Wer noch immer am Boden lag, schlitzte von unten die Bäuche auf.
Das viele Blut! Die hervorquellenden Eingeweide! Der Gestank!
Themastokles wurde speiübel. Das qualvolle Wiehern ging ihm durch Mark und Bein, mehr noch als die Schreie der schwer getroffenen Männer.
"Zurück! Zuuuurüüüück!"
Leichter gesagt, als getan. Ein Großteil der Niedergerittenen stand schon wieder auf den Füßen. Sie waren komplett umzingelt. Ein Reiter nach dem anderen ging zu Boden. Manche konnten noch halbwegs elegant aus dem Sattel gleiten und kämpften zu Fuß weiter. Die meisten stürzten jedoch sehr unglücklich, wurden unter ihren Tieren eingeklemmt und vermochten sich nicht einmal mehr zu wehren, bis der finale Hieb erfolgte.
Ein Falchoner, von rechts kommend, ging auf Themastokles los. Er hatte sein Krummschwert über die rechte Schulter erhoben, das Gesicht unter dem maskenartigen Helm war eine wütende Grimasse. Es gab keine Möglichkeit, den waagerechten Hieb abzuwehren. Um das zu erkennen, mußte er nicht einmal ein Krieger sein. Selbst wenn er doch noch zum Kurzschwert griff, könnte er ihn damit nicht erreichen. Das Falchon des Gegners war einen halben Arm länger. Den Schild brauchte er links, denn von dort kam ein zweiter Mann. Ohnehin war das schützende Rund viel zu unhandlich und zu gut am Arm befestigt, um es ständig von einer Seite zur anderen zu wechseln. Einer von beiden würde zum Zuge kommen, wenn er nicht schnell reagierte.
Er riß das Pferd herum, als sich das blitzende Falchon gerade in Bewegung setzte. Der Thraker war darauf nicht vorbereitet. Aber selbst wenn er es gewesen wäre, was hätte er der Masse des Tieres schon entgegenzusetzen gehabt? Durch das Anrempeln geriet er völlig aus dem Tritt, sein Hieb brach mittendrin ab. Er taumelte ein paar Schritte zur Seite, und Themastokles konnte ihm sogar noch einen Tritt mit dem Fuß versetzen. Er traf ihn tatsächlich am Kopf und das sogar heftig genug, um den Gegner seines Helmes zu berauben. Ein Ausdruck wahrer Verblüffung verdrängte die vorherige Fratze, während sich in Themastokles' Innern ein Triumphgefühl breitmachte. Ein Rausch, den er nie zuvor gespürt hatte und der ihm fast zum Verhängnis wurde. Den ganzen Lärm um sich herum nahm er plötzlich kaum noch wahr, alle Geräusche schienen durch sein Hochgefühl wie durch eine Wand gedämpft in sein Gehör zu dringen. Der Thraker kam mit dem Rücken am Pferd des Nebenmannes zum Stehen. Geradezu absurd langsam drohte er daran herabzugleiten, mit der freien Hand irgendwo Halt suchend. Dabei ergriff er zufällig den linken Unteram des Reiters. Durch die wohl unerwartete Berührung aufgeschreckt, ließ dieser vom bisherigen Gegner auf der anderen Seite ab, fuhr im Sattel herum und trieb sein Kurzschwert in einem gut gezielten Bogen von oben in den taumelnden Mann. Der Thraker bäumte sich krampfartig auf, ließ sein Falchon fallen und griff mit beiden Händen nach der tief steckenden Klinge, als wolle er sie festhalten. Vergebens. Das zurückweichende Schwert ließ sich nicht bremsen, es trennte ihm ein paar Finger ab und hinterließ eine häßliche, klaffende Wunde in der Brust des Mannes. Ein blubbernder Blutschwall schoß aus seinem Mund, und mit weit aufgerissenen Augen sank er endgültig zu Boden. Themastokles' Triumph erlosch mit diesem Anblick, ausgepustet wie eine Kerzenflamme.
Der Brechreiz war wieder da.
Und die Geräusche.
Stöhnen, Schreien, Schwerterklirren. Pferdewiehern. Surrende Pfeile.
"Liiinks!" hörte er über all das hinweg den Nebenmann brüllen. Bevor sein Verstand wirklich sicher sein konnte, daß ihm die Warnung galt, reagierte er schon darauf. Ja, da war doch noch ein Mann zu seiner Linken... nur mehr eine Erinnerung?! Wie langsam doch die Zeit dahinrasen kann! Im Wegdrehen erhaschte er noch einen Blick in die flackernden Augen des Kampfgefährten- spätestens jetzt konnte er sicher ein, daß er gemeint war-, dann lehnte er sich schon nach links aus dem Sattel, korrigierte die Position des Schildes und fing so die zustoßende Klinge des anderen Thrakers im letzten Moment ab. Ein dumpfer Hall, dann ein kreischendes Schaben von Metall auf Metall. Durch die gebogene Spitze des Falchons glitt dieses nach unten hin ab und schrammte an der Flanke des Pferdes entlang. Die Wunde war nicht allzu schlimm, doch das Tier reagierte sofort darauf. Es zuckte erst erschrocken zusammen, drehte sich dann wutschnaubend in Richtung des Angreifers, versuchte, ihn mit dem Kopf vor sich her zu stoßen und ihn zu beißen. Auch dieser Gegner mußte seinen Angriff abbrechen und sich nun des Pferdes erwehren, was Themastokles die Zeit verschaffte, den Schildarm zu heben und mit aller Kraft heruntersausen zu lassen. Der Thraker knickte leicht in den Knien ein. Wegen der Wucht des Schlages? Oder eher wegen des durchdringenden Glockengongs? Der die Ohren bedeckende Helm mußte ja für einen ordentlichen Nachhall sorgen!
Das Pferd drehte sich weiter im Kreis herum, während der so hartnäckig bedrängte Gegner fast hilflos mitstolperte. Nach einer halben Runde sah Themastokles den dritten Thraker. Der hatte sich von hinten über ihn hermachen wollen und sackte soeben in sich zusammen, von einem Pfeil durchbohrt. Die Götter mußten tatsächlich ein wachsames Auge auf ihn geworfen haben!
Er stand nun mit dem Rücken zur ehemaligen Kampfreihe. Eine Lücke hatte sich vor ihm aufgetan, die in die Richtung wies, aus der sie gekommen waren. Nichts wie raus aus dem Getümmel! Er rief sein Pferd hart zur Ordnung, indem er die Zügel fest anzog, dann rammte er ihm die Fersen in die Seite. Sofort machte es einen Satz nach vorne, stolperte dabei fast über einen sich am Boden windenden Artgenossen und setzte dann vorsichtiger über Gefallene hinweg, bis es freien Boden erreichte. Schließlich preschte Themastokles davon. In sicherer Entfernung hielt er an und drehte sich samt Tier zum Kampf zurück. Was war bloß aus dem Rückzugsbefehl geworden?
Mindestens ein Dutzend Reiter war gefallen. Fünf waren noch von Thrakern umringt, Cotiso einer davon. Sechs Mann waren entkommen und sammelten sich gerade, nicht weit von ihm entfernt. Sie schienen unschlüssig, was sie tun sollten. Ihr Feldherr war in Bedrängnis, doch sein Befehl lautete, sich abzusetzen. Um was zu tun? Neu formieren? Noch einmal angreifen? An selber Stelle oder an anderer?
Wie gebannt verfolgte Themastokles Cotisos Bewegungen. Wie eine Choreografie wirkten sie auf ihn, wie eine einstudierte Abfolge von Bewegungsabläufen. Obwohl sie das bei genauem Hinschauen nicht mehr waren, obwohl sie mal hierhin und mal dahin gingen, waren sie doch so anmutig, so selbstsicher. Er kämpfte am rechten Rand der eng zusammengerückten Reiter. Seine schildlose Linke wurde von den Kameraden geschützt. Wie Themastokles nutzte auch Cotiso sein Pferd als Waffe, natürlich um einiges effektiver und gezielter. Zwar standen sie auf der Stelle und hatten so den eigentlichen Vorteil der Reiterei eingebüßt, aber dennoch konnte auch ein stehendes Pferd noch als Rammbock herhalten, indem man es hierhin und dorthin drehte. Manchmal ließ er es sogar auf die Hinterbeine steigen, um seine Hufe als weiterreichende Angriffswaffe zu nutzen. Um Hieben auszuweichen, lehnte er sich im Sattel so weit zurück, daß man meinen mußte, er würde gleich herunterfallen. Kaum war die Klinge an ihm vorbei, schnellte er jedoch mühelos wieder vor und streckte den Angreifer mit einem einzigen gezielten Stich nieder. Er ließ sogar die Zügel fahren, um mit der hinzugewonnen freien Hand Arme in der Luft abzufangen oder Gegner an den Haaren zu packen. Er stieß sie beiseite oder zerrte sie zu sich hin, um dann ihren Kopf nach hinten zu biegen und die Kehle zu durchtrennen. Und immer, wenn es um ihn herum zu eng wurde, wirbelte er mitsamt seinem Tier im Kreis herum, und die Thraker wichen vor seiner umhersausenden Klinge zurück. Oder sie wurden gefällt wie die Grashalme unter der Sense.
Ein weiterer Reiter fiel.
Ein halbes Dutzend Thraker folgte.
Dennoch... von einem Gleichgewicht konnte noch lange keine Rede sein. Es blieben vier gegen dreißig.
Drei gegen zwanzig.

"Und als sie sahen, daß ihr Feldherr nicht an Tapferkeit verlor und unbeirrt weiterkämpfte, ja, daß er sogar noch mehr über sich hinauswuchs, je schlechter seine Chancen standen, da faßten auch die entkommenen Reiter neuen Mut. Sie schwärmten aus, um im Boden oder in Körpern steckende Speere einzusammeln, formierten sich in ihrer sechs Mann starken Linie neu und ritten ein weiteres Mal gegen die Thraker an, um Cotiso zu Hilfe zu eilen. Gleichzeitig hatte eine nahe dakische Axtkämpfertruppe ihren Gegner überwunden und schwenkte ebenfalls auf die Falchoner ein. Mit wildem Geschrei stürmten sie von hinten in die feindlichen Reihen. Unter den wuchtigen Axthieben brachen Schilde, Helme und Rüstungen, und die Hälfte der Gegner fiel sogleich. Der klägliche Rest geriet nun in Panik und versuchte zu fliehen, doch keiner von ihnen schaffte es, aus dem Pulk zu entkommen.
Und als dann der letzte der thrakischen Elite niedergestreckt war, da erhob sich ein wildes Siegesgebrüll. Die Männer riefen Cotisos Namen und ließen ihn hochleben, denn in ihren Augen war allein er es, der die Thraker durch seine Standhaftigkeit besiegt hatte!"
Auch in der Versammlungshalle bricht Jubel aus.
Themastokles kann nicht weiterreden. Er hebt beschwörend beide Arme und dreht sich ein paarmal im Kreis. Dennoch muß er eine ganze Weile warten, bis das "Sieg!"- und "Cotiso!"-Gebrüll wieder abflaut. Dann fährt er fort:
"Doch wenn ihr nun denkt, Cotiso hätte sich hochleben lassen, wo die Schlacht noch gar nicht vorüber war, so irrt ihr euch! Nein, mit harrschen Befehlen rief er seine Männer zur Ordnung und schickte sie erneut in den Kampf! Er selbst umgab sich mit dem Rest seiner Reiter und eilte ans gegenüber liegende Ende des Schlachtfeldes, wo der feindliche Heerführer die dakischen Bogenschützen in einen chancenlosen Nahkampf verwickelt hatte. Als er Cotisos Herannahen bemerkte, war es schon zu spät für ihn. Von allen Seiten drängten die ermutigten Plänkler und Schützen auf ihn ein, um ihn an der Flucht zu hindern. Nach dem Eintreffen der dakischen Reiter fiel einer nach dem anderen aus der Leibgarde des Feindes. Schlußendlich er selbst. Niedergestreckt durch Cotisos Schwert! Erst dies war das Ende. Die Garnison von Campus Getae war vernichtet. Die Stadt gehörte den Dakern."



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der Aufmarsch der Heere
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das Durcheinander nimmt seinen Anfang
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Cotiso besiegt Prinz Gaidres
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Neuordnen für den Rest
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schwere Verluste für die Daker
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All das wiederholte sich vor Themastokles' Augen, als er mit Cotiso am Feuer saß. Und dieser ahnte, was in seinem Gegenüber vorging. Mit einem hintergründigen Lächeln beobachtete er die Regungen auf seinem Gesicht und wartete geduldig, bis er das Gespräch wieder aufnehmen würde.
Themastokles holte tief seufzend Luft und schüttelte entschieden den Kopf.
"Das Schlachten wird nie mein Handwerk sein." wiederholte er seine Sicht der Dinge.
"Wie war es für dich?"
"Widerwärtig. ... Abscheulich. ... Ekelerregend."
Die Worte kamen langsam, aber stetig.
"Abstoßend." schlug Cotiso noch vor, ein breites Grinsen im Gesicht.
"Ja, auch abstoßend..."
"Viele Worte, die ein und dasselbe meinen."
"Das ist wohl so."
"Du bist ein seltsamer Mann, Grieche."
"Hm?" Themastokles hob verwundert die Brauen.
"Das mußt Du zugeben! Für jemanden, der von sich behauptet, ein Nachfahre des großen Alexander zu sein, wirkst Du wenig überzeugend."
"Zweifelst Du daran?"
"Nein. Deine Geschichte ist viel zu fantastisch, um wirklich erfunden zu sein. Auch in meiner Familie gibt es welche, die vom Kriegführen nicht viel verstehen. Und auch nichts davon verstehen wollen. Ich meinte nur. Es paßt einfach nur schwer zusammen."
Daraufhin schwiegen sie wieder. Themastokles konnte oder wollte dazu nichts weiter sagen. Das Thema war wenig ergiebig. Er hatte einmal erwähnt, ein Erbe des großen Welteroberers zu sein, nicht damit rechnend, daß Cotiso, immerhin ein stumpfsinniger dakischer Barbar, mit diesem Namen etwas anzufangen wüßte. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Und ein Beweis für seine anerzogene Voreingenommenheit gegenüber anderen Kulturen, die er selbst nach zehn Jahren des Umherreisens noch nicht ganz abzulegen vermocht hatte. Cotiso hatte überraschend viel zu Alexander sagen können, konnte Daten und Handlungen aufzählen, die dem Lehrstoff eines griechischen Schülers in nichts nachstanden. Desweiteren schaffte er es auf fast anrührende Weise, offensichtlich erfundene Mythen und Geschichten in sein Wissen einzuweben, als seien sie wirklich wahr. Daran ließ sich erkennen, daß Cotisos historische Kenntnisse nicht aus einer Akademie stammten, sondern von den Erzählungen an abendlichen Lagerfeuern herrührten. Andererseits konnte sich auch Themastokles nicht sicher sein, wieviele Freiheiten sich seine Lehrer dereinst genommen hatten. Wenn er an solche Unterrichtsstunden zurückdachte, sah er sie immer mit leuchtenden Augen von den guten, alten Zeiten schwärmen.
Sein Großvater hatte in Alexanders Heer gekämpft, war jedoch schon während des Ägyptenfeldzuges ausgeschieden und hatte sich als dekorierter Veteran im neugegründeten Alexandria niedergelassen. Sicher wäre es nicht übertrieben zu sagen, daß er dazu beigetragen hatte, Alexandria zu dem zu machen, was es heute war: eine blühende Metropole. Seinem Vater, der aus der Ehe mit einer Ägypterin hervorging, konnte man diesen Verdienst auf keinen Fall absprechen, war er doch schon zu einem hohen Beamten aufgestiegen. Zu diesem Zeitpunkt war Alexander bereits tot und sein Imperium verfiel zusehends. Ägypten wurde nun von den Ptolemäern regiert, einer aufstrebenden, von den griechischen Besatzern begründeten Dynastie. Der Vater hatte mit Krieg schon nichts mehr zu tun, deshalb wurde auch dem Sohn die klassische, griechische Ausbildung zumindest teilweise vorenthalten. Er lernte zu reiten, um schneller von einem Ort zum anderen zu gelangen. Das war's aber auch schon an praktischen Dingen. Waffengebrauch stand nicht im Lehrplan. Selbst etwas so einfaches wie Bogenschießen zu Jagdzwecken mußte er sich selbst aneignen. Im Reich der Ptolemäer jagte man nicht, man betrieb Landwirtschaft! Jedenfalls wenn es nach dem Vater ging. Er bezeichnete sich gern als fortschrittlichen Menschen, der an das friedliche Miteinander der Kulturen glaubte. So wie Alexander. Sogar noch einen Schritt weiter als dieser, da er Waffengewalt grundsätzlich ablehnte. Eigentlich ein großer Widerspruch zu den häufig wiederkehrenden Äußerungen über unzivilisierte Barbaren!
Themastokles mußte grinsen.
"Was ist?"
"Ich habe an meinen Vater gedacht."
"Er war wohl ein lustiger Mensch?"
"Er war ein seltsamer Mensch."
Darüber mußten sie beide lachen.

Den Anfang ihres Gesprächs verloren sie völlig aus den Augen. Vielleicht war das auch gut so. Was auch immer Cotiso Sorgen bereitete..., wenn es wichtig war, würde er früher oder später darauf zurückkommen. War es nicht wichtig, dann hatte er gelernt, daß sich das Grübeln darüber nicht lohnt. Sie redeten noch eine ganze Weile über ihre Väter und gelangten einhellig zu der Ansicht, daß sie es seien, die die Söhne zu dem formten, was sie sind. Und daß es wohl ganz gut so sei, daß nicht immer dieselbe Art Mensch dabei herauskam. Die Welt konnte nicht nur aus Kriegern bestehen, das sah sogar ein Cotiso ein. Beinahe philosophische Betrachtungen zwischen einem Griechen und einem... nun ja... Nichtgriechen! Vor allem an eine Aussage erinnerte sich Themastokles am nächsten Tag noch genau, obwohl sich später noch mehr Männer ans Feuer gesellten und viel Wein geflossen war. Mehr, als er eigentlich vertragen konnte. Er würde sich auch am nächsten Tag noch erinnern. Und in einem Jahr. Er würde es niemals vergessen, eher sogar aufschreiben, damit auch der Rest der Welt erfuhr, daß selbst vermeintlich wilde Barbaren zu tiefsinnigen Gedanken imstande waren. Oder sein Vater, wäre er nicht schon an einer Epidemie zugrunde gegangen.
"Wärst Du wie ich," hatte Cotiso versonnen gemeint, "dann wärest Du wohl nicht mehr hier. Unsere Wege hätten sich schon früh getrennt, weil wir nichts miteinander anzufangen wüßten. Ich wüßte alles von dir. Ich würde stets Deine Gedanken erraten, Deine Ängste kennen und Deine Träume. Du würdest mich langweilen. Und ich dich. Wärest Du nicht von selbst gegangen, dann hätte ich dich fortgeschickt. Nur unsere Verschiedenheit ist der Grund, daß Du all das mitmachst, von dem Du sagst, es widert dich an. Ich vermag es, dir neue Dinge zu zeigen, die dich trotz Deines Abscheus faszinieren. So wie Du mir Dinge berichten kannst, von denen ich ohne dich vielleicht nie erfahren hätte. Du bist ein freier Mann, Grieche, und doch bist Du mein Gefangener. Weil Du nicht anders kannst, als mein Gefangener zu sein."
Nur gut, daß Themastokles zu viel getrunken hatte und sein Gesicht schon vor diesen Worten leicht gerötet aussah. Allerdings konnte die sich ausbreitende Gänsehaut, die er durch Warmreiben der Arme zu vertreiben suchte, seine Ergriffenheit verraten. Denn kalt war es bei Wein und Feuer nun wirklich nicht!

Cotiso hatte noch mehr Gefangene von Themastokles' Art. Doch im Moment war er der einzige in der Stadt, denn die anderen waren als Kundschafter oder als Boten unterwegs. Er hatte in seinem Gefolge Priester verschiedener Kulte kennengelernt, einen ehemaligen Steuereintreiber, Sklavenhändler, Söldnerführer und Überläufer geschlagener Rebellentruppen. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch ein thrakischer Überläufer hinzukäme.
Eine Woche nach der Einnahme der Stadt kehrten die ersten von ihnen zurück.
Cotiso, einige seiner Leibgarde und Themastokles empfingen drei der Kundschafter am Rand der Stadt. Sie kamen auf der gepflasterten Straße zurück, die von hier fast schnurgerade nach Süden führte.
"Sie kommen!" rief einer schon von weitem, und als sie vor ihnen abgestiegen waren, fügte er noch hinzu: "Wie Du gesagt hast."
"Wie lange brauchen sie noch?"
"Höchstens eine Woche."
"So wie sie marschieren, scheinen sie noch nichts von der Niederlage ihrer Leute zu wissen." ergänzte ein anderer. "Sie kommen als Unterstützung für einen toten Feldherren."
"Also kein Anführer?" schloß Cotiso daraus.
"Nein. Wir konnten keine besondere Standarte sehen."
"Wieviele?"
"Knapp fünfzehnhundert Mann. Alle zu Fuß."
"Irgendwelche Einzelheiten?"
"Viele Hopliten. Bastarner. Einige makedonische Schwertkämpfer. Und illyrische Plänkler."
"Gute Arbeit." Cotiso nickte anerkennend. "Wir werden sie gebührend empfangen."
Nach einem Moment des Nachdenkens erklärte er in groben Zügen, wie der Empfang auszusehen hatte. Mit jedem Satz verschwand eine Sorgenfalte von seiner Stirn und verwandelte sich in ein winziges Fältchen in den Augenwinkeln. Auch die anderen Männer konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. "Wir bleiben in der Stadt. Vielleicht bemerken sie gar nicht, daß die Garnison von Getae nun eine dakische ist. Dann marschieren sie unvorbereitet ein, während sich unsere Männer in den Häusern verstecken. Wir lassen ein paar Alte von den Dächern aus winken und jubeln. Es wird zwar ein übles Gekrächze werden, aber mit etwas Glück fühlen sich die Thraker tatsächlich als Befreier. Da sie uns nicht sehen, werden sie glauben, wir hätten die Belagerung aufgegeben und uns kampflos zurückgezogen. Das paßt zu dem Feindbild, das sie von uns haben. Nicht wahr, Grieche?" Auf den stichelnden Seitenblick hin zuckte Themastokles nur die Schultern. Dann wandte sich Cotiso an seine Leibgarde. "Das Schlachtfeld im Norden der Stadt ist nahezu aufgeräumt. Unsere Toten sind bestattet, die Thraker verbrannt. Wenn sie einen Trupp um die Stadt herumschicken, müssen sie schon gezielt nach Spuren suchen. Sagt den Männern, die Sauferei hat ein Ende. Sie sollen ihre Silberkrüge nehmen und für Regenwetter sorgen. Ein bißchen Wasser auf das alte Schlachtfeld und auch die letzten Grashalme richten sich wieder auf! Nebenbei wird noch etwas Blut in den Boden gewaschen. Bis die Thraker hier sind, sieht alles wieder so aus wie zuvor. Keine Lagerfeuer mehr in der Stadt! Jedes Zelt, einschließlich meines, wird abgebaut! Von nun an nimmt jeder in einem festen Gebäude Quartier! Tagsüber wird in den Straßen exerziert, nachts wird es Patrouillen geben! ..."

"... Campus Getae soll nicht den Eindruck einer verlassenen Ruinenstadt erwecken."
Mit Genugtuung registriert Themastokles die stumme Begeisterung seiner Zuhörer. Wie sie so dahocken, mit teilweise offenen Mündern, sehen sie genauso aus wie jene Männer, zu denen Cotiso direkt gesprochen hat.
"'Zur Sicherheit verstecken wir unsere Reiterei in den Hügeln nordwestlich der Stadt. In den Straßen nutzt sie uns ohnehin wenig.' 'Welche Reiterei meinst Du?' wollte einer von Cotisos Leibwächtern wissen. Auch ich fragte mich das, war doch nach der großen Schlacht kaum noch etwas von den dakischen Reitern übrig. Cotiso hatte seine Leibgarde aufgefüllt, indem er die erfahrensten Veteranen seiner Infanterie auf ein erbeutetes Pferd setzte. Natürlich waren diese Männer ein würdiger Ersatz, aber insgesamt gesehen, gab es trotzdem nur diese eine Truppe, und es war doch wohl mehr als unwahrscheinlich, daß der Feldherr ohne seine Garde in der Stadt bleiben wollte?"
Zustimmendes Nicken. Fragendes Stirnrunzeln. Ja, wen meinte Cotiso bloß? Themastokles hatte seine helle Freude, es ihnen zu verraten.

"Wir werden die Bewohner der Stadt zusammentreiben, die letzten brauchbaren Männer heraussuchen und diese auf ein Pferd setzen. Drei- bis vierhundert Mann sollten schon noch zusammenkommen. Oder was meinst Du, Grieche? Du hast sie doch gezählt?"
"Ja. Vielleicht auch mehr. Jeden Tag kommen ein paar zum Vorschein, die sich tatsächlich versteckt hatten. Aber viele von ihnen sind kaum mehr als große Kinder. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie wertvoller sind als die Greise."
"Darauf kommt es nicht an. Hauptsache, sie können reiten. Und bei den Unmengen an Pferden, die sie im Umkreis der Stadt gehalten haben, ist das mehr als wahrscheinlich."
"Wir können uns auf diese... Knaben... nicht verlassen." gab noch jemand zu bedenken. "In dem Sinne, daß sie wohl kaum für uns kämpfen wollen."
"In dieser Schlacht vielleicht nicht. Aber in der nächsten. Wir postieren sie, wie ich gesagt habe. Sie werden kaum etwas zu tun bekommen, nur aus sicherer Entfernung zuschauen. Und wenn sie sehen, daß wir Daker in der Lage sind, Campus Getae auch ohne ihre Hilfe zu halten, werden sie sich mit Begeisterung anschließen."
"Wohl wahr...."
"Gut möglich...."
"Sollte es tatsächlich mehr Knaben als Pferde geben, dann rüstet den Rest entsprechend aus! Drückt ihnen in die Hand, womit auch immer sie einigermaßen umgehen können! Diese behalten wir dann als unterstützende Fußtruppen im Zentrum der Stadt. Dort können wir auf sie aufpassen. Sie werden sich hüten, im entscheidenden Moment die Seiten zu wechseln! Auch unsere Nachwuchsreiter werden an Ort und Stelle bleiben, solange wir ihre Freunde sozusagen als Geiseln bei uns haben. Trainiert ein wenig mit ihnen! Laßt sie durch die Straßen rennen, um sie fit zu machen! Nehmt die Reiter außer Sichtweite der Stadt und studiert grundlegende Manöver ein! Es bleibt nicht viel Zeit."
"Wir werden tun, was wir können."
"Du kannst dich auf uns verlassen."
Mit diesen bestätigenden Worten begaben sich die Leibwächter und die Kundschafter in die Stadt, um die Ausführung von Cotisos Befehlen in die Wege zu leiten.
"Und Du, Grieche? Du solltest auch noch ein wenig durch die Straßen schlendern! Sehr bald wirst Du dich wieder über glitschige Eingeweide und abgetrennte Gliedmaßen beschweren, die dir im Wege liegen."
Cotiso drehte sich augenzwinkernd um und stolzierte davon. Er ging wie ein Sieger.


http://img274.imageshack.us/img274/8703/dakeraarcotiso7pf7.jpg (http://imageshack.us)

Andrejos
20.10.06, 19:15
Um meine Augen zu schonen habe ich das AAR ausgedruckt, und fange heut´zu lesen an.
Mal sehen, wie es ist...

IhP
22.10.06, 19:32
Hey, heute ist Sonntag. *auf Update wart*

Robert Guisgard
22.10.06, 20:33
Und ich hatte gehofft, das wäre erst morgen. :heul:

Ich kann eine Fortsetzung anbieten, aber nur mit Widerwillen. Es fehlen ja höchstens zwei, drei Absätze bis zum Komplettabschluß des Kapitels. Naja, vielleicht auch vier. Schwer vorherzusagen. :D

Nun muß ich erst wieder schauen, wo ich den Text unterbechen kann. Zusätzliche Arbeit ist das! :motz:

;)

Rest gibt's morgen. Vielleicht. Das ist kein Versprechen!

Robert Guisgard
22.10.06, 20:54
Themastokles vor der Ratsversammlung - Fortsetzung

Wie hätte dieser Plan auch schief gehen können? Alles kam so, wie es Cotiso vorhergesehen hatte. Fast alles.
Zwei Wochen nach Eroberung von Campus Getae, am frühen Morgen, erschien das verspätete Entsatzheer der Thraker am südlichen Horizont. In Marschformation rückte es bis zum Mittag in Rufweite vor. Dann spaltete sich ein Viertel ab, um die Stadt in weitem Bogen zu umrunden. Waren sie mißtrauisch? War das Theater, das heißere Rufen und Winken, welches die Alten wie geplant veranstalteten, zu offensichtlich?
Cotiso stimmte zu, daß ein weiteres Detail des großen Planes ausgeführt werden mußte. Eines, das Themastokles noch beigesteuert hatte, nachdem der Rest schon feststand. Er würde eine kleine Delegation von Stadtbewohnern nach draußen führen und den Hauptteil der Truppen von der Sicherheit der Lage überzeugen.
"Wenn Du das schaffst, mache ich dich zu meinem Lieblingsgriechen."
Ganz wohl war Themastokles natürlich nicht, aber das Versprechen Cotisos half ihm dabei, seinen Nervenkitzel auf stimulierendem Niveau zu halten, statt sich davon übermannen zu lassen und handlungsunfähig zu werden. Eine Gesandschaft der Thraker kam ihnen auf halbem Wege entgegen. Eigentlich wollte er die ihn begleitenden Stadtbewohner kurz vor dem Treffen zurücklassen, damit sie ihm nicht durch unbedachte oder bewußt verräterische Äußerungen alles zunichte machten und ihn selbst in große Gefahr brachten. Aber das hätte wohl einen seltsamen Eindruck hinterlassen, deshalb ging er das Risiko ein, sie bei sich zu behalten. Es waren zwei alte Männer und eine Frau, nach Äußerlichkeiten beurteilt, mochten es die Ältesten der Stadt überhaupt sein. Mit etwas Glück bekamen sie gar nicht mit, worüber gesprochen wurde.
"Seid willkommen, Söhne Thrakiens!" eröffnete er das Palaver. Überschwengliche Freude zur Schau stellend, ging er auf jeden einzelnen der fünf Krieger zu, ergriff mit beiden Händen ihre rechte und schüttelte sie wild. Den Hauptmann- er ging davon aus, daß dies der am meisten dekorierte sein mußte- nahm er sogar in den Arm wie einen lange verloren geglaubten Sohn. "Wir sind so froh, daß ihr hier seid!" Er sprach griechisch, weil es bei seiner Nervosität bedeutend sicherer war, die Muttersprache zu wählen und ein paar thrakische Akzentbrocken einzustreuen als andersherum. Normalerweise verstand das auch jeder halbwegs gebildete Thraker, waren sie doch schon immer Nachbarn der Griechen gewesen und kulturell stark von ihnen beeinflußt. Sie bauten sogar dieselben Tempel und beteten zu denselben Göttern, ein nettes Detail, das Themastokles gerade rechtzeitig in den Sinn kam. "Wir hoffen, Demeter hat seine schützende Hand über euch gehalten, wie auch über uns. Jeden Tag brachten wir ihm Opfer dar."
"Das hat er. Wir danken euch für den herzlichen Empfang..."
Themastokles pfiff auf die Höflichkeit und ließ sein Gegenüber gar nicht richtig zu Wort kommen. Sie hatten nicht genug Zeit, um lange Reden zu schwingen. Was auch immer der Hauptmann mit dem anderen Trupp ausgemacht hatte, er mußte in die Stadt einrücken, bevor diese verräterische Zeichen melden konnten.
"Ihr kommt gerade zur rechten Zeit! Wie ihr seht, haben sich die Daker aus dem Staub gemacht, als sie euer Herannahen bemerkten. Aushungern wollten sie uns, diese feigen Barbaren! Stellt euch das vor: kaum genug Leute, um die Stadt zu umzingeln, und dann wollen sie uns aushungern! Unsere Vorräte hätten noch Jahre gereicht, im Gegensatz zu den ihren! Nichtsdestotrotz... es ist gut, daß ihr nun hier seid. Ein hungerndes Dakerheer ist sicherlich genauso unberechenbar wie ein hungerndes Wolfsrudel. ..."
Themastokles registrierte ein schwaches Grinsen, das obendrein etwas gekünstelt und sehr unsicher wirkte. Das war bedeutend weniger als erhofft. Was war bloß los mit denen?
"... Möglicherweise hätten sie die Stadt irgendwann angezündet! Nicht auszudenken, wieviele von uns zu Tode gekommen wären! Doch wir sollten die Spekulationen sein lassen, um die Gnade der Götter nicht in Frage zu stellen. Prinz Gaidres erwartet dich in der Stadt, Hauptmann, dich und Deine Männer...."
"Prinz Gaidres lebt?"
Daher also die Unsicherheit! Mit so einer Frage hatte Themastokles nicht gerechnet. Auch Cotiso hatte sich ganz auf die Meinung seiner Kundschafter verlassen, das thrakische Heer wisse nichts vom Schicksal des einstigen Statthalters. Vielleicht war das vor kurzem auch noch so gewesen, doch in der letzten Woche konnte sich das ja geändert haben. Trotz des kleinen Schocks, den dieser überraschte Einwurf des Hauptmanns verursachte, ließ er sich nicht aus dem Konzept bringen.
"Ja, aber natürlich! Warum sollte er nicht mehr unter den Lebenden weilen?"
"Wir haben unterwegs einige Männer aufgegriffen, die uns berichteten, unter Prinz Gaidres gegen ein Dakerheer gekämpft zu haben. Der Prinz sei gefallen und mit ihm die Stadt."
Themastokles atmete innerlich auf. Die Art, wie der Hauptmann das sagte, machte mehr als deutlich, daß er nicht daran glaubte. Oder zumindest nicht daran glauben wollte. Das war genau der richtige Ansatz, um seinerseits wahre Empörung vorzuspielen. "Oh, Hauptmann! ... Wie war doch gleich Dein Name?"
"Diazelmis nennt man mich."
"Oh, großer Hauptmann Diazelmis, hör' mich an! Sieht so vielleicht eine Stadt aus, die soeben von wilden Dakern geplündert und gebrandschatzt wurde? Sieh die blendend weißen Häuser! Sieh die strahlende Kuppel von Demeters Tempel! Er wäre als erstes in Flammen aufgegangen, das weiß doch jeder! Die Daker hätten ihren eigenen dämonischen Hain zwischen den qualmenden Überresten errichtet und würden jetzt nackt darin herumtanzen! Deine Worte beleidigen mich fast! Ja, sie beleidigen uns alle, die wir so hoffnungsvoll auf dich gewartet haben! Wie kannst Du nur den Jubel dieser Menschen mit dem Geheule von Barbaren vergleichen? ..."
"Gewisse Ähnlichkeit hat das schon." kam es halblaut von einem der Hintenstehenden. Zwei weitere Thraker brachen daraufhin in Gelächter aus. Der Hauptmann fuhr augenblicklich herum und herrschte sie an, wo denn ihr Respekt bleibe. Die Alte aus Themastokles' Delegation fing zu schluchzen an, während die zwei anderen Greise die verbliebenen Zähne fest zusammenbissen. Sie wollten etwas sagen, aber vermutlich nichts, was die Sache gefährdet hätte. Eher sahen sie so aus, als wollten sie den Hauptmann bei seinem Tadel kräftig unterstützen. Der wirkte ehrlich zerknirscht, als er sich wieder herumdrehte.
"Und ich?" fing Themastokles wild gestikulierend wieder an, "Ich bin Händler aus Alexandria! Ich kam her, um Getreide und Gold gegen Zinn zu tauschen. Sehe ich aus wie jemand, der einem großen Gemetzel entronnen ist? Meinst Du, ich würde meine Haut noch am Körper tragen, wäre ich den Dakern in die Hände gefallen? Nein! Auf einen Schild hätten sie die gespannt, zusammen mit hundert anderen! Du weißt doch, Hauptmann Diazelmis, daß die Barbaren ihre Schilde aus Menschenhäuten herstellen?"
"Ich habe davon gehört..."
"Sie sammeln die Schädel der Erschlagenen!" pflichtete nun ein Großvater bei.
"Und schnitzen ihre Pfeilspitzen aus den Gebeinen der Toten!" preßte der andere hervor.
Erstaunlich, wie hartnäckig manche Menschen an alten Märchen festhielten, dachte Themastokles, selbst wenn sie am eigenen Leibe erfahren, bzw. nicht erfahren hatten, wie weit diese von der Wirklichkeit entfernt waren! Nun, ihm sollte es recht sein.
Der Hauptmann wollte davon auch nichts weiter hören. Er machte den Mund auf, um die Debatte zu beenden, aber Themastokles kam ihm noch einmal zuvor. Ein verbaler Hieb war noch übrig. "Und wie kannst Du, Hauptmann Diazelmis, an den Fähigkeiten von Prinz Gaidres zweifeln? Er, der Sieger in unzähligen Schlachten, soll von Dakern bezwungen worden sein? Laß ihm das bloß nicht zu Ohren kommen! Ich fürchte nämlich, er ist gerade etwas in Mißstimmung, weil er noch gar nicht die Gelegenheit bekommen hat, gegen diese Feiglinge anzutreten! Deshalb hat er auch mich geschickt, euch zu begrüßen. Und möglichst schnell in die Stadt zu führen!"
"Schon gut, schon gut! Die Geschichte gefiel mir von Anfang an nicht. Es werden Deserteure gewesen sein, die wir aufgelesen haben! Wir können und werden sie jetzt nicht noch einmal befragen. Sie sind bei der anderen Truppe, um Spuren der vermeintlichen Schlacht zu suchen. Sie werden ein Zeichen geben, sobald sie etwas gefunden haben. Doch wie es aussieht, könnten wir wohl lange warten! Wo ist Prinz Gaidres? Was hat er vor?"
"Das wird er dir wohl selber sagen wollen. Aber soweit ich mitbekommen habe, steht er mit seinen Truppen abmarschbereit auf dem Versammlungsplatz. Schon vor drei Tagen wollte er die abrückenden Daker verfolgen. Er hat auf dich gewartet, um Getae nicht schutzlos zurücklassen zu müssen. Schließlich könnte alles nur eine Finte sein."
"Ja, das ist möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist es, daß mir der Schutz der Stadt zufällt, während er sich aufmacht, weiteren Ruhm einzustreichen! Aber ich will mich nicht beklagen. Schon gar nicht bei einem Händler aus Alexandria."
"Deine Zeit wird kommen, Hauptmann. Deine Zeit wird kommen."
"Vielleicht hast Du recht. Die Götter stellen unsere Geduld gern auf die Probe. Das ist alles."
Hauptmann Diazelmis wandte sich ab und gab durch einen Wink an das wartende Heer zu erkennen, daß sich dieses wieder in Bewegung setzen sollte. Ein durchdringendes Signalhorn gab den Befehl bis an die hintersten Reihen weiter. Es war laut genug, um noch am gegenüberliegenden Stadtrand gehört zu werden.

Cotiso, der sich in ein unscheinbares Gebäude am nördlichen Stadtrand begeben hatte, sah durch ein Fenster hindurch, wie die Thraker auf dem alten Schlachtfeld in ihrem Tun überrascht innehielten. Ein gutes Dutzend Männer hatte in gebückter Haltung nach Spuren gesucht, während der Rest der gut dreihundert Mann teilnahmslos hinterhertrottete. Nun riefen sie sich gegenseitig etwas zu, was er nicht verstehen konnte. Es artete jedoch in eine richtige Debatte aus, denn das Gestikulieren der Beteiligten wurde immer heftiger. Cotiso konnte nur raten, was da vor sich ging.
Das Horn vom anderen Ende der Stadt war noch nicht lange verklungen, da trat einer seiner eigenen Hauptleute neben ihn und raunte ihm zu, das größere thrakische Heer würde weiter vorrücken. Die Nachricht war durch vorher abgesprochene Handzeichen von Straßenecke zu Straßenecke gewandert.
"Die ganze Kolonne marschiert wie zuvor." ergänzte der Truppenführer noch. "Offensichtlich sind sie noch immer ahnungslos. Der Grieche muß Erfolg gehabt haben."
"Sehr gut. Sind die Männer bereit?"
"Alle warten auf Dein Zeichen."
"Wir greifen zuerst den kleinen Trupp an. Siehst Du das vorgerückte Dutzend Männer da, das uns am nächsten ist, Madyes?"
"Natürlich, Herr."
"Sie suchten etwas und scheinen nicht damit einverstanden, daß sie nun aufhören sollen. So als wüßten sie, daß es etwas zu finden gibt."
"Hm, hm..."
"Und siehst Du auch die Fackelträger?"
"Drei, vier... sechs Stück sehe ich."
"Ja. Am hellichten Tag! Die Kerle suchen nach den Spuren der Schlacht und wollen Brandpfeile als Signal benutzen, sobald sie etwas finden! Eine andere Erklärung kann es kaum geben. Dem müssen wir zuvor kommen. Jetzt! Ich werde mit meinen Männern hinausreiten. Anschließend führst Du unsere Fernkämpfer vor die Stadt! Wenn mein Banner kreist, ist dies das Zeichen für den Angriff. Feuert direkt auf die Thraker! Die Pfeile dürfen nicht zu hoch steigen, damit sie auf der anderen Seite der Stadt nicht zu sehen sind! Fackelträger und Signalbläser sind die vorrangigen Ziele!"
"Verstanden, Herr."
"Im weiteren Verlauf handelt ihr selbständig! Keine weithin hörbaren Signale während des Kampfes! Es muß alles schnell und lautlos geschehen!"
"Eine schnelle und lautlose Schlacht...?" wiederholte Madyes. Dann holte er einmal tief Luft, um sowohl Bewunderung als auch Zweifel hinauszublasen.
"Sieh' es als Herausforderung!" munterte Cotiso auf, drückte dem Truppenführer kurz die Schulter und eilte dann nach draußen.
Seine Reiter warteten nur ein kleines Stück die Straße hinunter, zusammen mit den Bogenschützen und der Plänklerkriegsbande. Daß sie außerhalb der Stadt eingesetzt werden sollten, ahnten sie schon lange. Was genau ihre Aufgabe sein würde, gaben sie nun, von Madyes ausgehend, von Mund zu Mund aneinander weiter. Das dauerte keine drei Minuten. Als Cotiso mit seinem Trupp an ihnen vorbeiritt, reckten sie ihm ihre Bögen und Speere entgegen. Kein Ton kam ihnen von den Lippen, doch ihre begeisterten und entschlossenen Gesichter sprachen Bände.

Die Standarte, die Cotiso führte, war jene von Prinz Gaidres- seine persönliche Beute. Und sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Aus der Entfernung vermochten die Thraker den Schwindel nicht zu durchschauen. Er konnte an ihrer rechten Flanke vorbeireiten und hinter ihnen in Stellung gehen. Währenddessen strömten die Schützen und Plänkler aus der Stadt.
Erst das sorgte für etwas Verwirrung unter den Thrakern. Einige Truppen setzten sich Richtung Stadt in Bewegung, wohl um die vermeintlichen Kameraden zu begrüßen. Ihr Hauptmann rief sie jedoch dazu auf, die Formation zu halten, so daß sie schon bald wieder kehrt machten und ihm folgten. Alle marschierten zu dem Treffen mit dem Feldherren, der irgend etwas mit ihnen vorhaben mußte. Warum sollte er sonst aus der Stadt kommen? Eine Formation als solche war kaum erkennbar. Der Hauptmann führte drei Abteilungen in einer Kolonne vorneweg, die restlichen vier Truppen versuchten sich an einem Rechteck, das mehr wie ein ineinander gestaffelter Pulk aussah. Ein gefundenes Fressen für die Schützen.
Prinz Gaidres Standarte schrieb kreisförmige Muster in die Luft.
Die erste Pfeilwolke stieg auf.
Themastokles, der sich mit den drei Alten an der Spitze des größeren Heeres befand, konnte sie nicht sehen. Die Häuser ragten bereits höher vor ihnen auf. Aber Cotiso verfolgte die Bahn der Geschosse umso aufmerksamer, zweifelnd, ob nicht einige davon schon zu hoch lagen.
Seine drei Schützenverbände hatten nahezu gleichzeitig die Sehnen schnellen lassen, doch die Pfeile trafen unterschiedlich schnell ein. Die des ersten rasten sehr niedrig über den Boden hinweg, aus seiner Perspektive kaum auszumachen über den Köpfen der nahenden Gegner. Sie waren die schnellsten. Die Salve des zweiten Trupps war höher gezielt, beschrieb schon eine deutliche Kurvenbahn, lag aber noch unterhalb der Dachfirste der höchsten Gebäude. Bei der dritten Salve war er schon nicht mehr so sicher. Diese Pfeile waren am höchsten und am langsamten. Sie wirkten beinahe schwerfällig, torkelten fast durch die Luft und ließen sich problemlos mit den Augen verfolgen.
Die Thraker ahnten nichts von der Gefahr. Das Stampfen ihrer Füße, das Klirren der Waffen und Rüstungen war lange Zeit lauter als das Zischen und Heulen in der Luft. Zu lange. Als sich die ersten, welche zugleich die hintersten der Truppe waren, nach den verdächtigen Tönen umschauten, brachten sie schon keinen Warnschrei mehr von den Lippen. Sie wurden allesamt niedergemäht. Ihre Vordermänner wurden von der nächsthöheren Salve erwischt und hatten ebenfalls hohe Ausfälle zu erleiden. Erst die nächsten Reihen reagierten nach und nach auf die dumpfen Einschläge und die Schmerzensschreie. Die langsame, dritte Salve wurde zum größten Teil von den hochgerissenen Schilden abgefangen. Erste Warnrufe wurden laut.
Doch die nächste Wolke war schon unterwegs. Die schnellen Tiefflieger fanden ihr Ziel unterhalb der Schildkante. Wieder gingen viele Männer zu Boden. Wer nun darauf reagierte, indem er den Schild hastig vor sich hielt, hatte unter Umständen keine Zeit mehr, den Irrtum zu korrigieren. Die nächsthöhere Salve forderte ihren Tribut. Die langsame dritte blieb erneut wirkungslos.
Noch war außer den unterschiedlichen Schreien kein Warnton zu vernehmen, der das andere Heer erreicht hätte. Die Hornbläser hatten wohl noch immer nicht registriert, was gerade mit ihrem Trupp geschah. Oder sie waren zu geschockt. Die Fackeln brannten auch alle noch, aber es stieg kein Signalpfeil auf. In dem dichten Haufen waren die speziellen Ziele für die Daker schwer anzuvisieren. Wie lange würden sie noch brauchen, um den Schrecken zu überwinden?
Die dritte Pfeilwolke richtete kaum noch Schaden an. Die Thraker hatten das Muster im Flugbild der Pfeile durchschaut. Cotiso konnte nicht länger warten. Er hob seine Lanze und rief zur Attacke. "Nicht anhalten! Niederreiten! Einfach durch!"
Die Thraker waren noch immer wie gelähmt. Die hinteren vier Trupps, allesamt Hopliten, hatten sich in Verteidigungsstellung begeben und reckten die Lanzen zwischen ihrem Schildwall drohend in Richtung der Schützen. Eine wenig beeindruckende Haltung. Pfeilhagel um Pfeilhagel ging auf sie nieder. Das Scheppern und Prasseln wollte kein Ende nehmen und sorgte dafür, daß sie nicht die geringste Lust zum Vorrücken verspürten.
"Ein Hinterhalt!" schrie endlich der Hauptmann seine späte Erkenntnis heraus. Für einen anschließenden Befehl reichte es schon nicht mehr. Seine Schwertkämpfereinheit konnte dem Kavallerieangriff nicht standhalten. Er selbst wurde als einer der ersten von einer Lanze durchbohrt. Augenblicklich brach der kümmerliche Rest an Disziplin zusammen; die ersten Thraker rannten panisch davon. Das Glück war Cotiso hold. Auch die nächsten beiden Einheiten leisteten nur halbherzigen Widerstand; statt eng zusammenzurücken, um die Pferde zu bremsen, lockerten sie ihre Reihen so sehr auf, daß die Tiere ungehindert hindurchrauschen konnten. Etliche Thraker fielen durch ausholende Schwertstreiche, ohne daß sie wirkungsvoll zurückschlagen konnten. Zwei der Reiter und ein Pferd wurden durch den eigenen Pfeilbeschuß tödlich getroffen, bevor die Daker das Dauerfeuer einstellten. Dann wurde die Mitte der Hoplitenlinie durchbrochen. So perfekt ihre Deckung nach vorne hin war, hinten fehlte sie komplett. Die Hälfte der Truppe war niedergemacht, bevor der Rest überhaupt reagieren konnte. Und dieser Rest war nicht in der Lage, die nun zahlenmäßig überlegenen Reiter aufzuhalten. Cotiso drängte seine Garde hindurch und jagte mit ihr davon, weiter auf die Stadt zu.
Nun gaben die thrakischen Hopliten ihre starre Verteidigung auf und gingen zum Angriff über.
Cotiso vollführte noch vor der Schützenlinie einen Schwenk nach rechts, um wieder eine freie Schußbahn zu schaffen. Diese Andeutung eines Befehles reichte auch völlig aus, um die nächsten Pfeile steigen zu lassen. Seine Truppenführer dachten mit. Sie hatten sogar daran gedacht, eine eigene Einheit Söldnerhopliten als Unterstützung anzufordern. Diese kamen gerade im Eilmarsch aus der Stadt heraus und hielten unerschrocken auf die Überzahl der Gegner zu, um sie im Nahkampf zu binden. Cotiso unterstützte sie durch seitliche Angriffe oder Attacken in den Rücken. Nach und nach wurden so die Thraker niedergerungen. Einheiten, die sich aus dem Getümmel absetzten, um sich neu zu formieren, wurden regelmäßig mit Pfeilen und Speeren überschüttet, so daß der Sinn dieser Aktionen völlig ins Gegenteil verkehrt wurde. Kein Thraker überlebte den Kampf.
Ein großartiger Erfolg! Zum einen war tatsächlich kein Warnsignal an das Hauptheer abgegeben worden, und zum anderen hatte Cotiso für den Sieg über den dreihundertundfünfzig Mann starken Spähtrupp nur fünfzig Söldner bezahlen müssen.

Doch der Triumph wurde schon bald geschmälert, denn Hauptmann Diazelmis- so naiv er sich auch gezeigt hatte- erwies sich letztlich als zäher Gegner. Im bisherigen langsamen Marschtempo rückte er auf den Hauptstraßen in Richtung Stadtzentrum vor, und bis zum Sichtkontakt aus nächster Nähe schien er völlig ahnungslos zu bleiben. Als er jedoch erkannte, daß auf dem großen Platz keine abmarschbereiten Thraker warteten, traf er sofort die richtige Entscheidung: alle seine Männer zu mehr Tempo anzutreiben und sie auf den aus seiner Sicht rechten Flügel der Daker losgehen zu lassen. Dort standen Cotisos erfahrenste Truppen, nach den letzten Schlachten schon nicht mehr in voller Kampfstärke. Gegen die Übermacht der thrakischen Elitesoldaten würden sich die dakischen Schwertkämpfer nicht lange halten. Cotiso sah keine andere Möglichkeit, als seinerseits die gesamten Fußtruppen zur Unterstützung an den Brennpunkt zu schicken, denn gewänne der Gegner dort die Oberhand, hätte er auch genug Raum gewonnen, um sich aus den engen Straßen zu lösen und auf dem Platz geschlossen zu formieren.
Obwohl die Thraker durch ihre Fixierung auf die rechte Ecke des Platzes ihrerseits die linke Flanke bloßlegten, konnte Cotiso kaum Kapital daraus schlagen. Seine Veteranen-Axtkämpfer aus den hinteren Reihen mußte er frontal auf die Gegner schicken, um soviele Schwertkämpfer zu retten wie nur möglich. Die unerfahrenen Jünglinge der Stadt hätten diese Aufgabe kaum erfüllen können. Diese waren nicht einmal in der Lage, an der Flanke der Thraker nennenswerte Erfolge zu erzielen. Die dort bedrängten Truppen gaben den Ansturm auf die dakische Flanke auf und beschlossen, sich zuerst dieser Belästigung anzunehmen. Mühelos metzelten sie die Frischlinge nieder.
Cotiso verfluchte innerlich die Unfähigkeit dieser Jungen. Man hatte ihn zwar vor ihrer Unzuverlässigkeit gewarnt, aber daß es so schlimm werden würde, hatte er nicht erwartet. In seiner grenzenlosen Wut verstieß er gegen eine seiner festesten Schlachtregeln und ließ die Bogenschützen ein weiteres Mal aus einer Seitengasse heraus das Feuer eröffnen. Sollten diese Jämmerlinge doch alle draufgehen; Hauptsache, der Feind wurde endlich empfindlich getroffen und er konnte seine Veteranen retten!
Viel Erfolg war dem aber auch nicht beschieden. Die Kriegsbande sowie die illyrischen Söldner, beide eigentlich aufs Werfen von Speeren spezialisiert, mußten in den Nahkampf eingreifen. Und er selbst.
Endlos zog sich das zähe Ringen hin. Erst als Diazelmis, an den lange nicht heranzukommen war, getötet wurde, brach die Moral des Gegners zusammen. Dafür aber vollständig. Nur einige handvoll Thraker konnte aus der Stadt fliehen. Und das auch nur, weil Cotisos Männer viel zu erschöpft waren, um die Verfolgung aufzunehmen.


http://img272.imageshack.us/img272/581/dakeraarcotiso8xi4.jpg (http://imageshack.us)

der Spähtrupp der Daker wird unter Beschuß genommen
http://img323.imageshack.us/img323/6915/dakeraarcotiso9yf9.jpg (http://imageshack.us)

das Resultat von Dauerbeschuß und Kavallerieattacken
http://img272.imageshack.us/img272/8499/dakeraarcotiso10vt9.jpg (http://imageshack.us)

Diazelmis' Truppen rücken ahnungslos bis ins Zentrum vor
http://img272.imageshack.us/img272/4319/dakeraarcotiso11tm3.jpg (http://imageshack.us)

heftiger Ansturm der Thraker
http://img272.imageshack.us/img272/9486/dakeraarcotiso12ug1.jpg (http://imageshack.us)

endlich ein Übergewicht
http://img67.imageshack.us/img67/8346/dakeraarcotiso13sk5.jpg (http://imageshack.us)

gegen die letzten Thraker sollen die Frischlinge allein bestehen
http://img71.imageshack.us/img71/9892/dakeraarcotiso14bu0.jpg (http://imageshack.us)

horrende Verluste gegen Diazelmis!

"Wie sollte es nun weitergehen? Das frage ich euch. Und das ist es auch, was Cotiso seine Hauptleute fragte, Wochen nach der Schlacht. Oder waren es schon Monate? Fragt euch selbst, wie lange ihr Cotiso nicht gesehen habt! Dann bekommt ihr eine Ahnung davon, wie schnell die Zeit vergeht... oder wie quälend langsam sie dahinschleicht! Für uns war es letzteres."
Themastokles macht eine kurze Pause. Nicht nur, damit seine Zuhörer über die Worte grübeln können, sondern auch deshalb, weil er kaum noch reden kann. Bis zur Heiserkeit fehlt noch etwas, aber sein Mund und die Kehle sind staubtrocken. Sehnsüchtig schielt er wieder auf eine Weinkaraffe und fragt sich zum wiederholten Male, ob sie voll ist oder leer. Und wie als Antwort auf die stumme Frage zieht der am nächsten Sitzende die Karaffe zu sich hin und füllt langsam seinen Krug auf. Es ist ein Mann, der Vezina sehr ähnlich sieht. Ähnlicher noch als Cotiso. Er hat dieselben langen, rotbraunen Haare, während Cotiso eher ein Wuschelkopf ist. Nur den Bart, diesen in langen Zipfeln herabhängenden Schnurrbart, den haben alle drei gemein. Und die Augen. Natürlich! Die stahlblauen Augen. Dieser Mann ist jünger als Cotiso. Möglicherweise liegen zehn Jahre zwischen ihnen. Themastokles schätzt ihn- unter Berücksichtigung, daß er durch sein Äußeres durchaus älter wirken mag- auf achtzehn bis zwanzig Jahre. Seine Haltung ist recht lässig. Leicht vornübergebeugt, stützt er sich mit dem rechten Unteram auf der Tischplatte ab, während er sich nachschenkt. Als er damit fertig ist- und er läßt sich wahrlich viel mehr Zeit als nötig wäre-, schaut er ihm direkt in die Augen und hält ihm den Krug hin.
Themastokles ist überrascht. Er hat die Handlung zuerst als eine Art mentale Folter gedeutet, aber nun ist sie das Gegenteil. Dadurch, daß ihm der Prinz den Krug hinhält, statt ihn einfach an den Tischrand zu schieben, kommt das ganze fast einer Ehrung gleich. Er ändert zwar nicht im geringsten seine Körperhaltung, denn das hat er ihm gegenüber nicht nötig, aber er bedeutet allen im Saal, daß es ihm der Grieche wert ist, aus seinem Krug trinken zu dürfen.
Themastokles verneigt sich leicht vor ihm und greift beherzt zu. Mit beiden Händen führt er den Krug zum Mund und nimmt einen langen Zug. Schwerer, unverdünnter Wein. Ein Feuer breitet sich in seinem Innern aus. Nebel steigt in seinen Kopf. Die Augen tränen. Aber es ist gut. Sehr gut.
Er trinkt noch ein zweites Mal, bevor er den Krug abstellt. Dabei schwankt er schon kurz und muß sich an der Tischkante festhalten. Die Daker quittieren das mit einem amüsiertem Grunzen.
"Ich weiß selber nicht mehr," fährt er schließlich fort, nachdem er seinen Rednerplatz wieder eingenommen hat, "wie lange wir in Getae hockten, aber ich bilde mir ein, daß Jahreszeiten vorübergingen. Ein heißer Sommer voller Mücken. Ein stürmischer Herbst. Es regnete viel. Die Tage waren grau. Die Gemüter wurden dumpf und schwer, die nächtlichen Patrouillen zur Qual. Ständig waren die Posten durchnäßt bis auf die Knochen, und die Temperaturen sanken. Eine Wohltat, am Feuer zu sitzen und Wein zu trinken. Oder Bier. Man tröstete sich damit, daß es den anderen nicht besser ging. Den anderen, vor der Stadt. ..."

Die Thraker waren wieder da, kaum daß ihr letztes Heer geschlagen wurde. Dentupes, ein begnadeter Adoptivsohn des verhaßten Gegners, lagerte vor Getae wie einst die Daker. Er hatte ein Söldnerheer um sich geschart, das nicht groß genug war, um die Stadt anzugreifen. Also wartete er auf Verstärkung. So wie auch Cotiso wartete.
"Wir müssen eine Entscheidung treffen." sagte er eines Abends. Er stand dabei an einem Fenster in der obersten Etage des Palastes, sich mit beiden Händen am Sims abstützend. Von hier konnte er das feindliche Lager sehen, tagsüber ihre Soldaten zählen, nachts ihre Lagerfeuer. Hinter seinem Rücken saßen neun seiner Hauptleute an einer gedeckten Tafel, ein jeder Anführer eines Kampfverbandes. Sie kamen in letzter Zeit immer häufiger zusammen. Die Anführer der erst kürzlich rekrutierten Hilfstruppen waren nur selten dazu eingeladen. Genauso wenig wie die der Söldner. Man traute ihnen nicht. Themastokles und andere in der Stadt anwesende Gefolgsleute durften zugegen sein, saßen jedoch abseits an einem kleineren Tisch, mehr Zuhörer als Redner.
Da lange Zeit niemand antwortete, drehte sich Cotiso zu ihnen herum, setzte sich nun halb in das Fenster und wiederholte: "Wir müssen eine Entscheidung in größerem Maßstab treffen!"
Diese Ergänzung löste die erste Zunge.
"Was meinst Du mit größerem Maßstab?"
"Dies," Cotiso deutete mit einer Hand hinter sich, "wird die dritte Schlacht um Campus Getae. Nach der Schlacht werden weitere Männer tot sein..."
"Und Du wirst einen weiteren Sieg errungen haben!" warf jemand ein, der wohl schon wußte, in welche Richtung die Gedanken seines Anführers gingen. Aber wußten sie das nicht alle?
"... Fast siebzehnhundert waren wir, als wir aufbrachen. Siebenhundert fielen auf den Feldern vor der Stadt, wenn wir jene berücksichtigen, die teils mit schweren Verletzungen davonkamen. Weitere vierhundert gingen in der Stadt verloren. Wieviele Männer bleiben uns heute? Du, Atheas, sag mir, wieviele Männer Du morgen in eine Schlacht führen könntest!?"
"Siebenundvierzig." antwortete der Angesprochene ohne zu zögern.
"Und Du, Markos?"
"Fünfundzwanzig."
"Was für Zahlen!" Cotiso schnaufte verächtlich.
"Aber ihre Äxte sind scharf!"
"Und ihre Schwerter auch."
"Lächerlich, sage ich! Diegis, Madyes, Comosicus; ihr dürftet die einzigen sein, die noch bei voller Mannstärke sind!"
"Jeweils neunzig." bestätigten sie nickend.
"Eure Leistungen stellt niemand in Frage. Ihr habt so manche Schlacht entscheidend beeinflußt, schon früher, als es noch nicht gegen die Thraker ging. Doch ihr werdet zugeben müssen, daß ihr ohne den Schutz all der anderen Männer nahezu hilflos und verloren wäret!"
"Natürlich, Cotiso. Niemand zweifelt daran. Bogenschützen sind ein großer Vorteil, aber nicht zwingend von Nöten. Worauf willst Du hinaus?"
"Ihr wißt, worauf ich hinaus will! Ich will, daß ihr einseht, daß Campus Getae verloren ist! Wir können nicht länger bleiben. Das Risiko ist zu groß!"
Nach dieser klaren Aussage brach Unruhe unter den Männern aus. Immer lauter werdende Worte flogen von einem zum anderen, doch da sie ausschließlich untereinander diskuttierten und Cotiso dabei gar nicht weiter beachtet wurde, machten sie schon klar, daß hier neun Meinungen gegen eine standen.
"Das sehen wir nicht so, Cotiso. Noch nicht." brachte Markos hervor. Und ein anderer ergänzte: "Noch haben wir 853 Mann zur Verfügung. Viele davon zählen doppelt. Manche dreifach. Du selbst kannst es mit hundert Feinden aufnehmen! Es..."
"Ach, hört auf damit!" unterbrach Cotiso ärgerlich die neue Aufzählung, trat an den Tisch heran und stützte sich nun mit beiden Händen darauf ab. Er schaute ernst von einem zum anderen, bevor er fortfuhr: "Du zählst jene mit, die nicht dazugehören, Dapyx. Ihr alle tut das. Von den 853 müßt ihr die Burschen aus Getae abziehen und die Söldner. Es bleiben kaum 550 echte Daker! Und auch wenn ihr recht habt, daß auf jeden von uns zwei, drei Feinde kommen mögen... Werden es mehr, sind wir verloren! Schaut euch doch an! Decebal; wann hast Du zum letzten Mal diese häßliche Narbe in deinem Gesicht betrachtet? Was macht Dein lahmes Bein, Banat? Siehst Du noch was aus dem verkleisterten Auge, Ata? Wo ist Deine linke Hand geblieben, Markos? ..."
Eine kurze Pause. Keiner wagte die Behauptung, er würde seinen Makel mit Stolz tragen. Vielleicht später einmal, in zwanzig Jahren. Wenn sie ihren Enkeln Geschichten erzählten. Jetzt schwiegen sie.
"Und schaut, wie ihr da sitzt! Es klaffen riesige Lücken zwischen euch! Ist euch das schon aufgefallen? Seit Tagen und Wochen reden wir hier, trinken zusammen, reißen Witze, über die kaum noch jemand lacht! Aber ihr rückt nicht zusammen, ihr ruft über zwei, drei Stühle hinweg! Denn tief in euch ist etwas, das euch vorgaukelt, es kommt noch jemand. Ihr haltet die Plätze frei für Freunde, die ihr nicht mehr habt, für Waffenbrüder, die längst bestattet sind! Wißt ihr noch ihre Namen?"
Alle nickten betroffen.
"Ich auch. Ich weiß sie auch." Und fast flüsternd zählte er sie auf: "Idanthyrsus, Partat, Roles, Scoril, Zalmox, Zubir, Borat, Dromichetes. Und als die ersten von ihnen tot waren, rückten Sido, Diur und Paneus nach."
Wieder eine Pause.
Selbst an Themastokles' Tisch schaute keiner mehr den anderen an. Alle starrten Löcher in das Holz.
Schließlich sprach Decebal einen Gedanken aus, den wohl viele dachten. "Wenn wir die Stadt aufgeben, sind sie umsonst gefallen."
"Ja, verflucht!" Cotiso hieb mit beiden Fäusten so heftig auf den Tisch, daß Krüge, Teller und Messer einen Sprung vollführten. "Das weiß ich! Was meint ihr wohl, wie oft ich mir das vor Augen halte!? Wie lange ich nachts nicht schlafe, weil ich mir den Kopf über dieses Dilemma zermartere!? Wie ich es auch drehe und wende, ich habe versagt! Ihre Weiber baten mich, sie alle zurückzubringen, und auch, wenn ich mich hütete, ihnen das zu versprechen, habe ich ihnen gegenüber versagt! Mein Vater bat mich, unser Reich zu vergrößern. Auch ihm gegenüber habe ich versagt, denn wir können die Stadt nicht halten! Ich opferte viele Männer und gewann... nichts!"
"Das kannst du so nicht sagen, Cotiso! Der Sturm der Thraker wird ein Ende nehmen! Sie können nicht unablässig Heere gegen uns entsenden! Wer soll die Felder bestellen, wenn alle Männer tot sind? Wer wird die Steuern zahlen? Wie will der König der Thraker ein Land voller Weiber regieren?"
Zum ersten Mal war Cotiso zum Schweigen gebracht. Was auch andere ermutigte, ihren Teil beizusteuern.
"Ja. Es ist noch zu früh zum Aufgeben! Du hast Boten entsandt, um Verstärkung zu fordern. Wie lange sind sie schon fort? Jeden Tag können die Truppen ankommen."
"Nichts deutet darauf hin, daß die Boten ihr Ziel erreicht haben! Es wäre töricht, sich auf Verstärkung zu verlassen, solange wir nicht wissen, daß sie unterwegs ist."
"Mag sein, Cotiso, mag sein! Doch bis jetzt kamen wir auch ohne sie aus. Nur noch ein paar Siege, und Getae wird unser bleiben! Mit jeder Niederlage, die wir den Thrakern bereiten, wächst ihr Unwille, weiter gegen uns zu kämpfen!"
"Das Volk wird sich gegen seinen König auflehnen!"
"Sie werden kommen und um Frieden betteln!"
"Dein Name wird unvergessen sein!"
"Und vielleicht erinnert man sich sogar an uns, die wir an Deiner Seite kämpften!"
Über letztere Vorstellung konnten die Männer schon wieder verzückt lächeln.
"Ist das euer letztes Wort?"
"Noch können wir gewinnen! Das ist unsere Überzeugung!"
"Dann sei es so." Cotiso richtete sich auf und schaute noch einmal in die Runde. Er nickte kaum merklich und sah gleichzeitig ein wenig enttäuscht aus. Wie oft hatte er seinen Männern vor der Schlacht Mut zugesprochen? Und hatte sich jemals einer dieser Männer träumen lassen, daß sie die Rollen einmal tauschen würden?
"Wenn ihr kämpfen wollt, werde ich euch führen. Doch seid gewiß; wenn ich der letzte an dieser Tafel bin, wird auch euer Tod umsonst gewesen sein. Ich werde eure Namen in Erinnerung behalten, als jene unerschrockener Kampfgefährten. Aber ich kann euch nicht versprechen, daß eure Gräber in Ehre gehalten werden, ja, nicht einmal, daß ihr welche bekommt."
"Sollte es so kommen," entgegnete Ata, "dann wisse vorher, daß es mir eine Ehre war, für dich zu kämpfen. Und zu sterben."
"Auch für mich, Cotiso!"
"Und für mich!"
"Die Götter mit dir, Cotiso, Größter aller Daker!"
Jubel brach aus, der kaum geringer war als vor Monaten, wo noch siebzehn Männer gemeinsam berieten. Auch die Gefolgsleute traten aus den entlegenen Ecken des Raumes an den Tisch heran. Jeder reckte Cotiso sein Trinkgefäß entgegen. Die am Tisch sitzenden hieben mit den freien Fäusten auf die Platte ein, daß es nur so schepperte und klirrte.
Cotiso nahm seinen Krug entgegen und prostete den Männern zu. "Ohne euch wäre ich nichts."
Dann tranken sie alle, und eine fast andächtige Stille entstand. Themastokles bekam eine Gänsehaut, obwohl er schwitzte wie ein Tier.
Nach und nach wurden die Gefäße abgestellt; zwischen einigen Männern jedoch wurde das Anstoßen zum Wettsaufen. Sie leerten ihre Becher und Krüge in einem Zug. Cotiso wartete, bis auch die letzten drei fertig waren und keuchend nach Luft geschnappt hatten, dann deutete er kurz zum Fenster hin und sagte: "Morgen zerschlagen wir das Heer vor der Stadt."

Sprach's und tat es.

http://img79.imageshack.us/img79/3324/dakeraarcotiso15vl3.jpg (http://imageshack.us)

eine klare Angelegenheit

IhP
29.10.06, 20:26
*auf wöchentliches Update wart* ;)

Robert Guisgard
03.11.06, 20:47
So, dann wollen wir mal...
Besser spät als nie.

Kapitel 2 betrachte ich hiermit als beendet.
Dieses Wochenende bin ich zum Glück (?) nicht da, drum gibt's wieder eine längere Pause. ;) Jetzt muß ich eh erstmal überlegen, an welcher Stelle es weitergeht.

Robert Guisgard
03.11.06, 20:51
Themastokles vor der Ratsversammlung - Fortsetzung

Atheas verlor sieben seiner 47 Axtkämpfer. Alle anderen büßten keinen einzigen Mann ein. Aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit überließ man das Feld den Neulingen, die sich dieses Mal schon bedeutend besser schlugen. Auch die Kavallerie. Zwar erlitten einige Verbände erneut heftige Verluste, aber ihr letztendlicher Erfolg sprach sich herum. Familien kehrten in die Stadt zurück. Aus den umliegenden Dörfern meldeten sich junge Männer, um für Cotiso zu kämpfen. Fast alle der in dieser Schlacht Gefallenen konnten so ersetzt werden.
Trotzdem war er nicht wirklich zufrieden.
"Die letzte Truppenzählung hat elfhundertneunundsiebzig Mann ergeben." sagte er zu Themastokles, sein ruheloses Auf- und Abgehen im Raum kurz unterbrechend. "Die Hälfte davon sind Neulinge. Zwar haben sie ihre ersten Erfahrungen gewonnen, doch reichen sie an Wert bei weitem nicht an unsere Veteranen aus der Heimat heran."
Der Angesprochene saß an der großen Tafel nahe am Kamin, über seine Schreibutensilien gebeugt. Das Feuer loderte rechts von ihm, damit er es als Lichtquelle nutzen konnte. Denn draußen war es schon wieder dunkel, wie so oft, wenn Cotiso nach seiner Gesellschaft verlangte. Besser: wenn er Zeit für den Griechen hatte. Tagsüber war er ständig unterwegs. Er überwachte seine Soldaten, damit deren Müßiggang nicht überhand nahm, sorgte für den entsprechenden Drill und organisierte große Zusammenkünfte im Stadtzentrum, wo die Erfahrenen den Neuen Geschichten erzählten und so theoretischen Unterricht erteilten. Ansonsten ritt er viel aus, prägte sich jeden Fels und jeden Baum im Umkreis etlicher Kilometer ein und hatte- so denn noch Zeit übrig blieb- auch das Badehaus sehr zu schätzen gewonnen. Für Berichte und Märchenstunden aus weit entfernten Teilen der Welt blieb also nur abends Gelegenheit.
"Das heißt?" fragte Themastokles nach und hob dabei interessiert den Kopf. Manchmal fragte er sich, warum Cotiso eigentlich ihm gegenüber theoretische Überlegungen anstellte, denn in militärischen Belangen war er ja nun wirklich der denkbar schlechteste Ansprechpartner! Wollte er ihm tatsächlich das Kriegführen nahebringen? Oder brauchte er nur ab und zu ein Echo, damit er nicht das Gefühl hatte, laute Selbstgespräche zu führen? Vermutlich traf beides zu.
"Das heißt, unsere Situation hat sich nicht maßgeblich verbessert."
"Aber haben Banat, Markos und all die anderen nicht recht, wenn sie sagen, daß auch Dein Gegner nicht unendlich viele Truppen schicken kann?"
"Sicher haben sie das. Doch was wissen wir schon von den Thrakern? Oder anders gefragt: Wie richtig ist das, was wir einst zu wissen glaubten, heute noch? Am Anfang dieses Krieges sahen wir in ihnen einen ebenbürtigen Gegner, einen, der an Land und Bevölkerung gleichauf mit uns ist."
"Aber?"
"Aber das erscheint mir immer schwerer vorstellbar. Jeden Tag erwarte ich neue Meldungen über ein weiteres Heer, das auf dem Weg hierher ist."
"Vielleicht wartest Du vergebens?"
"Nein. Ich weiß, daß es es so ist."
"Woher?"
"Ein Gefühl. Eine innere Stimme."
"Oh." machte Themastokles, und Cotiso brachte ein flüchtiges Lächeln zustande.
"Und ich frage mich, woher all diese Krieger kommen mögen?"
"Was glaubst Du?"
"Die Thraker haben makedonische Truppen in ihren Reihen. Eliteschwertkämpfer. Üble Gesellen. Sie haben uns hohe Verluste beschert. Solche Männer kämpfen nicht als Söldner! Nicht für jeden! Die Makedonen unterstützen die Thraker! Anders kann ich mir keinen Reim darauf machen."
"Hm," Themastokles strich sich nachdenklich mit seiner Feder über die Stirn. "Als ich aus Alexandria aufbrach, waren sie verfeindet. Das weiß ich mit Sicherheit, weil mir andere Händler davon abgeraten haben, nach Griechenland zu segeln. Viele berichteten von Überfällen auf ihre Schiffe. Von beiden Seiten, wohlbemerkt! Makedonen und Thraker versuchten, mit unserer Ladung ihren Krieg gegeneinander zu finanzieren."
"Makedonen greifen griechische Schiffe aus Alexandria an?"
"Warum nicht? Wenn es keine Überlebenden gibt, die davon berichten können?" Er wunderte sich selbst, wie leicht ihm das über die Lippen kam. Wirklich gründlich hatte er noch nie darüber nachgedacht, aber jetzt mußte er sogar grinsen: "Du siehst, auch Hänflinge wie ich leben gefährlich."
"Anscheinend."
"Außerdem ist es doch so, daß das Reich der Ptolemäer sich als unabhängig betrachtet. Sowohl vom griechischen Städtebund als auch von Makedonien. Die Schiffe, die von dort kommen, werden somit nicht als griechische gesehen. Der Tod Alexanders hat die Welt ins Chaos gestürzt. Statt gemeinsam zu erhalten, was er geschaffen hat, strebt ein jeder nach noch größerem. Ich glaube nicht, daß es jemals etwas größeres geben wird."
Cotiso schürzte die Lippen, betrachtete Themastokles eine Weile nachdenklich und ging dann zu seinem Fensterplatz, um in die Nacht hinauszuschauen. Schließlich fragte er von dort aus: "Letztlich hast Du alle Warnungen in den Wind geschlagen. Du sagstest einmal, Du warst unterwegs, um an der Küste der Thraker Profit zu machen? Was wußtest Du über Thrakien, als Du aufbrachst? Was hast Du neues erfahren auf Deiner Reise?"
Themastokles mußte nicht lange nachdenken. Da gab es wirklich etwas, was neu für ihn war. "Nun..., eine Tagesreise nördlich von Kreta brachte uns ungüstiges Wetter vom Kurs ab. Wir gerieten nahe an Kleinasiens Küste und suchten schließlich Schutz in einer Bucht. Als sich der Sturm gelegt hatte, segelten wir westwärts an der Küste entlang. Wir waren soweit abgetrieben worden, daß wir noch an Halikarnassus vorbeikamen, der Hauptstadt Lycias. Dort befindet sich die Grabstätte von Mausolos, einst der Satrap von Karien. Wenn Du mich fragst, eines der beeindruckendsten Gebäude der bekannten Welt! Man muß es gesehen haben! Die gewaltigen Ausmaße! Säulen wie tausendjährige Bäume! Verzierungen aus purem Gold! ..."
Cotiso machte ungeduldig kreisende Handbewegungen, bevor Themastokles noch weiter ins Schwärmen geraten konnte.
"Die Metropole selbst liegt einige Tagesreisen im Landesinneren; der Hafen, den man ihr zurechnet, ist selbst schon eine kleine Stadt! Wir legten dort an, um unsere Vorräte zu ergänzen und einige Schäden am Schiff beheben zu lassen. Dabei erfuhren wir recht schnell, daß die Herrschaft über die Stadt gewechselt hatte. Augenscheinlich hatte sich nichts verändert; ich war als Knabe schon einmal dort. Ein buntes Völkergemisch ging in den Warenhäusern ein und aus, Zwischenhändler feilschten mit den Schiffsführern um die besten Preise, Karawanen und Segler tauschten ihre Frachten. Das einzige, was man bemerken konnte, war, daß es statt pontischer nun thrakische Stadtwachen gab...."
Cotiso hob nun abrupt die Hand, mit der er zuvor noch gewedelt hatte. "Könntest Du den letzten Satz wiederholen?"
Diese Unterbrechung verwirrte Themastokles so sehr, daß er nicht gleich antworten konnte. Cotiso kam auf ihn zu, zog den nebenstehenden Stuhl zurück und ließ sich darauf nieder. Dann beugte er sich so weit herüber, daß sich fast ihre Gesichter berührten. Verschwörerisch leise wiederholte er seine Frage, die zugleich Aufforderung war, in etwas präziserer Form, so daß Themastokles nur noch 'ja' oder 'nein' antworten brauchte. "Willst Du- um Deine Rede auf den Punkt zu bringen- sagen, daß die Thraker Land jenseits der Meerenge besitzen?"
"Ja." kam es tonlos zurück.
Cotiso ließ sich aufseufzend in die Lehne zurückfallen. "Warum hast Du das nicht schon früher gesagt?"
"Du hast nie gefragt! Wie hätte ich ahnen sollen, daß das etwas neues für dich ist?"
"Du wirst lachen! Es ist tatsächlich etwas neues! Es ist genau das, was ich meinte! Als wir auf Getae marschierten, hatten wir noch keine Ahnung davon! Wir kamen, um Zugang zum Meer zu erlangen und einen Keil in ihr Reich zu treiben! Nördlich von hier liegt Scythien, das nun vom Rest getrennt ist. Könnten wir uns hier festsetzen, haben wir gedacht, wären wir in der Lage, alle Truppen abzufangen, die sie von dort nach Süden schicken wollten oder umgekehrt. Aber was macht das jetzt noch für einen Sinn? Wir verausgaben uns hier, während die Thraker anderswo an Stärke gewinnen! Verstehst Du das?"
"Schon, aber..."
"Aber was?"
"Wenn sie anderswo stärker werden, ist das doch erst recht ein Grund, in Getae auszuharren, die Eroberung nicht wieder preiszugeben! Oder habe ich da einen Denkfehler?"
Cotiso schmunzelte. "Du versuchst dich in strategischem Denken? Gut. Prinzipiell hast Du recht. Aber es muß nicht immer so sein. Der Wert der Eroberung spielt dabei die größte Rolle. Du siehst ja, was aus dieser Stadt geworden ist. Die Einwohner sind geflohen und kehren nur langsam zurück. Die Öfen in den Schmieden brennen nicht. Kaum ein Händler verirrt sich noch hierher. Wir verlieren hier viele Krieger und können sie nicht ersetzen. So kostet uns Getae mehr als es uns Gewinne bringt. Wer will die Knochenarbeit in den Minen verrichten, wenn Rebellen regelmäßig die Ausbeute rauben und wir nicht ausrücken können, sie zu verjagen?"
Themastokles nickte verstehend. Selbst Sklaven in den Minen würden unter solchen Umständen nur Kosten verursachen.
Cotiso strich sich ein paarmal mit der Hand über den Bart, bevor er fragte, wo dieses Grab des Mausolos liegen würde. "Wie weit ist es von hier bis dorthin?"
"Warte einen Moment!"
Themastokles legte die Schreibfeder beiseite und kramte in dem Stoß Aufzeichnungen, den er am Rand des Tisches liegen hatte. Als er nicht fand, was er suchte, beugte er sich zu der Tasche herab, die neben seinem Stuhl stand. Aus ihr förderte er sechs größere Lederrollen zutage, die von bestickten Banderolen zusammengehalten wurden. Er las sämtliche Aufschriften, streifte schließlich eine ab und entrollte eine quadratische Karte vor ihnen, die eine Seitenlänge von etwa einer Elle hatte.
"Das sind die Kolonien des Griechischen Städtebundes," erklärte er, "ungefähr fünfzig Jahre nach Alexanders Tod."


http://img255.imageshack.us/img255/7132/dakeraarkarteyp3.jpg (http://imageshack.us)


Da die Karte griechisch beschriftet und Cotiso dessen nicht mächtig war, tippte er mit dem Finger auf jeden aufgezählten Namen. "Attika, die Peleponnis, Lakonien, Illyrien, die Inseln Kreta und Rhodos, weit im Norden die Halbinsel Bosphorus. Auf halbem Wege zum nicht mehr zu sehenden Hispania liegt die Stadt Massilia, an den Ausläufern der Alpen, ebenfalls nicht mehr eingetragen. Die Kolonie auf Sizilien gehört heute zu Karthago. Es heißt, sie hätte für eintausend Talente den Besitzer gewechselt!"
Cotiso lachte leise. "Geld? Oder talentierte Krieger?"
"Ich weiß es nicht, könnte mir aber beides vorstellen. Hier..." Themastokles nahm seine Feder wieder zur Hand und machte eine neue Eintragung. "Da liegt die Provinz Lycia, die einstmals zum pontischen Großreich gehörte und nun thrakisch ist."
"So entlegen? Wie sollen sie dahin gekommen sein?"
"Auf dem Seeweg braucht man keine drei Wochen."
"Ich glaube nicht, daß die Thraker über große Flotten verfügen. Dafür werden sie nicht gerade gerühmt und sie sind eh viel zu wasserscheu. Sie müssen über Land dorthin gekommen sein. Aber das würde keinen Sinn machen, so weit zu marschieren! Um was zu erobern? Ein Grabmal?"
"Halikarnassos ist eine große und sehr reiche Stadt. Auch wegen des Grabmals."
"Trotzdem, das ist ein weiter Weg. Das wäre viel zu riskant. Nein, es muß alles noch viel schlimmer sein als befürchtet."
"Was meinst Du?"
"Zu wem gehört der Rest dieser Landmasse?" Cotisos Fingerzeig umfaßte die ganze Region rechts des Bosporus.
"Kann ich dir nicht zweifelsfrei sagen. Lydia ist auf jeden Fall noch griechisch. Dort legten wir auch noch eine Zwischenstation ein. Den Rest des Weges durch das attische Meer und die Meerenge segelten wir, ohne noch einmal anzulegen. Laß mich noch ein paar Eintragungen machen...!"

http://img255.imageshack.us/img255/7665/dakeraarkarte2ow0.jpg (http://imageshack.us)


"Was die genauen Grenzverläufe angeht, kann ich mich nicht festlegen, aber die Regionen kenne ich dem Namen nach. Phrygia, Mysia, Bithynien und nahezu alles östlich davon war mir bis dato als pontisches Gebiet bekannt."
"Daran kannst Du sehen, wie schnell sich Reiche verändern. Zu Zeiten Deines Urahnen dürften die Kartenzeichner auch oft geflucht haben. Wenn ich mir das so anschaue, gehe ich davon aus, daß auch Mysia und wenigstens noch die angrenzende Provinz zu Thrakien gehören. Das würde einen relativ sicheren Nachschubweg für sie bedeuten. Und das macht sie auf einen Schlag doppelt so gefährlich wie wir dachten."
"Erst recht, falls sie doch den Seeweg nutzen, um Armeen zu verlegen?"
Cotiso nickte. "Dann erst recht."
Nach dieser Erörterung schwiegen sie.
Themastokles fühlte eine Welle von Stolz durch sich hindurchfluten, weil er etwas zu Cotisos künftigen Planungen beigetragen hatte. Auch wenn er es ihm regelrecht aus der Nase ziehen mußte. Gleichzeitig mischte sich jedoch auch etwas Sorge in seine Euphorie, denn selbst einem Laien genügte ein Blick auf die Karte, um ein großes Ungleichgewicht zu erkennen. Scythien, Getae, Thrakien, Pallena und die Propontis entsprachen seiner Vorstellung des thrakischen Reiches, als er Alexandria verlassen hatte. Die andere Hälfte der Halbinsel gehörte 'damals' den Makedonen, der Süden dem Städtebund. Kleinere Verschiebungen waren nicht ungewöhnlich, aber daß Thrakien einen Krieg gegen Pontus beginnen und sich so erfolgreich schlagen würde, hätte er nicht erwartet. Na, er sowieso nicht! Normalerweise hätte es ihn auch gar nicht weiter interessiert. Ihm konnte es ja egal sein, wer wo für seine Waren zahlte. Nur diese Seeräuber im Schwarzmeer waren schuld daran, daß er sich nun doch damit befaßte! Oder sollte er ihnen lieber dankbar dafür sein? Im Grunde war er es, da konnte er sich schlecht etwas vormachen. Der dakische Feldherr übte eine ungeheure Faszination auf ihn aus. Und er war froh, hier zu sein.
"Der Winter naht." sagte Cotiso plötzlich, und Themastokles fragte sich, ob er damit alles beiseite wischen wollte, um zur Abwechslung wieder einmal seine poetische Ader anzuzapfen. Dann schlug er aber doch noch die Brücke zum vorherigen Thema. "Ich denke, für die nächsten Monate werden wir vor Angriffen sicher sein. Es ist zu mühsam, im Winter Schlachten zu schlagen. Trotzdem gewinnen wir dadurch nichts, wenn es uns nicht gelingt, Verstärkung heranzuführen."
"Deine Boten?"
"Sind wohl alle tot. Oder in Gefangenschaft. Wir hätten längst etwas hören müssen. Eine Zusage. Eine Absage. Was auch immer. Selbst die Truppen könnten schon hier sein, hätten die Boten ihr Ziel erreicht."
"Also mußt Du noch einmal welche entsenden."
"Krieger kann ich nicht entbehren. Die verbliebenen Gefolgsleute brauche ich als Späher, denn auch dafür will ich keine Soldaten riskieren."
"Du kannst es mit mir versuchen."
Das rutschte Themastokles einfach so heraus. Aber er bereute es nicht, so sehr sein wild loshämmerndes Herz auch versuchte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
Cotiso runzelte die Stirn und neigte zweifelnd den Kopf.
"Ich wüßte einiges, was dafür spricht." setzte Themastokles nach.
"Ich höre."
"Erstens: Ich bin Grieche. War einer Deiner anderen Boten ein Grieche?"
"Nein. Aber was hat das schon zu sagen?"
"Viel. Denn ich bin hier heimisch. Zumindest theoretisch. Ich kenne das Land aus Berichten und Erzählungen wie mein eigenes, kann mich mit allen verständigen, die mir begegnen. Desweiteren bin ich ein potentieller Feind der Daker, geratet ihr doch des öfteren in Konflikte mit den Makedonen, die wiederum meine nächsten Verwandten sind. Wer sollte in mir einen Boten des Gegners vermuten?"
Cotiso sagte nichts dazu, wartete auf die Fortsetzung.
"Zweitens kann ich im Notfall auf einflußreiche Kontakte verweisen. Ich kenne hohe Beamte im gesamten Städtebund: Handelsberater, Hafenvorsteher, Statthalter. Ich bin sogar so frei zu behaupten, daß viele von ihnen ein hübsches Lösegeld zahlen würden, sollte ich von irgendwem als Geisel genommen werden. Natürlich müßte ich es ihnen zurückzahlen, aber sie wissen ja nicht, daß mir das im Moment einige Probleme bereitet."
"Interessant. Dann könnte ich dich ja doch noch verkaufen?"
Themastokles grinste pflichtschuldig, ließ sich aber nicht weiter beirren. "Drittens bin ich allein schon wegen meines Gewerbes absolut unverdächtig. Es ist normal, daß jemand wie ich weit herumkommt. Ich habe es nicht nötig, verstohlen durch die Wälder zu schleichen und mich ständig nach Verfolgern umzuschauen."
"Sondern?"
"Du gibst mir stattdessen einen Teil meines früheren Besitzes zurück, den zuerst diese Piraten und dann Deine Männer eingesackt haben. Damit kann ich mich an Bord eines Handelsschiffes begeben und ganz unauffällig nach Süden segeln. Bis in die Propontis. Oder nach Thessalien. Vielleicht auch ganz um die Halbinsel herum und auf der anderen Seite wieder hinauf, bis Illyrien. Wie auch immer. Als Händler geradewegs durch thrakisches, makedonisches oder griechisches Hinterland sollte auch kein Problem sein. Der Landweg ist sogar sicherer, denn dort gibt es befestigte Straßen, viele Rasthäuser und bewaffnete Eskorten. Wenn man dafür zahlen kann."
Eine Minute, eine sich endlos hinziehende Minute, blieb es still. Dann lachte Cotiso lauthals los. Er lachte, bis er kaum noch Luft bekam und sein Gesicht die Farbe einer Tomate annahm.
Themastokles wußte lange Zeit nicht, was er davon halten sollte. Fast fühlte er sich gekränkt.
"Der Plan ist gut." gab Cotiso schließlich zu, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. Aber die Freude über das Zugeständnis wurde von den nächsten Worten gleich wieder zunichte gemacht. "Hättest Du ihn in Anwesenheit meiner Männer vorgetragen, wäre das mutig gewesen. Da wir allein sind, ist es nur... frech."
"Frech?" Nun verstand Themastokles die Welt nicht mehr.
"Ja. Frech. Oder unverschämt. Such dir etwas aus! Du willst, daß ich meinen Leuten ihre Beute streitig mache? Selbst wenn es nur ein Bruchteil dessen ist, was sie in Getae zusammentrugen, sie würden sich nur ungern davon trennen. Und sie werden sich fragen, wie jemand, der ihnen sein Leben- oder wenigstens seine Freiheit- verdankt, so eine Forderung stellen kann?"
"Es ist keine Forderung!" protestierte Themastokles, "Es ist eine Notwendigkeit, damit der Plan funktionieren kann!"
"Und selbst wenn! Dann bleibt es ein großes Risiko."
Wie war das nun wieder gemeint? Hatte er nicht klar genug gemacht, daß es eben kein Risiko dabei gab? Er war wütend und enttäuscht, und dadurch, daß ihm eine innere Stimme vorwarf, er hätte so einen dummen Vorschlag eben nicht machen sollen, fühlte er sich auch nicht besser.
"Geh! Laß mich allein! Ich muß darüber nachdenken."
Diese Rückzugserlaubnis kam Themastokles gerade recht. Seine Stimmung war jetzt sowieso auf einem Tiefpunkt. Er raffte mürrisch seine Sachen zusammen und ging zur Tür. Gerade als er hinaustreten wollte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Das Risiko bestand darin, daß er nach dem Rückerlangen seines Vermögens in keinster Weise mehr von den Dakern oder von Cotisos Gunst abhängig wäre. Der behauptete zwar, er wäre ein freier Mann und könne gehen, wohin er wollte, aber so richtig stimmte das nicht. Wohin sollte er denn, ohne eine Münze in der Tasche? Frei und mittellos würde er nicht weit kommen. Dafür hatte er nicht die richtigen Talente. In der Wildnis würde er kaum überleben. Er könnte vielleicht versuchen, einem Karawanenmeister ein Ohr abzuschwatzen, damit der ihn an ein bestimmtes Ziel mitnehme. Aber wer wußte schon, ob er dabei nicht an den falschen geriet und letztlich doch noch auf einem Sklavenmarkt endete? Ja, er war gut mit Worten, aber unschlagbar wurde er erst, wenn er nebenbei mit Münzen klimpern konnte.
Der zweite Punkt, der noch bedeutend schwerer wog, war die Vertrauensfrage. Seit Monaten reiste er nun mit einem dakischen Heer, hatte mehreren Schlachten beigewohnt, kannte seine Stärken und seine Nöte. Die Informationen, die er preisgeben konnte, wären den richtigen Leuten viel Geld wert. Zerknirscht mußte er einsehen, daß es gerade deshalb nicht sonderlich klug war, nach finanzieller Unterstützung zu fragen. Cotiso brachte ihm ein gewisses Maß an Vertrauen entgegen- kein Zweifel-, aber sollten seine Worte jetzt den Eindruck von Habgier erweckt haben, wäre es unter Umständen schon wieder verspielt!
Irgend etwas mußte er noch sagen, bevor er hinausging!
"Ich bin mir meiner Schulden bei euch- und insbesondere bei dir- bewußt. Und mein Ehrgefühl sagt mir, dies wäre eine gute Gelegenheit, sie zu begleichen."
Cotiso nahm die Aussage mit einem Nicken zur Kenntnis und wandte sich dann dem Kaminfeuer zu.
Themastokles schloß die Tür hinter sich.

Gegen Mittag des nächsten Tages saß er für sich allein in den Hügeln nordwestlich der Stadt.
Es war der schönste Herbsttag seit langem. Über das tiefblaue Himmelsmeer segelten große, weiße Schiffe mit grauen Kielen. Die Sonne versuchte sich an einem letzten Kraftakt. Es war so warm, daß sich die Steinformation, die ihm als Sitzplatz diente, spürbar aufgeheizt hatte. Sogar eine Eidechse hatte sich noch einmal aus ihrem Versteck hervorgewagt, um einen letzten Eindruck des vergangenen Sommers mit in die Winterruhe zu nehmen.
Themastokles saß mit dem Rücken zur Stadt und beobachtete das Treiben in den Talmulden. Über die angewinkelten Knie hatte er ein kleines Holzbrett gelegt, das ihm als Unterlage für Pergamente diente. Mit Feder und Tinte versuchte er, in flüchtigen Skizzen festzuhalten, was er sah.
Die Reiterei der Daker ging dort unten ihren täglichen Übungen nach. Die grundlegenden Themen hatten sie durch; das Wechseln von Formationen selbst bei vollem Tempo ging schon recht tadellos vonstatten. Jetzt führten sie schon Scheingefechte gegeneinander. Wie Ameisen fluteten soeben Reiter über die Hügelkuppen, um im Tal eine langgestreckte Marschkolonne zu attackieren. Das Klappern ihrer Holzwaffen hallte bis zu ihm herauf. Ebenso vereinzelte, sehr echt klingende Schmerzensschreie, wenn jemand etwas zu hart zugeschlagen hatte.
Während er sich so beschäftigte, verging die Zeit wie im Flug. Umso enttäuschter war er, als er nach zwei, drei Stunden seine Zeichnungen durchsah, nur um festzustellen, daß sie ihm überhaupt nicht gefielen. Lebende Motive waren offensichtlich nicht seine Stärke. Vor allem seine Pferde sahen mehr wie grausige Bestien aus der Unterwelt aus. Er würde noch viel üben müssen. Aber heute nicht mehr. Für heute gab er es auf. Seufzend zerknüllte er sämtliche Pergamente und warf sie in in ein kleines Feuer, das er extra zu diesem Zweck entzündete. Dann drehte er sich herum, um sich doch lieber der Stadt zu widmen. Gerade Linien und klare Formen, die sich nicht ständig veränderten, ließen sich bedeutend leichter zu Papier bringen- und das, ohne gleich anspruchslos zu erscheinen.
Ein einzelner Reiter näherte sich.
Themastokles fing ihn auf seinem Bild mit ein, solange er noch ein einfacher Strich war: mit vier angedeuteten Beinen und einem wehenden Schweif. Ringsherum noch eine kleine Staubwolke, und jeder Betrachter würde wissen, was es sein sollte.
Die Silhouetten der hintersten Gebäude waren fertig, als sich Mensch und Tier erstmals voneinander unterscheiden ließen. Immer mehr Dächer kamen hinzu, eines vor dem anderen und mit dem Reiter immer größer werdend, versehen mit immer feineren Details. Fenster, Ziegel, Säulen. Nachdem auch das Stadtzentrum mit seinen imposanten Prachtbauten empor wuchs, erkannte er, daß der Reiter Cotiso war.
Am Fuß des Hügels angekommen, verlangsamte jener das Tempo und ließ sein Tier gemächlich hinaufsteigen. Das dauerte eine Weile, weil sich das Pferd den bequemsten Weg suchte und dabei Felsen und Dornenhecken weiträumig auswich. Als Cotiso sich neben Themastokles auf den Felsen hockte, war die Stadt auf dem Pergament in groben Strichen fertig. Es fehlten bloß noch die letzten Detailarbeiten, wie Schatten und Bäume. Und vielleicht ein paar Wolken. Und später, wenn er die Muße dazu hatte, würde er alles noch einmal farbig darstellen. Das war er dem Herbst schließlich schuldig.
"Weit hinter den Hügeln und Bergen da," fing Cotiso ohne Einleitung an, nachdem er das Bild eine Weile betrachtet hatte, "hat ein Heer der Thraker sein Winterlager aufgeschlagen." Er deutete mit dem Finger darauf, ohne das Papier zu berühren. Danach zeigte er an Themastokles' Gesicht vorbei gen Osten. "Von dort, aus den tiefen Wäldern, kommt ein weiteres."
Themastokles wartete einen Moment, ob Cotiso von selbst weiterreden würde. Da er das nicht tat, fragte er vorsichtig, ob es viele seien.
"Das Heer im Osten ist uns ebenbürtig und sehr nahe, keine Woche mehr entfernt. Es hat sich im Schutz der Wälder herangeschlichen, ohne daß wir es bemerkten! Ein mir unbekannter Hauptmann führt es an. Ich denke, er wird nicht auf die anderen Truppen warten und noch vor dem ersten Schnee angreifen. Vor unserer wohlverdienten Winterruhe steht uns also noch eine Schlacht bevor. Sorgen mache ich mir darum keine. Ihn können wir besiegen. Aber die Armee im Süden...?"
Cotiso sprach den Satz nicht zu Ende. Er beugte sich nur etwas nach vorne, stützte sich mit den Unterarmen auf den Schenkeln ab und ließ die Fingerknochen knacken. Wieder wartete er darauf, daß Themastokles nachhakte.
"Was hast Du also vor?"
"Ich habe beschlossen, auf Deinen Plan zurückzugreifen. Es ist alles vorbereitet. Ein Schiffsführer erwartet dich bereits in Deinem Haus."
"In meinem Haus?"
"Es ist genau dieses hier, nicht weit vom Stadtzentrum." Cotiso nahm ein weiteres Mal die Zeichnung zu Hilfe und deutete auf ein ganz bestimmtes Gebäude. "Der Herr ist ganz erpicht darauf, noch einen zahlungskräftigen Reisenden mitzunehmen. Die Waren, die Du im Keller des Hauses findest, gehören dir. Ebenso das Geld..."
"Ich leihe es nur!" verbesserte Themastokles sogleich. Es war nicht zu überhören, daß er die aufkeimende Euphorie nur schwer unter Kontrolle behalten konnte.
"Wie Du meinst. Die Sklaven, die dem Mann gerade das Warten erleichtern, sind auf jeden Fall nur geliehen! Es sind zwei meiner Gefolgsleute, die diese Rolle für eine möglichst kurze Zeit übernommen haben."
Sie grinsten sich beide an, bevor Cotiso fortfuhr: "Du bist, wer Du bist. Themastokles, ein Händler aus Alexandria. Ansonsten weiß Dein Gast noch nichts von dir. Was Du ihm erzählst, bleibt also dir überlassen. Er sieht aber gerade, daß Du offensichtlich gut bestückt bist und wird sich sicher überzeugen lassen, seine geplante Reiseroute zu überdenken. Dein Auftrag lautet, so schnell als möglich nach Campus Lazyges zu reisen. Dort residiert mein Vater. Ihm- und nur ihm- wirst Du eine Botschaft überbringen!"
Themastokles nickte zum Zeichen, daß er alles verstanden hatte.
"Bist Du bereit, die Botschaft zu hören?"
"Moment... Ja... Ich höre."

"Die Zeichnung war nach hinten verschwunden und ein neues Pergament wartete darauf, von meiner Feder beschrieben zu werden."
Themastokles legt eine letzte Kunstpause ein.
Mit leicht zur Seite gestreckten Händen dreht er sich einmal im Kreis, ganz langsam, ohne sich von der Stelle zu rühren. Dabei betrachtet er die vielen Gesichter, versucht, kein einziges auszulassen. Und obwohl das seine Zeit braucht, ist kein einziger Zwischenruf zu hören.
Die Daker warten. Angespannt, aber geduldig.
"Geliebter Vater!" setzt Themastokles wieder an, und schon eine kleine Erhebung seiner Stimme reicht aus, um sie wie Donner durch den Saal hallen zu lassen.

"Ich, Cotiso, Dein zweitältester Sohn, entbiete dir meinen Gruß und ersuche um Deine Hilfe. Wisse, daß unser Feldzug erfolgreich war und doch gescheitert ist! Schlacht um Schlacht haben wir geschlagen und immer waren wir siegreich! Auf jeden unserer Toten kommen fünf des Gegners! Auch Campus Getae ist gefallen. Doch wie ich nun weiß, war unser Schwert nicht scharf genug, um den Thrakern eine ernsthafte Verletzung zuzufügen. Vielmehr ist die Waffe abgeglitten und uns ins eigene Fleisch gedrungen, während der Feind mit einem Kratzer davongekommen ist! Nun plagen wir uns mit einer Wunde, die sich kaum stillen läßt! Tropfen um Tropfen verrinnt und wir werden schwächer mit jedem Tag! Ich werde mit meinen verbliebenen Männern ausharren, solange ich kann. Doch wenn wir nicht bald Verstärkung bekommen, sind wir verloren und alle Opfer waren vergebens."
Cotiso sprach ohne Hast, aber fließend. Er hatte sich seinen Text bis dahin gut überlegt, und Themastokles hatte Mühe, mit dem Schreiben nachzukommen. Er schaffte es dennoch, ohne um Wiederholungen bitten zu müssen und als er fertig war, überflog er alles noch einmal und fing gleichzeitig an, die Tinte trockenzupusten.
"Warte! Füge noch etwas hinzu!"
Themastokles hielt überrascht inne und griff erneut zur Feder. Fragend schaute er Cotiso von der Seite an und beobachtete, wie die düstere Umwölkung von seinem Gesicht verschwand. Huschte da sogar ein Lächeln über sein Gesicht? Spätestens nach den abschließenden Worten war sich Themastokles ziemlich sicher. Er wußte zunächst nicht, ob er sie überhaupt ernst nehmen sollte und setzte die Feder mehrmals zweifelnd ab.
"Schreib es auf!" beharrte Cotiso. Also brachte er es schulterzuckend zu Papier.
"Ich habe schon mehrere Boten zu dir entsandt, doch keiner scheint sein Ziel erreicht zu haben. Vielleicht ist dieser Mann der letzte, den ich zu dir schicken kann. Daran, daß er ein Grieche ist, magst Du erkennen, wie verzweifelt wir in unserer Lage sind."
Ein Funken Humor in einer eigentlich todernsten Botschaft. Themastokles kam nicht umhin, Cotiso dafür zu bewundern, wenn er sich auch über die indirekte Herabstufung ärgerte.
Auf Aufforderung las er den Text noch einmal vor. Abschließend nickte Cotiso, wie um seinen Segen zu erteilen. "Gut. So sagst Du es."
"Das werde ich." versprach Themastokles, zerknüllte das Pergament und warf es ins Feuer. Cotisos Verblüffung über die Tat nahm er mit großer Genugtuung zur Kenntnis.
"Keine Sorge," beruhigte er ihn, "ich weiß den Text. Ich habe ihn geschrieben. Ich habe ihn gelesen. Nun ist er hier drin." Er tippte sich an die Stirn. "Da ist er am besten aufgehoben und kann nicht in die falschen Hände geraten."
Cotiso gab eine Art anerkennendes Brummen von sich.
Nachdem sie noch eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten, sagte er: "Unser Schicksal liegt nun in Deiner Hand. Es gibt keine größere Macht als diese."
Damit ist Themastokles am Ende seiner Rede angelangt. Als letzte demonstrative Geste legt er die Handflächen nahe vor den Mund und bläst das Schicksal in den Raum hinein. Viele Männer folgen mit ihren Blicken dem unsichtbaren Hauch, als wäre er für sie wirklich greifbar.
"Mein Teil ist erfüllt. Hiermit übergebe ich es euch. Ihr wart gute Zuhörer. Habt Dank."
Er verneigt sich leicht vor den Versammelten, dreht sich dann um und tut dasselbe noch einmal vor Vezina. Mit Applaus rechnet er nicht; vermutlich wissen die Daker nicht einmal, was das ist. Unter anderen Umständen, an zivilisierteren Orten, würde er sich vielleicht ärgern über den Mangel an Reaktionen, aber diesmal ist er hauptsächlich erleichtert. Er hat seinen Auftrag endgültig erfüllt und er glaubt, seine Sache gut gemacht zu haben. So viel Selbstbewußtein hat er.
Vezina sieht das auch so. Er nickt ihm wohlwollend zu und sorgt schließlich doch noch für die verdiente Anerkennung. Jedem Zweifler zuvorkommend- und seiner Handlung nach zu urteilen, vermutet er die Zweifler in seiner direkten Verwandtschaft-, erhebt er sich aus seinem Thron und fragt durch lautes Rufen: "Was ist eure Antwort?"
Eine Frage, die an die Masse der Versammelten gerichtet ist. Und eine, auf die sie wohl nur gewartet haben. Die ersten "Cotiso!"- Rufe kommen vereinzelt aus verschiedenen Richtungen, zu verschiedenen Zeiten. Jedoch stimmen schnell immer mehr Männer ein. Bald fängt der erste an, mit dem Fuß aufzustampfen, um einen Takt vorzugeben, dem alle folgen können.
Schließlich bebt der Boden unter hunderten Füßen.
Die Balken zittern unter dem Gebrüll hunderter Kehlen.
Themastokles geht diese Begeisterung durch Mark und Bein. Er ist glücklich.
Vezina ist glücklich.
Nur zwei oder drei der Hochrangigen an der Tafel sehen unzufrieden aus. Ja, sogar verärgert darüber, daß man sie einfach so übergangen hat. Doch sie sehen ein, daß Proteste schon keinen Sinn mehr haben und beschränken sich darauf, Themastokles böse Blicke zuzuwerfen.


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Themastokles - der Erfinder der Postkarte?

hohe_Berge
06.11.06, 22:43
Super.

Glück Auf

N.e.m.o
07.11.06, 11:56
Ich bin begeistert. Und die Karten sind klasse.

Robert Guisgard
11.11.06, 20:51
Intermezzo oder: Was bisher geschah

In einer Sache kam Vezina dem Rat entgegen: er ließ Themastokles in den Palast zurückbringen, bevor über die Details von Cotisos Unterstützung beraten wurde. So erfuhr er nicht, wieviele Männer die Daker aufstellen wollten, wann sie aufbrechen und welchen Weg sie nehmen würden. Ihm wurde auch die Erlaubnis verwehrt, mit diesen Truppen zu Cotiso zurückzukehren. Stattdessen wollte Vezina, daß er noch eine geraume Zeit in Campus Lazyges blieb, als Gast in seinem Hause.
"Du hast mir einen großen Dienst erwiesen, mir und meinem Volk." sagte er, als sie am Tag nach der Versammlung zusammenkamen, "Deshalb vermag ich nicht länger, dir zu befehlen. Ich bitte dich um Dein Verständnis, daß es das beste ist, wenn Du noch eine Weile hier bleibst. Es wäre auch zu Deiner eigenen Sicherheit."
Wie hätte er der Bitte eines Königs widersprechen können? Ganz davon abgesehen, daß es solch eine Option wohl ohnehin nicht gab! Denn wenn er genauer darüber nachdachte, so stand eine Bitte letztlich noch über einem Befehl. Vezina schien sich immer im klaren darüber zu sein, wie er etwas sagen mußte, um sein Ziel zu erreichen.
Themastokles stimmte zu, aber nicht ohne sich die Bedeutung des letzten Satzes genauer erklären zu lassen. Er würde sicher bemerkt haben, meinte Vezina dazu, daß ein Teil des hochrangigen Adels nicht mit dem Ergebnis der Versammlung einverstanden war. Und dieses Ergebnis wäre mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht zustande gekommen, hätte er mit seiner Erzählung nicht auf so überragende Weise dafür eingestanden. So sehr er sich nun von den einfachen Männern feiern ließ, so sehr sollte er auf der Hut vor jenen sein, deren Pläne er zunichte gemacht hatte. Um weitere Einmischungen und Einflußnahmen seinerseits zu vereiteln, würden sie sicher auch zu drastischen Maßnahmen greifen. Eine vage Umschreibung, die wohl keiner näheren Erläuterung bedurfte. Solange er Gast des Königs blieb, wäre er jedoch relativ sicher, behauptete Vezina.
"Es fällt mir schwer, zu glauben, daß jemand nach einer ersten Begegnung solche Abneigung gegen mich hegt."
"Unterschätze sie nicht! Meine Brüder sind des Kämpfens müde. Nun ist der Frieden, nach dem sie sich so sehr sehnen, ein Stück weiter in die Ferne gerückt. Und das ist aus ihrer Sicht allein Deine Schuld."
"Du meinst, wenn sie mich beseitigen würden...?" Themastokles kann den Satz nicht zu Ende sprechen. Im Moment ist er noch damit überfordert, die ganze Tragweite seiner Handlung zu überschauen. Die ganze Zeit hat er nur das Ziel vor Augen gehabt, Cotiso zu helfen. Nicht einmal im Traum wäre ihm in den Sinn gekommen, daß er sich selbst damit schaden könnte!
"So unvorstellbar es für dich sein mag, so einfach ist es auch: Der Frieden hätte bis vor kurzem nur noch ein Leben gekostet, der Krieg wird noch viele verschlingen. Ich kann meine Brüder verstehen, aber ich teile ihre Meinung nicht. Unser Volk wird nicht alt werden, wenn wir jetzt aufhören zu kämpfen."
"Wie lange währt dieser Konflikt schon?"
"Elf lange Jahre."


---

Demnach fing alles im Sommer des Jahres 47 nach Alexander an, schrieb Themastokles später in seinen Aufzeichnungen.
Zum ersten Mal wurde ein dakischer Trupp von einem Heer unter thrakischem Banner angegriffen. Vorher waren es immer nur Räuberbanden, die im Grenzgebiet ihr Unwesen trieben und sich angeblich niemandem zugehörig fühlten. Beide Königshäuser tolerierten das nach außen hin, obwohl sie wußten, daß der jeweilige Nachbar hinter diesen Übergriffen steckte. Sie mußten es zähneknirschend hinnehmen, weil ihnen nichts anderes übrig blieb, wenn sie den Frieden wahren wollten.
Das Reich der Daker war erst seit kurzem unabhängig, wenn man das überhaupt so nennen konnte. Tatsächlich waren thrakische Volksgruppen in bisher unbewohnte Gebiete nördlich des Balkans gezogen, um die fruchtbaren Ebenen der Donau für Mensch und Tier zu erschließen. Das gut nutzbare Land, die reichlich vorhandenen Edelmetalle in den Bergen und ihre der thrakischen Heimat nur noch entfernt ähnliche Lebensweise bewog sie dazu, ein eigenes Königshaus zu begründen. Thrakien weigerte sich, die Unabhängigkeit der Daker anzuerkennen, schreckte jedoch lange Zeit vor militärischen Maßnahmen zurück. Warum das so war, kann nicht zweifelsfrei gesagt werden. Vielleicht gab es noch zu enge Verwandtschaftsbande in die thrakischen Herzlande und man fürchtete Unruhen im eigenen Volk, sollte es zu einem Krieg gegen die Abgewanderten kommen. Vielleicht war es aber auch genau andersherum, und man sah die Entfremdung der Daker- die im Gegensatz zu den griechisch geprägten Thrakern eher zu den Germanen im Norden tendierten- insgeheim doch als Grund, ihnen ein eigenes Gebiet zu gewähren. Zumal es vorher doch ohnehin nicht zu Thrakien gehörte und es somit weder an Land noch an Ansehen verlor. Zu guter letzt könnten auch rein militärstrategische Gründe den Frieden gesichert haben, weil der Anmarschweg durch das Gebirge zu beschwerlich und logistisch nicht zu bewältigen gewesen wäre.

Der erste König der Daker war Zyraxes. Mit seiner Frau Serapia zeugte er drei Söhne: Vezina, Scyles und Duras. Der Älteste kam zur Welt, als der große Alexander acht Jahre tot war, der zweite war fünf Jahre jünger als sein Bruder, der dritte ganze zwanzig Jahre.
Als Zyraxes im Jahre 44 starb, wurde sein Erstgeborener zum neuen König ernannt. Schon daraus, daß dies erst zu diesem Zeitpunkt geschah, kann man schließen, daß das Erbfolgesystem der Daker nicht mit dem anderer Dynastien vergleichbar ist. Nicht der Vater bestimmte den Sohn zum Erben, sondern die Ratsversammlung erwählte ihn dazu. Das angespannte Verhältnis zu den Thrakern verbesserte sich daraufhin, was wohl auf die Hoffnungen zurückzuführen war, der neue, unerfahrene Dakerkönig würde sich in seinen ersten Regierungsjahren politisch vom Nachbarn beeinflussen lassen. Es gelang ihm, Handelsrechte mit den Thrakern zu vereinbaren sowie einen groben Überblick über dessen Einflußsphäre zu erlangen. Im Tausch legten die Daker dar, auf welche Gebiete sie selbst Anspruch erhoben. Dies waren vier Regionen, die jeweils von einer großen Stadt beherrscht wurden. Tribus Lazyges mit seiner gleichnamigen Hauptstadt grenzte damals wie heute von Norden bis Südwesten an germanisches Gebiet, im Süden an Capidava *, dessen Regierungssitz ebenfalls Capidava heißt. Östlich von Lazyges liegt Muntean, mit Helis als Zentrum, ganz im Osten schließlich die Region Dakien. Sie wird als Herz des Reiches angesehen, obwohl sie direkt an Thrakien grenzt. Dementsprechend ist Zarmisegetusa die Hauptstadt nicht nur der Provinz, sondern des ganzen Reiches.
Die Zölle aus dem Handel mit dem Nachbarn kamen in erster Linie dem Ausbau eben jener Handelswege zugute. Gab es anfangs nur Trampelpfade und von Wagenrädern zerfurchte Wege, so wurden nach und nach befestigte Straßen angelegt. Pflastersteine erleichterten das Fortkommen wesentlich. Brücken und trockengelegte Sümpfe verringerten natürliche Gefahren. Vielerorts entstanden Herbergen und Söldnerposten, die den Händlern das Leben erleichterten und gleichzeitig für zusätzliche Einnahmen sorgten. Was Vezina bei all den finanziellen Vorteilen nicht bedacht hatte, war, daß Thrakien die verbesserte Infrastruktur auch für den seit langem geplanten Krieg nutzen könnte.
Im Jahre 47 war es also soweit.
Durch Zufall entdeckte Dekainos, ein eingeheirateter Sohn von Scyles, beim Errichten von Wachtürmen entlang der skythischen Grenze eine thrakische Armee. Er hatte nur seine Leibwache bei sich, dennoch beschloß er, die Thraker an der einzigen Brücke über den Grenzfluß abzufangen und zur Umkehr zu bewegen. Ohne Erfolg. Es kam gar nicht erst zu Gesprächen; eine Vorhut griff ihn an und er mußte sich zurückziehen. Eiligst kehrte er in die befestigte Hauptstadt zurück, um sie gemeinsam mit seinem Schwiegervater auf die Verteidigung vorzubereiten.

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Die Nachricht vom Kriegszustand verbreitete sich in Windeseile, sogar über die Grenzen des Reiches hinweg. Germanische Rebellen aus Pannonien überschritten die Donau, um Campus Lazyges anzugreifen. Schon damals war diese Stadt der bevorzugte Regierungssitz des Königs, so daß ihm auch die Verteidigung zufiel. Es soll dies der Zeitpunkt gewesen sein, an dem die Mär von den unbesiegbaren, dämonischen Germanenkriegern ihr Ende fand.

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Trotz zahlenmäßiger Überlegenheit gelang es dem Rebellenführer Partatua nicht, die Stadt zu nehmen. Die dakischen Speerkämpfer verteidigten den Hügel im Stadtzentrum heldenhaft, während Vezina den in ihrer Siegesgewissheit blindlings anstürmenden Gegnern mit seiner Reiterei in den Rücken fiel. Trotz des Verlustes der halben Garnison ging diese Schlacht als heroischer Sieg in die dakische Geschichte ein und wurde bald zum festen Bestandteil der Erzählungen an abendlichen Lagerfeuern.

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Derweil gingen die Jahreszeiten ins Land. Herbst, Winter und Frühjahr wechselten sich ab. Der erwartete Angriff der Thraker blieb aus. Sie schienen spurlos verschwunden zu sein. Nur die immer wiederkehrenden Klagen von Händlern, die ihrer Waren beraubt, und die von Abgesandten aus verstreuten Dörfern, deren Felder verwüstet wurden, legten nahe, daß sich die Armee noch immer in Dakien aufhielt.
Im Sommer 48 rückte Dekainos mit der eiligst ausgehobenen Garnison von Zarmisegetusa aus, um die Feinde aufzuspüren und zur Schlacht zu stellen. Einem Zufall war es zu verdanken, daß es dabei nicht zur Katastrophe kam. Nur wenige Tagesmärsche vor der Hauptstadt entgingen die Daker einem geplanten Hinterhalt.

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Der Sieg wurde mit fünfhundert Gefallenen auf dakischer Seite erkauft. Dennoch feierte man Dekainos für den Erfolg in seiner ersten Schlacht.

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Die Expansionslust war den Thrakern für die nächsten drei Jahre vergangen. Doch dann wurden zwei neue Heere gesichtet.

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Während sie sich Richtung Hauptstadt bewegten, traf eine Gesandtschaft aus dem fernen Seleukidenreich an Vezinas Hof ein. Bis dahin wußte er kaum etwas von jenem Teil der Welt, doch erkannte er im Verlauf der Gespräche mit den exotischen Männern schnell, welche Vorteile sich ihm boten. Die Seleukiden, die gerade die Herrschaft über Kleinasien anstrebten, waren die östlichen Nachbarn der Thraker. In der Hoffnung, den Feind in die Zange nehmen zu können, schloß man zusätzlich zu einem Handelsabkommen ein Bündnis miteinander. Eine Vereinbarung, die schnell Früchte tragen sollte. Noch im selben Jahr erklärten die Seleukiden Thrakien den Krieg. Vezina erfuhr nicht, wo genau die Kämpfe stattfanden, aber es mußte ihn auch nicht weiter interessieren. Er erfreute sich einfach an der Tatsache, daß eines der Thrakerheere den Rückmarsch antrat. Das andere umging die dakische Hauptstadt, marschierte in Muntean ein und verließ jene Provinz schließlich gen Norden, auf germanisches Gebiet.
Im Sommer des Jahres 55 stellte sich heraus, daß es ein Fehler war, das zweite Dakerheer ziehen zu lassen. Die Germanen, Verbündete und Handelspartner schon seit Zyraxes' Regierungszeiten, brachen alle Abkommen und rückten mit zwei kleinen Heeren auf Campus Lazyges vor. Alles sprach für eine Erpressung seitens der Thraker. Die Germanen schienen vor die Wahl gestellt worden zu sein, ihre Verträge zu ignorieren oder selbst angegriffen zu werden. Mit Sicherheit hatten süße Versprechungen ihre Entscheidungsfindung maßgeblich beeinflußt.

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Campus Lazyges war nach wie vor unbefestigt. Dennoch griffen sie die Stadt nicht an, sondern versuchten sie auszuhungern. Vezina ließ es nicht darauf ankommen. Er nutzte die Tatsache, daß die Germanen zwei Lager errichtet hatten und rückte eines frühen Morgens aus, um über das naheliegendste herzufallen. Der unbedarfte Germanenführer hatte keine Chance. Unter geringen Verlusten wurden seine Truppen bis zum letzten Mann niedergemacht, das Lager in Brand gesteckt. Als der eigentliche Heerführer Hans von Vindobona mit seiner Verstärkung auf dem Schlachtfeld erschien, war es schon zu spät. Vezina zeigte sich großzügig und gewährte ihm einen geordneten Rückzug. Unter dem Hohngelächter der dakischen Krieger zogen die Germanen ab.

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Unmittelbar darauf brach Cotiso, zweitältester Sohn des Königs, mit einem Heer von fast siebzehnhundert Mann aus der Hauptstadt auf, um die Unterstützung der Seleukiden im Kampf gegen Thrakien auszunutzen. Er wollte die Provinz Scythien durchqueren und das südlich gelegene Getae am Schwarzmeer angreifen. Lange Zeit hörte man nichts mehr von ihm. Bis ich ins Spiel kam. ...

'Bis ich ins Spiel kam.' schreibt Themastokles und setzt dann die Feder ab. Zweifelnd überfliegt er seinen Text, streicht hier und da etwas an und vermerkt weitere Gedanken am Rand, die er später, wenn er seine Chronik ins Reine schreiben würde, noch einfügen wird. Er fragt sich, inwieweit seine eigene Geschichte etwas in einer Chronik zu suchen hat und beschließt, sie vorläufig unerwähnt zu lassen.

Im Jahre 58 nach Alexander hatte ich die Gelegenheit und ehrenvolle Aufgabe, auf einer Ratsversammlung der Daker von Cotisos Schicksal zu berichten. Zu berichten, wie er unzählige Siege gegen die Thraker errungen hat, wie er Getae eroberte und heldenhaft verteidigte. Doch die Kämpfe zehrten an seinen Kräften, sein Heer wurde kleiner und kleiner. Und so bat er mich, in seinem Namen um Verstärkung zu ersuchen.
Der Rat, bestehend aus sieben Adligen und hunderten gemeiner Männer, beschloß mit großer Mehrheit, dem Hilfegesuch stattzugeben. Nun, wo frische Kräfte für Cotiso unterwegs sind, harren wir der Dinge, die da kommen mögen.


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Themastokles' bisheriges Meisterwerk (angesichts des Zustands wohl weit herumgekommen)

Es zeigt den Adel der dakischen Ratsversammlung im Jahre 58 nach Alexander. Zu sehen sind in der oberen Reihe von links nach rechts:
Vezina, Scyles und Duras mit ihren mehr angedeuteten Frauen (namentlich Danae, Birkita und Hestia)
Darunter die Söhne der jeweiligen Verbindungen, wobei nicht zwischen leiblichen und Schwiegersöhnen unterschieden wird:
Idanthyrsus, Cotiso (der natürlich nicht anwesend war) und Palacus sowie Dekainos und Duras II





* Eigentlich ist Constanta der Name der Provinz, aber das klingt mir (dem Autoren über dem Autoren) zuuu römisch, deshalb die Abwandlung.

IhP
11.11.06, 21:26
Wunderschön. :)
Bin gespannt wie es weitergeht.

thrawn
12.11.06, 15:04
Wedereinmal eine sehr gute Fortsetzung :ja: :top:

repman
13.11.06, 22:56
Super gemacht !!!
schade das du nicht 8.1 spielst, hätte gerne mal einen dakischen Charakter erlebt wie er in meinem Karrieresystem aufsteigt bis zum Dux

repman

Robert Guisgard
19.11.06, 11:33
Verflucht sei Medieval II! Man kommt zu nichts anderem mehr! :motz:
Damit ich nicht vergesse, daß hier noch viel Arbeit wartet, fange ich mal ein neues Kapitel an. ;)

Götter, Priester und Orakel

Wochen vergingen nach der Ratsversammlung.
Die Normalität hielt wieder Einzug in Campus Lazyges. Vezinas Brüder und deren Söhne waren mitsamt ihrem Gefolge abgereist, um auf ihre Statthalterposten zurückzukehren. Der Palast wirkte groß und leer. In der Festhalle wurde keine Musik mehr gespielt; die Tafel blieb ungenutzt. Es brannte nicht einmal mehr Feuer im Kamin. Wenn Vezina Gäste und Bittsteller empfing, tat er das in seinen Privatgemächern. Nur für Gesandtschaften aus anderen Ländern wurde noch der übliche Königskult praktiziert. Doch diese Besuche wurden seltener. Der Winter nahte mit immer größeren Schritten. Eines Morgens lag der erste Schnee.
Das Vieh wurde von den Weiden geholt. Pferde, Schafe und Rinder zogen in kleinen Gruppen von drei bis fünf Tieren in die Wohnhäuser der Daker ein. Dort standen sie nur geringfügig von den Menschen abgegrenzt im großen Gemeinschaftsraum und heizten ihn schon zum großen Teil mit ihrer Körperwärme auf. Muhen und Meckern waren nun die vorherrschenden Geräusche in der Stadt. Der Geruch der Menschen und ihrer Exkremente, der bisher durch die Straßen zog, wurde jetzt überlagert von dem der Tiere. Themastokles, der sich nur langsam vom neuen Kulturschock erholte, konnte sich nicht entscheiden, was nun besser sei. Nachdem seine anfängliche Begeisterung von der hölzernen Stadt abgeklungen war, fielen ihm vermehrt die Mißstände auf- oder das, was er selbst als solche empfand. Er beschloß, etwas dagegen zu unternehmen. Statt über künstlerischen Zeichnungen brütete er vermehrt über technischen. Ein ausgeklügeltes Kanalsystem konnte seiner Einschätzung nach die gröbsten Schmutzprobleme beseitigen. Das dafür benötigte Wasser ließ sich in großen Zisternen speichern oder von einem außerhalb der Stadt gelegenen Flußlauf abzweigen. Nicht nur die Stadt würde sauberer werden; selbst der nach draußen gespülte Unrat, der für gewöhnlich die Nebenstraßen kaum passierbar machte- zumindest nicht für empfindsame Griechenfüße!- ließe sich dann noch sinnvoll nutzen. Aus seiner Heimat wußte er, daß Mist jedweder Art die Fruchtbarkeit von Ackerland verbessert.

Vezina derweil fand zu seiner alten Gewohnheit des Holzfällens zurück. Alle zehn Tage verließ er die Stadt für einen ebenso langen Zeitraum, um mit seiner Wachmannschaft in das kleine Waldlager zurückzukehren. Dort vergrößerte er die Lichtung, auf der er dem Griechen begegnet war Meter um Meter, Baum um Baum. Auf die Frage nach dem Grund des ganzen konnte Vezina nur den Kopf schütteln. Er wußte es selbst nicht so genau. Es war einfach eine Eigenart von ihm. Er mochte es, im Freien zu sein und sich körperlich zu betätigen. Es hielt ihn stark und gesund, etwas, was vielen anderen in seinem Alter langsam Probleme bereitete. Außerdem brauchte er das Holz. Zwar mußte er zugeben, daß es unsinnig war, so weit im Süden Stämme zu schlagen, wo er sie doch direkt in Campus Lazyges benötigte, dennoch bevorzugte er genau diesen Ort. Und sei es nur, weil ihn hier niemand störte.
Eine fadenscheinige Begründung, das war ihm klar! Über den wahren Grund dachte er bewußt nicht nach. Und das wiederum war eine Meisterleistung, wenn man bedenkt, daß er doch ständig daran erinnert wurde! Ein ganz bestimmter Baum war es, der ihn hierher zog. Der ihn gerufen hatte, als er noch auf der Suche nach einem geeigneten Ort war. Der ihn hier festhielt, lange, bevor er ihm zum ersten Mal überhaupt auffiel.
Der Riese stand immer noch.
Nicht, weil Vezina unfähig war, ihn zu fällen, sondern weil er den Entschluß gefaßt hatte, ihn stehenzulassen. Eine bewußte Entscheidung? Oder eine, die ihm sein Unterbewußtsein aufdrängte? Von beidem etwas, aber noch am ehesten aus einer Art Furcht heraus. Einer schwer zu bestimmenden Furcht, von der er nicht sagen konnte, woher sie überhaupt kam. Normalerweise würde Vezina derartiges niemals zugeben, genauso wenig, wie er sich von diesem Gefühl beherrschen ließe. Doch in diesem Fall war es anders. Er mußte jemandem davon erzählen; es wollte ihm sonst keine Ruhe lassen. Danae, seine Frau, erwies sich wie so oft als die beste Zuhörerin. Ihr konnte er vertrauen. Zu seiner Überraschung nahm sie seine Geschichte jedoch ebenso ernst wie er selbst. Insgeheim hatte er gehofft, sie würde ihn auslachen und so alle seine Bedenken zerstreuen. Stattdessen bestand sie darauf, daß er die Priesterschaft einweihte. Das Zeichen nicht deuten zu lassen, könnte den Zorn der Götter heraufbeschwören, sagte sie, als sie nachts beisammen lagen.
"Ich kann das Zeichen für mich selbst bewerten."
"Das ist nicht dasselbe, und das weißt Du! Es wäre anmaßend, zu glauben, Du würdest die Sprache der Götter verstehen! Sie selbst bestimmen, wer ihre Sprecher unter den Sterblichen sind! Von Kindesbeinen an werden sie dafür ausgebildet...!"
"Ich soll also zum Zirkel der Bendis gehen...?" Eine Frage, die keine Frage war. Eher Resignation.
"Spricht irgend etwas dagegen? Miramel ist eine sehr weise Frau für ihr Alter."
"Sie ist die Tochter meines Bruders."
Das wollte er nicht sagen; die Worte schlüpften im Schutz der Dunkelheit aus seinem Mund. Eine Folge seiner inneren Anspannung, des nicht enden wollenden Kampfes mit sich selbst und seinem Gewissen. Danae brauchte nicht lange, um ihre Bedeutung zu verstehen. Er hatte die Tür zu seinem Innern geöffnet, und sie stellte sofort ihren Fuß dazwischen. Es gab kein zurück und eigentlich wollte er auch keines. Er schämte sich für das Gesagte, doch zugleich fühlte er sich von einer großen Last befreit. Einer Last, die kaum geringer war als die Sorge um den Sohn.
Danae streckte eine Hand aus und strich ihm sanft über die Wange. "Miramel ist die Stimme Bendis'." wiederholte sie dabei, "nicht die deines Bruders."
Vezina antwortete nicht. Er schloß die Augen und genoß die Berührung, wartete, ob sie noch etwas sagen würde. Schon oft war ihre Stimme sein eigenes, persönliches Orakel..., und wie ihm seine geschundene Seele zuraunte: schon zu lange nicht mehr.
"Es erschreckt mich, wie weit es zwischen euch gekommen ist. Der Krieg hat etwas getrennt, was ich selbst für unzertrennlich hielt."
"Wir haben Meinungsverschiedenheiten, das ist alles..."
"Nein, ihr seid zu Rivalen geworden. Du vertraust ihnen nicht mehr. Du witterst Verrat, wo keiner ist."
"Das stimmt so nicht!"
"Doch, das stimmt. Mich kannst Du nicht täuschen. Geh' zu Miramel. Erzähle ihr alles. Versöhne dich mit den Göttern. Und mit dir selbst."